Religiosität in Russland – Interview mit Prof. Dr. Weniamin Simonow

aus OWEP 1/2010  •  von Thomas Bremer

Prof. Dr. Weniamin Simonow (Igumen Philipp) ist Professor für Kirchengeschichte an der Fakultät für Geschichte der Moskauer Staatsuniversität und stellvertretender Vorsitzender der Synodalabteilung für Mission des Moskauer Patriarchats der Russischen Orthodoxen Kirche (ROK). Er stellt sich den Fragen von Thomas Bremer. Die im Gespräch erwähnte Umfrage führte das Levada-Zentrum in Moskau im Februar 2009 zum Thema „Religion und Religiosität in Russland“ durch.1

Vater Philipp, erläutern Sie bitte die Gründe, die Sie zu dieser Umfrage bewogen haben. Worin bestand das Ziel?

Prof. Dr. Wniamin Simonow (Igumen Philipp) – Foto: Renovabis-Archiv.

Ich möchte niemandem seine Lorbeeren wegnehmen, daher lassen Sie mich gleich richtig stellen: Ich habe an der Vorbereitung der Umfrage und der Analyse ihrer Ergebnisse teilgenommen, technisch gesehen wurde sie von Soziologen des Levada-Zentrums durchgeführt, die Initiative für die Umfrage stammte jedoch von unseren Kollegen aus Deutschland. Meine Teilnahme an der Umfrage basierte sowohl auf wissenschaftlichen als auch auf praktischen Interessen. Einerseits scheint die durchgeführte Umfrage am adäquatesten alle Aspekte des orthodoxen Verhaltens der Befragten wiederzugeben. Deswegen würden ihre Ergebnisse es ermöglichen, den Zustand der Orthodoxie in Russland in seiner Dynamik realistisch einzuschätzen, wenn die Untersuchung im Laufe einer gewissen Zeit wiederholt werden könnte.

Andererseits zeigt der Inhalt der Fragen gewisse „Engpässe“, die es zweifellos in jeder Konfession gibt, wenn sie in ein stark säkulares Umfeld gerät. Vor allem sind es Mängel in der pastoralen Versorgung, Probleme liturgischen Charakters, Fragen nach dem Apostolat der Laien und so weiter.

Worin unterscheidet sich diese Ihre Umfrage von anderen, die früher durchgeführt wurden?

Die gegenwärtige Umfrage kann meiner Meinung nach hinsichtlich ihrer Qualität als Muster dienen. Denn die Fragen sind mit dem Verständnis für jenen theologischen Inhalt zusammengestellt, den die Befragten in ihre Antworten hineinlegten (möglicherweise auch unbewusst). Zum Beispiel hängt die Frage nach der religiösen Aktivität bei Weitem nicht so sehr mit der Häufigkeit von Kirchenbesuch zusammen. Sie hängt viel mehr von der persönlichen Bereitschaft ab, ein christliches Leben zu führen, also etwa mit persönlichem Gebet außerhalb der Kirche, christlicher Lektüre und christlichem Verhalten, mit Entsprechung des Verhaltens zu den kirchlichen Dogmen und so weiter. Nur die Einbeziehung aller dieser Aspekte kann ein angemessenes Bild abgeben. Das Übel eines Großteils der früheren Untersuchungen besteht darin, dass sie in der Regel den inneren Zustand ausschließlich durch äußerliche Merkmale zu bewerten versuchten.

Wie würden Sie die Hauptergebnisse der Umfrage benennen? Was sagt sie über die Religiosität in Russland?

Die Umfrage zeigt, dass die Russische Orthodoxe Kirche derzeit vor wahrhaft großen Aufgaben steht. Vor etwa zehn Jahren fand ein Gespräch statt, bei dem ein Bischof sagte, dass es die Aufgabe der Missionare sei, methodische Hinweise in die Hände unserer Gemeindepfarrer zu geben, die ihnen helfen könnten, mehr Menschen in die Kirche zu bringen. Denn es war bei uns so, dass ein Priester eine Kirche wiederaufgebaut und ausgeschmückt, eine Taufkapelle und ein Gemeindehaus eingerichtet hat, aber keine Menschen da waren. Ihm wurde sehr sinnvoll entgegnet: „Und was sollen wir in diese Hinweise hineinschreiben, Herr Bischof? Etwa: Glauben Sie an Gott, Väterchen, und alles andere wird Ihnen dazugegeben?“ (Joh 14,1; Lk 12,31).

Die zwanzig Jahre seit dem Beginn der religiösen Freiheit im neuen Russland waren voller Maßnahmen. Die meisten davon wurden durch die Lage bestimmt, in der die Kirche ihr historisches Erbe angetroffen hat: In der Sowjetperiode zerstörte Kirchengebäude benötigten unverzüglich Restaurierung und Wiederaufbau; Gemeindepfarrer und Klostergemeinschaften bekamen Gebäude, die weder für Gottesdienste noch zum Leben tauglich waren. Faktisch musste man alles neu machen. Dafür mussten Mittel gefunden werden – Geld, Baustoffe, auch Bauarbeiter, Ikonenmaler und vieles mehr. Diese ganze Tätigkeit entfaltete sich unter den Bedingungen einer erschreckenden wirtschaftlichen Krise, die zusätzlich von einer Hyperinflation begleitet wurde, und später unter den Bedingungen der Weltfinanzkrise, die das gerade aufgerichtete Russland wieder ins Schwanken brachte. Das verlangte eine Menge Zeit und Kraft nicht nur von den Geistlichen, sondern auch von den aktiven Gemeindemitgliedern.

Diese Arbeit, die kein Ende nehmen wollte, verdrängte sehr oft andere Aufgaben, die dennoch Hauptaufgaben für die Kirche blieben: Ich spreche von Aufgaben wie die Aufklärung der Menschen durch das Licht der Wahrheit Christi, wie die Erklärung der dogmatischen Wahrheiten – die Erlösung als Basis der Glaubenslehre. Denn in Zerrüttung geraten sind nicht nur Gebäude und Einrichtungen, sondern auch die Seelen der Menschen. Die Umfrage offenbarte, dass es hier wesentliche Lücken gibt. Mit dem Herzen streben die Menschen Christus zu, sie binden sich fest an ihn, aber sehr selten können sie sich vorstellen, wie genau und welcher Weg eingeschlagen werden soll, damit ihre Vereinigung mit Christus wahrlich verwirklicht werden kann. Das zeigte die Umfrage: Die Mehrheit der Antwortenden positionieren sich als orthodoxe Christen, damit aber diese Positionierung aus dem subjektiven Wunsch zu einer realen religiösen Tatsache wird, ist angestrengte Arbeit sowohl von der Kirche als auch von diesen Menschen selbst nötig. Übrigens zeigt die Umfrage, dass die Menschen selbst zu dieser Zusammenarbeit durchaus bereit sind.

Worin unterscheidet sich die religiöse Praxis der Russen von der anderer Völker, worin bestehen ihre Besonderheiten?

Der Grad der Religiosität der russischen Bevölkerung unterscheidet sich kaum von jenem Zustand, den wir in den entwickelten Industrieländern beobachten können. Denn in Westeuropa zum Beispiel sehen wir, dass die Kirchen an Weihnachten und an den Osterfeiertagen voll sind, aber nicht immer von Betenden im eigentlichen Sinne. Die meisten derer, die an diesen Tagen zur Kirche kommen, folgen jahrhundertealten Traditionen. Dagegen sind es nur wenige Menschen in den Gottesdiensten an Werktagen, hauptsächlich alte Leute. Das ist die normale Situation, die ich selber oft beobachte. Auch beobachte ich die weltliche Nutzung kirchlicher Gebäude, etwa in Italien als Museen und Konzertsäle. Außerdem scheint es mir so, dass die säkularen Tendenzen in der „entwickelten“ Welt viel weiter vorangeschritten sind als in Russland. Das ist verständlich: In Russland ist die Orthodoxie ein Element der nationalen Selbstidentifizierung des Volkes.

Welche Ergebnisse haben Sie am wenigsten erwartet?

Da ich praktizierender Priester bin, konnte ich die Ergebnisse aus den formulierten Fragen meistens voraussagen, selbstverständlich nicht mit der Präzision bis auf die Prozentzahl, aber als Tendenz. Trotz einer Reihe von negativen Momenten im unmittelbaren Umgang mit Vertretern des Klerus ist sogar die Hochachtung vor der Würde des Priesters nicht unerwartet: Die orthodoxe Tradition lehrt nicht den Menschen im Rang zu achten, sondern den Rang im Menschen. Und das braucht keine Erklärung, die Gemeindemitglieder verstehen es und akzeptieren es als selbstverständlich. Alles andere – das alles sehen wir in Pfarreien tagtäglich – ist nichts Neues, sondern ein Teil unseres Alltagslebens. Vielleicht hat mich jene Nachsicht überrascht, mit dem die Menschen an einige Nuancen der kirchlichen Wirtschaftstätigkeit herangehen.

Kann diese Umfrage denn für die Missionstätigkeit der ROK hilfreich sein? Erwarten Sie, dass die Kirche die Ergebnisse zur Kenntnis nimmt, und, falls ja, mit welchen Konsequenzen?

Diese Erwartungen sind hauptsächlich mit der Person des Patriarchen Kyrill verbunden – zweifellos ein aktiver Mensch, der auf das Erwachen des kirchlichen Selbstbewusstseins ausgerichtet ist, darauf, dass die Gemeinde nicht zu einer Gesamtheit von Einzelnen werde, sondern zur Ekklesia – zur Versammlung der „kleinen Herde“ (Lk 12,32) von denen, die an den einen gottmenschlichen Leib der Kirche glauben; darauf, dass aus diesen einzelnen Kirchen die gesamtrussische Kirche als Vorbild und ein Teil im ökumenischen Leib Christi zusammenkommt. Das ist die ständige Missionsaufgabe jeder Ortskirche, auch wenn sie unter bestimmten historischen Bedingungen zuweilen vergessen wird. Bei der Lösung dieser Aufgabe ist die vorliegende Umfrage eine äußerst wertvolle Quelle. Finden wir die Kräfte, um die begonnene Untersuchung zusammen fortzusetzen, dann wird sie zu einem hilfreichen Werkzeug, das viele korrekte Diagnosen stellt und ihnen entsprechend richtige Ansätze finden lässt zur Verbesserung unseres Alltagslebens und der Arbeit, mit der jeder von uns dem Herrn dient (Ps 2,11)!

Aus dem Russischen übersetzt von Alena Kharko.


Fußnote:


  1. Vgl. auch die Hinweise bei Nadeschda Beljakowa (S. 56 der gedruckten Ausgabe dieses Heftes), außerdem das Themenheft „Glaubenssache. Kirche und Politik im Osten Europas“ der Zeitschrift „osteuropa“ (59 [2009], H. 6). Besonders hingewiesen sei auf den Beitrag von Weniamin Simonow (Igumen Philipp): Religion und Religiosität in Russland. „Da stand die Sonne still und der Mond blieb stehen“ (S. 189-216). ↩︎