Das Verhältnis der Russischen Orthodoxen Kirche zur Ökumene

aus OWEP 1/2010  •  von Wladimir Fjodorow

Der Autor ist Dozent am Institut für Missiologie, Ökumene und neue religiöse Bewegungen der Russischen Orthodoxen Kirche in Sankt Petersburg.

Über die Lage der Ökumene nachzudenken, ist heute in der Russischen Orthodoxen Kirche (ROK) außerordentlich aktuell. Seine Heiligkeit Kyrill I., Patriarch von Moskau und ganz Russland, ist inzwischen ein gutes Jahr im Amt. Seine Wahl setzte sogleich wichtige Impulse für die missionarische Aktivität der Kirche.

Bei sozialen Projekten, bei religionspädagogischen Programmen staatlicher Bildungseinrichtungen, bei der Seelsorge in Krisen- und Extremsituationen, im Streit für die Reinheit der Gesellschaftsmoral, im Dialog mit kämpferischen Atheisten und in einer Reihe anderer Bereiche nehmen viele christliche Gemeinschaften eine ähnliche Position ein. Sie können nicht nur zusammenarbeiten, sie sind sogar dazu berufen und gezwungen, und gerade dank des Widerhalls ihrer Stimmen werden sie von der säkularisierten Gesellschaft gehört. Die Frage nach einer interkonfessionellen christlichen Zusammenarbeit in der Mission ist zugleich die Frage nach der Ökumene.

„Ökumene und „Ökumenische Bewegung“

Üblicherweise geht man davon aus, dass der Name „Ökumenische Bewegung“ vor 100 Jahren in Edinburgh entstand und die christliche Zusammenarbeit in der Mission bezeichnete. Wie aber ist das Verhältnis der ROK zur Ökumenischen Bewegung heute, 100 Jahre nach ihrer Entstehung? Wichtige Aspekte sind die offizielle Position der Hierarchie, die kirchlichen Dokumente, die offizielle Mitgliedschaft der ROK in verschiedenen ökumenischen Organisationen und die Mitarbeit an ihren Projekten. In den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts diskutierte man die Mitgliedschaft der ROK im Weltkirchenrat sowohl in der Synodalen Theologischen Kommission als auch bei Bischofsversammlungen und in den Geistlichen Lehranstalten. Trotz zahlreicher Aufrufe des konservativen (und im Wesentlichen des fundamentalistischen) Teils der Geistlichkeit und von Laien, die darauf zielten, mit der Ökumene zu brechen, entschied die ROK, sowohl im Weltkirchenrat als auch in anderen ökumenischen Strukturen zu verbleiben. Gegenwärtig nimmt die ROK an allen bedeutenden ökumenischen Maßnahmen teil; sie entsendet große Delegationen zu den Generalversammlungen des Weltkirchenrates, der Konferenz Europäischer Kirchen (KEK) und zur Europäischen Ökumenischen Versammlung. Schon 2000 wurde von der Bischofsvollversammlung das Dokument „Grundprinzipien der Beziehung der ROK zu Andersglaubenden“1 angenommen. Darin wird eindeutig die Notwendigkeit bekräftigt, die christliche Einheit anzustreben: „Das wichtigste Ziel in den Beziehungen der Orthodoxen Kirche zu Andersglaubenden ist die Wiederherstellung der von Gott gebotenen Einheit der Christen (Joh 17,21), die zum Göttlichen Plan und zum Wesen des Christentums selbst gehört …“ (Nr. 2.1). Die Kirche warnt vor der Geringschätzung dieses Dienstes und erinnert an die Gefahr, ihn zu ignorieren: „Gleichgültigkeit in Bezug auf diese Aufgabe oder deren Ablehnung ist eine Sünde gegen das Gebot Gottes zur Einheit. Nach den Worten des heiligen Bischofs Basilius des Großen ‚müssen diejenigen, die aufrichtig und wahrhaft für den Herrn arbeiten, ihr Bemühen einzig darauf lenken, die Kirchen, die in so vielfacher Weise untereinander zerspalten sind, wieder zur Einheit zurückzubringen‛ “(Nr. 2.2). Unmittelbar nach der Bischofsversammlung wurde dieses Dokument in den Diözesen beraten; auf dem Weltmissionskongress wurde auf der Grundlage dieses Dokuments ein eigener Bericht über die Notwendigkeit der Zusammenarbeit in der christlichen Mission vorgelegt.

Nun ist leider in der Orthodoxie immer noch die Wahrnehmung von Ökumene als Kennzeichen der Häresie weit verbreitet. Ökumene strebe eine Vermischung der Konfessionen an, um daraus eine „Superkirche“ zu schaffen, in der alle christlichen Konfessionen gleichberechtigt seien wie die Zweige eines Baumes – gewissermaßen ein „interreligiöser Cocktail“. Es genügt, das Internet durchzugehen, um sich davon zu überzeugen, dass die erdrückende Mehrheit der Seiten ein solches Verständnis als fremd und gefährlich für die Orthodoxie ansieht.

Nach meiner Ansicht liegt die Hauptursache eines solchen Missverständnisses im Fehlen eines Programms für die theologische Bildung. Nicht nur jene Priester, die keine gebührende Bildung genossen haben, sondern auch die, die die Geistlichen Schulen mit Erfolg abschließen konnten, sind überhaupt nicht mit dem Hauptmotiv der Entstehung der Ökumenischen Bewegung vertraut, nämlich dem Missionsgedanken, der seine endgültige Form nach der Konferenz von Edinburgh von 1910 annahm. Gewiss hat die Ökumenische Bewegung auch unmittelbare Motive wie die Befolgung des Herrengebotes zur Einheit, die im Wesentlichen schon vor Edinburgh begonnen hatte, aber sichtbare Strukturen, Formen, Projekte erschienen erst im 20. Jahrhundert, das man zweifellos als Jahrhundert der Ökumene bezeichnen kann. Obwohl sich die romantischen Träume der Konferenzteilnehmer von Edinburgh, den ganzen Erdkreis im Laufe des 20. Jahrhunderts zu evangelisieren, nicht erfüllt haben, sind die Erfolge der ökumenischen Bewegung offensichtlich, denn sie umfasst auch zahlreiche Projekte wie Dialoge, Konferenzen, Programme unterschiedlicher Fonds und konkrete soziale Maßnahmen. Leider versteht man in Russland und in einer Reihe anderer osteuropäischer Länder unter Ökumene häufig nur die Teilnahme am Weltkirchenrat. So weiß zum Beispiel die Mehrheit der Geistlichkeit und mehr noch der Laien in Russland nichts davon, wie viel die Christen Deutschlands und Russlands zur Aussöhnung unserer Völker nach dem Zweiten Weltkrieg beigetragen haben. Die 50-jährige Erfahrung des Dialogs zwischen der EKD und der ROK muss unbedingt erforscht werden – in meiner Studentenzeit in den siebziger Jahren studierten wir die Materialien dieser Dialoge und waren von ihnen begeistert. Heute hingegen droht der Abbruch des Dialogs, und in der Presse diskutiert man bereits einen möglichen Abbruch der Beziehungen zwischen der ROK und der EKD; die Ursache solcher Diskussionen ist hoffentlich nicht die Position der ROK, sondern es handelt sich eher um Fehler in der Wahrnehmung einiger Aussagen von Mitarbeitern der Abteilung für kirchliche Außenbeziehungen und um das Fehlen einer Kontinuität der Generationen in der Sphäre der ökumenischen Arbeit.2

Negative Positionen innerhalb der ROK

Es verwundert überhaupt nicht, dass die Organisatoren des Internetauftritts „Orthodoxes Russland“, die sich auf den 1995 verstorbenen Metropoliten Ioann (Snytschew) berufen, gemeinsam mit dem 2008 degradierten Bischof Diomid (Dzjuban) schon vor einigen Jahren eine Kampagne gegen Patriarch Aleksij II. entfachten, gegen sämtliche ökumenischen Projekte und gegen alle möglichen interreligiösen Dialoge. Die für „Orthodoxes Russland“ Verantwortlichen – offene Antisemiten – stehen heute unter der Anklage des Extremismus und der Entfachung religiösen Hasses vor Gericht. Dagegen hat es eine offene Verurteilung des Metropoliten Ioann zu seinen Lebzeiten nicht gegeben; ausgerechnet von ihm stammen die Worte, die im Oktober 1995 im Festsaal der Sankt Petersburger Geistlichen Akademie geäußert wurden: „In der Welt gibt es auch ein ‚Analogon‛ zur Katholizität, ein teuflisches Surrogat, das dem sich nähernden Antichrist den Weg ebnet, das die Vereinigung der glaubensabtrünnigen Welt nicht unter der Obhut von Gottes Gesetz vorbereitet, nicht im Schoß der rettenden christlichen Wahrheit, sondern unter dem Joch des Menschen der Gesetzwidrigkeit, des Sohnes des Verderbens (2 Thess 2,3), welchen Jesus, der Herr, durch den Hauch seines Mundes tötet und durch seine Ankunft und Erscheinung vernichtet (2 Thess 2,8). Auf religiösem Gebiet wird dieses böse Unterfangen durch die Irrlehre von der Notwendigkeit der Vereinigung aller Konfessionen (gleichgültig, wie jede von ihnen an der Wahrheit oder der Falschheit hängt) durch die Ökumene vertuscht.“ Diese Aussage ist typisch für die Gegner der Ökumene.

Leider lehren Geistlichkeit und Professoren in gleicher Weise. Es ist nicht verwunderlich, dass in fundamentalistischen Kreisen ein gewisser allgemeiner Komplex besteht: die Furcht vor der Zahl 6663, vor der Steueridentifikationsnummer, vor neuen Reisepässen, Strichcodes, vor der Überzeugung davon, dass es eine jüdisch-freimaurerische Weltverschwörung gibt, vor den an allem schuldigen Feinden jenseits des Ozeans – und hier trägt sich auch die Furcht vor der Ökumene ein. All das gilt natürlich für den ungebildeten Teil des Kirchenvolkes und für Menschen mit einer labilen Psyche, die unter verschiedenen Ängsten leiden. Die Dominanz antiökumenischer Literatur in Russland, das Fehlen entsprechender Kritik in den Programmen der theologischen Bildung, die manchmal halbherzigen Entschließungen der Hierarchie zur Verurteilung dieser oder jener anti-ökumenischen Auftritte vergrößern das Problem. Meiner Meinung nach liegt die Wurzel des Problems jedoch tiefer, nicht nur in Unwissenheit oder der falschen Deutung des Begriffs „Ökumene“. Verbreitet ist vielmehr ein Komplex negativer Einstellungen zu den Begriffen Demokratie, Humanismus, Liberalismus, Toleranz, Glaubensfreiheit, Gewissensfreiheit, Menschenrechte und Erneuerung. Unter Ökumene versteht man eine Erscheinungsform des gefährlichen säkularen Liberalismus.

Die Verneinung demokratischer Werte und der Toleranz ist ein Kennzeichen für aggressiven Extremismus und Fundamentalismus. Natürlich bedeutet das nicht, dass man jene Hierarchen, die z. B. negative Urteile über die Toleranz fällen, als Fundamentalisten und Extremisten bezeichnen muss. Solche Äußerungen zeugen aber zumindest davon, dass der kirchlichen Öffentlichkeit eine gesellschaftspolitische Diskussion zu wichtigen Fragen der Sozialethik nicht genügt. Auch im Fall des Begriffs „Ökumene“ ist es wichtig, die Begriffe richtig zu gebrauchen. So erklären die Gegner der Toleranz, dass, wenn man den Terminus „Glaubensfreiheit“ anwendet, die Beziehung zu ihm eine andere sei. Jedoch ist Glaubensfreiheit auch religiöse Toleranz. In der russischen Übersetzung der UNESCO-Deklaration zur Toleranz gebraucht man das russische Wort terpimost' (das außer „Toleranz“ auch „Duldsamkeit“ bedeutet). Deshalb erklärt sich die negative Haltung gegenüber der Ökumene sehr oft mit einer Verwirrung in den Köpfen derjenigen, die sie verurteilen. Achtung vor der Überlieferung der Kirche gepaart mit einer mangelhaften Vertrautheit gebiert lügenhafte Einstellungen und Stereotypen, die schlimmstenfalls Xenophobie verursachen.

ROK und römisch-katholische Kirche

Auf den ersten Blick hat sich während der vergangenen Jahre und insbesondere im letzten Jahr das Verhältnis der ROK zur römisch-katholischen Kirche verbessert. Der Vorsitzende der Abteilung für kirchliche Außenbeziehungen, Erzbischof Hilarion, erklärte am 11. November 2009 bei einem Treffen mit Journalisten in Moskau sogar, dass „man heute sagen kann, dass wir uns auf den Augenblick zu bewegen, da die Vorbereitung einer Begegnung des Römischen Papstes mit dem Moskauer Patriarchen möglich wird“. Jedoch rief seine Bemerkung auf dem Fernsehkanal Rossija vom 17. Oktober 2009 über die gegenseitige Anerkennung der Sakramente der ROK und der römisch-katholischen Kirche bei vielen Erstaunen und eine stürmische Debatte hervor. Das, was jeder, der in die Kirche eintritt, von den Sakramenten wissen muss, bleibt der Mehrheit der Gläubigen unbekannt.

Die Geschichte der gegenseitigen Beziehungen der „Griechen“ und der „Lateiner“ bzw. die Ergebnisse des Zweiten Vatikanischen Konzils sind in Russland entweder gänzlich unbekannt oder sie werden verzerrt und voreingenommen dargestellt. So werden insbesondere die Offenheit des Konzils gegenüber der Orthodoxie, die Tilgung des Anathemas, d. h. des gegenseitigen Bannfluchs, und andere Entwicklungen seit den sechziger Jahren als Abweichung von den alten Statuten und als Zerstörung der Kirche interpretiert. Dies führt sogar dazu, dass in russischen Geistlichen Schulen Lobschriften auf die Lefebvre-Schismatiker verteilt werden.

Hier liegt ein sehr wichtiges und wesentliches Problem – das Verhältnis zum aggiornamento, also, wie es Papst Johannes XXIII. formuliert hat, zur Öffnung und Erneuerung der Kirche in der heutigen Welt. Infolge der besonderen historischen Umstände der zwanziger und dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts wird das Wort „Erneuerung“ von den Orthodoxen als Symbol für die Zerstörung der Kirche begriffen. Wie soll man „Überlieferung“ verstehen? Als erstarrten Satz von Normen und Regeln oder als einen lebendigen Versuch der Kirche hin zur Kreativität? Die Gegner der Ökumene sind bar jedes missionarischen schöpferischen Potenzials, jedes religiösen Gehörs und Geschmacks und sind häufig Sklaven einer Ideologie des konfessionellen Patriotismus, wobei sie vergessen, dass dort, wo zwei oder drei sich im Namen Christi versammeln, Er mitten unter ihnen sein wird.

Die Hoffnung auf eine Überwindung der oben erwähnten Barrieren für die Ökumene in Russland verbindet sich damit, dass Patriarch Kyrill engster Schüler des unvergessenen Metropoliten Nikodim war – einer der Apostel für die christliche Einheit. Im Jahre 2009 sind 80 Jahre seit dem Tage seiner Geburt und 31 Jahre seit dem Tag seines Todes in den Armen Papst Johannes Pauls I. vergangen. Metropolit Nikodim verstand die missionarische Bedeutung der Ökumene wie kein anderer und erzog seine Schüler nicht nur wegen der politischen Überlebensstrategie der Kirche unter einem atheistischen Regime in ökumenischem Geist. Als ein gutes Zeichen erwies sich im Oktober 2009 die seinem Andenken gewidmete Konferenz, auf der die Analyse seiner Dissertation über Papst Johannes XXIII. auf großes Interesse stieß.

Auf dem Weg zu einem besseren Verständnis

Das Problem mangelnder Qualität der theologischen Bildung wird heute dank der Aufmerksamkeit von Patriarch Kyrill einer Lösung zugeführt, denn bei einem Treffen mit den Rektoren der Geistlichen Schulen der ROK im November 2009 hat er eine Erneuerungsstrategie für die Bildung verkündet. Ein wichtiger Beitrag in diesem Prozess wird der unter der Leitung von Erzbischof Hilarion von Wolokolamsk neu organisierte Aspirantur- und Doktorandenstudiengang bei der Abteilung für kirchliche Außenbeziehungen sein. Eine weitere Ressource für die ökumenische Zusammenarbeit ist heute die Zusammenarbeit von Theologen und Klerikern der christlichen Kirchen in Russland mit den verschiedenen Fakultäten der staatlichen Universitäten, so insbesondere in Sankt Petersburg, wo es neben den orthodoxen geistigen Schulen auch ein römisch-katholisches Seminar, zwei lutherische Seminare, die protestantische Sankt Petersburger Christliche Universität und die weltliche Russische Christliche Humanistische Akademie gibt, in denen die ökumenische Zusammenarbeit in der Sphäre theologischer und allgemein-humanitärer Bildung verwirklicht wird, wozu bereits seit mehr als zehn Jahren die innerkirchliche Partnerschaftsinitiative „Apostolische Stadt – Perspektive der Newa“ beiträgt.

Als einen wichtigen Faktor der christlichen Einheit kann man die Suche nach den Wurzeln der europäischen Kultur ansehen, die auch in den gemeinsamen Belangen der europäischen Christen ihren Ausdruck finden. In seinem Grußwort an die Konferenz „Identität der Werte für Europa“ (Venedig, 19./20. November 2009) bekräftigte Patriarch Kyrill: „Das Christentum formte das Wertefundament Europas, seine Idee. Außerhalb der christlichen Tradition kann man den inneren Gehalt und den Bewegungsmechanismus der Entwicklung dieser Region und auch den kulturellen Code der in ihr lebenden Ethnien nicht begreifen. Deshalb kann auch zukünftig keine Baustufe unseres gemeinsamen Hauses entstehen, ohne dass ihr das christliche Zeugnis einen Halt gibt.“ Auch das ökumenische Zeugnis ist ein solches christliches Zeugnis.

Aus dem Russischen übersetzt von Friedemann Kluge.


Fußnoten:


  1. Text: http://www.bogoslov.ru/de/text/404002.html (letzter Zugriff: 03.03.2015). ↩︎

  2. Vgl. dazu auch die Hinweise im Beitrag von Christoph Mühl in diesem Heft, besonders S. 12 f. (der gedruckten Ausgabe). ↩︎

  3. Die Zahl findet sich in der Offenbarung des Johannes (das apokalyptische Tier; Apk 13,18) und spielt im Satanismus und Okkultismus eine große Rolle (Anm. d. Redaktion). ↩︎