Mit Gottes Hilfe zum Sieg?
Positionen der Russischen Orthodoxen Kirche
Gegenüber dem vom russischen Präsidenten Boris Jelzin im Dezember 1994 eingeleiteten ersten Krieg in der separatistischen nordkaukasischen Republik Tschetschenien hatte die Russische Orthodoxe Kirche (ROK) noch Skepsis erkennen lassen. Das änderte sich im zweiten, von Ministerpräsident Wladimir Putin ab Sommer 1999 angestrengten Krieg. Patriarch Alexij II. verlieh im Januar 2000 Generalstabschef General Anatolij Kwaschnin und seinem ersten Stellvertreter General Walerij Manilow hohe kirchliche Auszeichnungen und verlangte eine Fortsetzung des offiziell als „Antiterror-Operation“ bezeichneten russischen Feldzuges, der rasch zehntausenden Zivilisten das Leben kostete und hunderttausende in die Flucht trieb. „Wir haben es“, so Alexij, „mit dem internationalen Terrorismus zu tun, und wenn man mit dem nicht Schluss macht, wird es kein friedliches Leben geben.“ Aufrufe zu einer Friedenslösung und Verhandlungen mit den Rebellen wurden im zweiten Tschetschenienkrieg nicht bekannt; die ROK unterstützte die Politik des inzwischen zum Präsidenten aufgestiegenen Putin (der in Interviews verlautbarte, ein gläubiger Mensch zu sein und in der Bibel zu lesen). Ebenso vorbehaltlos stellte sich die ROK dann hinter die russische Militärintervention gegen Georgien im August 2008, die über Monate hinweg genau geplant und vorbereitet worden war.
Am 2. August 2008, also wenige Tage vor Kriegsbeginn, gratulierte Alexij II. dem Katholikos und Patriarchen (d. h. Oberhaupt der Kirche) Georgiens, Ilija II., zum Namenstag und erwähnte dabei das „uns im gleichen Glauben verbundene und befreundete georgische Volk“. Die ersten Meldungen, die sich auf die Ereignisse im seit fast zwei Jahrzehnten separatistischen Südossetien, das Georgiens Präsident Michail Saakaschwili ab dem 7. August mit einem militärischen Handstreich einzunehmen gehofft hatte, bezogen, tauchten am 8. August auf der Website der ROK auf. Der Erzbischof von Stawropol und Wladikawkaz, Feofan, wies alleine Georgien die Schuld für die Gewalt in Südossetien zu und forderte von Tiflis eine Einstellung der Kampfhandlungen. Alexij II. selbst zeigte sich zunächst etwas neutraler: Mit Georgiern und Osseten würden orthodoxe Völker „zusammenstoßen“, von denen Gott wolle, dass sie „in Brüderlichkeit und Liebe leben“. Unter Hinweis auf einen Friedensaufruf von Ilija II. setzte Alexij II. fort, dass er sich an alle wende, „die noch nicht vor lauter Hass blind sind“; man solle mit dem Krieg „aufhören“ und Verhandlungen einleiten. Die ROK sei bereit, „ihre Anstrengungen mit der Georgischen Kirche zu vereinigen, um zur Erreichung eines Friedens beizutragen“. Einer ROK-Meldung vom 11. August zufolge – die russische Armee war längst in Georgien einmarschiert – wollte Kyrill, Metropolit von Smolensk und Kaliningrad sowie Leiter der Abteilung für auswärtige Kirchenbeziehungen des Moskauer Patriarchats (und ab Januar 2009 selbst Patriarch der ROK), beten lassen, auf dass „im Kaukasus zwischen den georgischen und ossetischen Glaubensgenossen Frieden herrsche“. In erster Linie aber ging es Kyrill um die Abwehr der (ohnedies nur zurückhaltenden) internationalen Kritik an Russland für seine Militärintervention gegen Georgien: „Heute wurde unser Land mit der Gefahr eines Krieges und einer neuen Welle der Verleumdung unseres Vaterlandes konfrontiert, die jene initiieren, denen die historische Wahl Russlands nichts gefällt.“ Dann gratulierte Alexij eben jener russischen Luftwaffe, die gerade (u. a. mit Streubomben) militärische Ziele und Wohngebiete in Georgien bombardierte, zu ihrem „Berufsfeiertag“, dem 12. August. In einer Botschaft an Verteidigungsminister Anatolij Serdjukow und Luftwaffenchef General Alexander Selin hieß es u. a.: „Seit dem Tag ihrer Gründung und bis heute sichern die Luftstreitkräfte die Verteidigungsfähigkeit unseres Vaterlandes, bewachen die Staatsgrenzen, stehen an der Wacht der Interessen des Landes. Es ist erfreulich, dass in den letzten Jahren nicht wenig für die Wiederherstellung der einst unterbrochenen Zusammenarbeit zwischen der Kirche und der Luftwaffe getan wurde, deren Ziele die geistig-sittliche und patriotische Erziehung, die Stärkung der Staatlichkeit und die Verbesserung der Sicherheit sind.“
Am 14. und 15. August, als die russischen Truppen weiter in das georgische „Kernland“ (d. h. Gebiete außerhalb der separatistischen Gebiete Abchasien und Südossetien) vorstießen, Ortschaften besetzten und plünderten sowie Infrastruktur zerstörten, fanden einige Telefongespräche zwischen Ilija II. und Kyrill statt. Nach Aussage von Kyrill bestätigten beide „die Wichtigkeit der Friedensanstrengungen der beiden Kirchen, die auf die Heilung jener Wunden gerichtet sind, die das Blutvergießen geschlagen hat“. Am 19. August besuchte Erzbischof Feofan einen Standort der von Russland kontrollierten „Friedenstruppen“ für Südossetien (die seit ihrer Stationierung 1992 nie das Mandat einer internationalen Organisation besessen hatten). Er verteilte dort an die Soldaten Kreuze und Ikonen und erklärte, dass „Schutz der Bürger Russlands und Südossetiens vor Vernichtung und Vertreibung … Ziel und Aufgabe der Friedenssoldaten“ sei. Bei einer Veranstaltung in Berlin am 22. August zeigte Feofan angebliche Trümmer einer georgischen Rakete vom Typ „Grad“ vor, mit der die südossetische Hauptstadt Zchinwali beschossen worden sei und die er selbst aus Südossetien mitgebracht haben wollte. Es gäbe schon „zehntausende“ Flüchtlinge aus Südossetien (obwohl dieser Landstrich überhaupt nur ca. 30.000 Einwohner hatte und der Föderale Immigrationsdienst Russlands mit Stand vom 15. August ca. 17.000 Flüchtlinge aus Südossetien registrierte). Feofan setzte fort: „Diese humanitäre Katastrophe ist das Resultat von verbrecherischen Tätigkeiten politischer Kräfte eines angrenzenden Staates (gemeint: Georgien, der Verf.), die sich keine Rechenschaft darüber ablegen, was sie tun.“ Die „Zivilgesellschaft in Europa und Amerika“ habe keine „wahrheitsgetreuen Informationen“ über den Konflikt. Feofan betrachtete seinen Auftritt explizit als „Durchbruch der Informationsblockade“, mit anderen Worten: als Möglichkeit zur Popularisierung des Standpunkts der ROK (und damit des Kremls) zum Georgienkrieg im Ausland.
Reaktionen der Georgischen Kirche
Am 10. August drückte der in Gesellschaft und Politik Georgiens gleichermaßen hoch angesehene Ilija II. in einer Predigt sein Unverständnis über den Umstand aus, dass „orthodoxe Russen orthodoxe Georgier bombardieren“; eine solche Aggression habe es in der Geschichte der beiden Völker nie gegeben.1 „Glaubt, dass Gott Georgien nicht in Teile aufspalten wird.“ Am 15. August besuchte Ilija II. die Konfliktzone. Er hatte zuvor Alexij II. um Vermittlung gebeten, weil diese gemeinsam vom russischen Militär und südossetischen Milizionären kontrolliert wurde. Ilija II. rief Präsident Dimitrij Medwedjew und den eigentlichen Machthaber Russlands, Ministerpräsident Wladimir Putin, dazu auf, die Feindseligkeiten einzustellen und Südossetien und Abchasien nicht als „unabhängige Staaten“ anzuerkennen. Unmittelbar darauf tat der Kreml allerdings genau das.
Am 1. September bildeten hunderttausende Menschen in allen bedeutenden Städten Georgiens zum Protest gegen die russische Besetzung von Teilen des Landes eine Menschenkette; Ilija II. segnete die Veranstaltung in seiner Sonntagspredigt. Kyrill berichtete, dass die ROK Briefe Ilijas an Medwedjew und Putin weitergeleitet habe. Darin hieß es, dass die russische Luftwaffe „georgische Städte und Dörfer bombardiert hat, orthodoxe Christen haben einander getötet“. Ilija bedauerte die Toten unter Georgiern wie Osseten und wies die russischen Vorwürfe, dass Tiflis in Südossetien einen „Genozid“ durchgeführt habe, als „reine Lüge“ zurück.
Im Oktober 2009 verlangte Ilija II. eine Wiederherstellung der territorialen Integrität Georgiens und kritisierte Präsident Saakaschwili für seine Aktionen in Südossetien im August 2008, die zum bewaffneten Konflikt mit Russland geführt hätten: Dieser sei vermeidbar gewesen.
Zusammenfassung und Schlussfolgerungen
Die über weite Strecken in pathetischem Ton gehaltenen ROK-Kommentare zum Krieg erwähnten grundsätzlich nur Hilfe „für Südossetien“ und die Flüchtlinge von dort; in den Kirchen fanden Geldsammlungen für die Opfer des Konflikts statt, die Alexij II. segnete. „Hilfe für Georgien“ (ein armes Land), seine Kriegsopfer und Zehntausende von Flüchtlingen kam dagegen nirgendwo vor. In den Stellungnahmen der ROK war konsequent von einem „georgisch-ossetischen Konflikt“ die Rede – sogar noch zu einem Zeitpunkt, als die russische Armee schon längst mit der Besetzung von georgischem „Kernland“ beschäftigt war. Die russische Armee fand nirgendwo auch nur Erwähnung, von Kritik an Putins Krieg gegen Georgien ganz abgesehen. Stattdessen wurden in den ROK-Aussagen immer wieder die russischen „Friedenstruppen“ und ihre (wörtlich) „Heldentaten“ erwähnt. Feofan unterstrich am 9. August 2008 eine „Festigkeit des Geistes“ und eine „Treue gegenüber der militärischen Pflicht“ der „Friedenstruppen“. Er versprach, auch künftig diesen „Verteidigern des Friedens und der Stabilität im Kaukasus“ Hilfe und Unterstützung zu erweisen. Das erwies sich allerdings deswegen rasch als überflüssig, weil Moskau die „Friedensmission“ in Südossetien beendete und mit der separatistischen Republik einen Vertrag über den Aufbau eines russischen Militärstützpunktes abschloss. Die georgischen Proteste gegen diese formale Ausfertigung der völkerrechtswidrigen Besetzung einer de jure zu Georgien gehörenden Region verhallten in Moskau – und auch in der Zentrale der ROK – völlig ungehört. Die ROK schwieg auch konsequent zu den „ethnischen Säuberungen“ an ethnischen Georgiern in Südossetien, die die südossetischen Separatisten nach eigenem Bekenntnis verübten; so meinte deren Führer Eduard Kokojty Mitte August 2008 in Interviews für die russische Presse unter Anspielung auf die Lage in den (ehemals) von Georgiern bewohnten Dörfern wörtlich: „Wir haben dort praktisch alles dem Erdboden gleichgemacht“, auf dass niemand dorthin je zurückkehren könne.
Nach Kenntnis des Verfassers hat nicht ein einziger relevanter Würdenträger der ROK öffentlich auch nur vorsichtige Distanz zur russischen Militärintervention gegen Georgien und die Zerschlagung seiner territorialen Integrität geäußert. Daraus ergibt sich der zwingende Schluss, dass die ROK das Vorgehen des Kremls voll und ganz billigte. Das ist auch deswegen erstaunlich, weil die ROK die Intervention der NATO gegen Restjugoslawien im Frühjahr 1999 als „Sünde vor Gott und als Verbrechen aus der Sicht des internationalen Rechts“ lautstark verurteilt hatte (die serbischen „ethnischen Säuberungen“ an den Albanern fanden keinerlei Aufmerksamkeit) und die Unabhängigkeit des Kosovo von Serbien, einem „orthodoxen Bruderland“, natürlich schroff ablehnt: Diese sei völkerrechtswidrig, weil sie dem Grundprinzip der territorialen Integrität von Staaten widerspreche.
Daraus ergeben sich unerfreuliche, aber unbestreitbare Schlussfolgerungen: Die ROK hat – gewollt oder ungewollt – im zweiten Krieg in Tschetschenien und im Krieg gegen Georgien zur „geistigen Mobilisierung“ beigetragen und damit die Politik des Kremls objektiv unterstützt. Sie machte nicht einmal den Versuch, neutral zu bleiben, und war von Anfang an Partei – auf der Seite der russischen Armee und der südossetischen Separatisten.
Literaturhinweise
Thomas Bremer: Kreuz und Kreml. Kleine Geschichte der orthodoxen Kirche in Russland. Freiburg, Basel, Wien 2007.
Martin Malek: Georgia & Russia: The „Unknown“ Prelude to the „Five Day War“. In: Caucasian Review of International Affairs, Vol. 3 (2) - Spring 2009; Internet-Dokument: http://www.cria-online.org/7_10.html (letzter Zugriff: 03.03.2015).
Anastasia Mitrofanowa: The Politicization of Russian Orthodoxy. Actors and Ideas. Stuttgart 2005.
Internetauftritt des Patriarchats von Georgien (in georgischer, russischer und englischer Sprache): http://www.patriarchate.ge
Internetauftritt der Russischen Orthodoxen Kirche – Abteilung für auswärtige Beziehungen des Moskauer Patriarchats (in russischer, englischer, griechischer und italienischer Sprache): http://www.mospat.ru/
Joachim Willems: Kirche und Armee. Religion und Politik in Russland. In: osteuropa 59 (2009), H. 6, S. 235-248.
Fußnote:
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Es ist schwer vorstellbar, dass sich der Patriarch nicht der Annexionen Georgiens durch das Zarenreich (1801) und Sowjetrussland (1921) bewusst war. ↩︎