Wie leben mit Erinnerungen, die man kaum erträgt?

Zu den psychosozialen Folgen von Systemunrecht
aus OWEP 2/2011  •  von Thomas Hoppe

Prof. Dr. Thomas Hoppe lehrt Katholische Theologie unter besonderer Berücksichtigung der Sozialwissenschaften und der Sozialethik an der Universität der Bundeswehr Hamburg.

Zusammenfassung

Das Ende des Kommunismus in Mittel- und Osteuropa liegt zwar fast ein Vierteljahrhundert zurück, doch leiden bis heute viele Menschen unter den Folgen des Systems. Vielfach wird das Geschehene verdrängt oder ignoriert. Der folgende Beitrag vermittelt einen Überblick über die Problematik und skizziert Möglichkeiten der Hilfe für die Opfer. Vieles lässt sich nicht wieder heilen, jedoch sollte es ein Anliegen der Gesellschaft sein, den Betroffenen ihre Würde zurück zu geben.

I.

Zwanzig Jahre können eine sehr lange Zeit sein, aber auch eine ziemlich kurze; wenigstens dann, wenn es um das historische Gedächtnis von Menschen und Völkern geht, ihre Suche nach Antwort auf die als bedrängend empfundene Frage danach, wie dem standzuhalten wäre, was sich in der Erinnerung beharrlich zurück meldet, allen Versuchen zum Trotz, sich durch eine entschlossene Wendung des Blickes „nach vorn“ hiervor zu bewahren. Mit dem Abstand von zwanzig Jahren rückt vielleicht manches Detail in diffuser werdende Erinnerungsschichten ein, dafür treten Schlüsselsituationen des Geschehenen und die großen Linien seiner Verläufe um so konturenschärfer ans Licht.

Gut zwanzig Jahre brauchte es, bis das Thema der weithin unterbliebenen Aufarbeitung des Nationalsozialismus die bundesrepublikanische Gesellschaft erschütterte, ein tragendes Motiv jener Studentenrevolte, die sich mit der Jahreszahl 1968 verbindet. Wird nun, mit etwa demselben zeitlichen Abstand, die Aufarbeitung der Epoche des Kommunismus und seiner Herrschaftsformen, die bis 1989 die Alltagswirklichkeit in vielen Ländern Mittel- und Osteuropas prägte, dort einen entsprechenden Stellenwert erhalten?

Sicher ist: Zahllose Menschen in diesen Ländern sind auf durchaus unterschiedliche Weise mit den Folgen kommunistischer Herrschaftspraxis bis in die Gegenwart hinein konfrontiert. Der ungarische Schriftsteller und Überlebende von Auschwitz Imre Kertész („Roman eines Schicksallosen“) prägte vor Jahren bereits die Formel, mit Diktaturen könne man nicht politisch umgehen. Denn sie seien eine „Lebensform“, die sich nur über Jahrzehnte hinweg überwinden lasse. Dies auch deswegen, weil moderne Diktaturen darauf angelegt seien, das Bedürfnis nach einer „Vaterherrschaft“ zu befriedigen und auf diese Weise einen Konsens unter den Beherrschten zu stiften, dessen Preis in deren Entmündigung als Subjekte nicht nur von politischen, sondern auch von vielen alltäglichen Entscheidungsprozessen bestehe. Die Prägekraft dieser Sozialisationsmechanismen für die Individualität von Personen sei kaum zu überschätzen.1 Unter diesen Bedingungen fällt es naturgemäß schwer, sich auf die Zumutungen, ja manchmal existenziellen Risiken der Freiheit, wie sie in einem westlich geprägten demokratischen Regierungssystem erfahrbar werden, einzulassen, und es wird nachvollziehbar, worin die Verführungskraft autoritärer Staatsmodelle gründet.

II.

Im Speziellen machen sich die Folgen des Kommunismus dort bemerkbar, wo man auf die eigene Position innerhalb der damals gegebenen Systemstrukturen reflektiert. Im Blick auf die Betroffenheit durch Systemunrecht lässt sich grob die Dreiteilung in die „Rollen“ der hierin auf unterschiedlichen Ebenen Verantwortlichen („Täter“), der dadurch Geschädigten („Opfer“) und derer durchführen, die weder in die eine noch in die andere Situation gerieten. Deren Bezeichnung als „Zuschauer“ wirft jedoch eine Reihe von Fragen auf, etwa danach, wie weit jemand, der dieser Kategorie zugeordnet wird, als Unbeteiligter am Geschehen zu betrachten ist. Nicht wirksam Einfluss nehmen zu können und unbeteiligt zu sein, ist ja keineswegs dasselbe. Dies kann sich unter anderem darin zeigen, dass ein Mensch unter seinem Mangel an Handlungsmöglichkeiten auch im Nachhinein noch leidet, während die Feststellung, unbeteiligt zu sein, in aller Regel eher den Beigeschmack einer Entschuldigung mit sich führt, selbst wenn die mangelnde äußerliche Beteiligung am Geschehen durchaus mit dessen innerer Billigung einhergegangen sein kann. Über längere Zeiträume begegnen zudem persönliche Konstellationen, die sich nicht eindimensional auf nur eine der angegebenen Kategorisierungen beziehen lassen; „Täter-Opfer“- und „Opfer-Täter“-Biographien spiegeln sich z. B. in den Akten der Staatssicherheit der ehemaligen DDR, die die Tätigkeit der „Informellen Mitarbeiter“ dokumentieren, mehr als nur gelegentlich wider.

Die direkten Opfer staatlicher Repressionsmaßnahmen hatten ohne Zweifel das schwerste Schicksal zu ertragen. Auch hier ist ein Blick auf die Situation in der DDR hilfreich: Seit dem Ende des Stalinismus, vor allem aber nach der Einigung auf die Grundsätze der Schlussakte von Helsinki der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) im Jahr 1975 waren physische Formen von Gewaltanwendung kein Mittel der Wahl mehr, wenngleich eine derartige Praxis damit noch lange nicht gänzlich endete. Psychische Gewalt in ihren subtilen wie brutalen Erscheinungsformen wurde dafür von den Betroffenen um so häufiger erlebt, etwa in Konzeptionen zur „Zersetzung“ einer Person, die auf deren soziale Isolierung, Desorientierung und auf ihre Diskreditierung gerichtet waren; aufgrund der damit verbundenen Maßnahmen und Mechanismen hatten sie in vielen Fällen lange nachwirkende psychische Schädigungen zur Folge.2 Berufliches Fortkommen und eine annähernd normale Lebensführung wurden auch für diejenigen vielfach unmöglich, denen Inhaftierung und Verurteilung zu langjährigen Gefängnisstrafen mit den hierfür charakteristischen Traumatisierungen erspart blieb. Auch nach dem Ende der DDR ergaben sich daraus bleibende Benachteiligungen, die durch eine strafrechtliche Rehabilitierung und Versuche, mit Hilfe entsprechender Gesetze einen Teil des erlittenen Unrechts zu entschädigen, nicht ausgeglichen werden können.

Überaus schmerzliche Wunden blieben aber auch bei manchen Menschen zurück, die die Staatsmacht nicht so sehr als ihnen feindliches Gegenüber erlebten, sondern in die Kooperation mit deren Organen ebenso systematisch wie schleichend verstrickt wurden. Dies dürfte wohl nicht zuletzt für einen nennenswerten Teil der Personen gelten, die als „Informelle Mitarbeiter“ der Staatssicherheit geführt wurden. Die mehr oder minder starke Überzeugung, im Sinne einer guten Sache zu handeln, steht nicht selten am Beginn dieser Art von Zusammenarbeit; wird später das Ausmaß deutlicher, in welchem man dadurch an systembedingtem Unrecht beteiligt wird, gelingt es jedoch meist nicht mehr, sich daraus ohne Weiteres zurückzuziehen. Wer aber realisiert, dass er sein Handeln ab einem bestimmten Punkt mit seinem Gewissen nicht mehr vereinbaren kann, gerät dadurch in eine innere Situation, die ihn als moralisches Subjekt zu zerbrechen vermag. Wo Verdrängungsmechanismen nicht mehr weiterhelfen, kann es daher sehr schwer werden, mit einer solchen Situation auf Dauer zu leben. Gerade die Techniken der Verstrickung bedeuten damit einen besonders nachhaltig schädigenden „Angriff auf die Seele“, was dann noch verstärkt gilt, wenn nicht Erwachsene, sondern Kinder und Jugendliche im Fokus entsprechender Anwerbungsstrategien stehen.3

Der oft beklagenswerten Lage vieler Opfer stehen manche Indifferenz auf Seiten derer, die in diese Rolle nicht gerieten, sowie die nicht selten anzutreffenden Rechtfertigungsstrategien der Verantwortlichen für das geschehene Systemunrecht gegenüber. Solche Strategien beruhen nur teilweise auf ideologischen Begründungsmustern; vielmehr muss beunruhigen, in welchem Ausmaß ein Handeln, das zur Zerstörung einer Persönlichkeit geführt haben kann, als unter den obwaltenden Systemzwängen konsequent und unvermeidlich interpretiert und womöglich subjektiv tatsächlich so wahrgenommen werden kann. So lässt sich die Erfüllung der jeweiligen funktionalen Aufgabe im Systemzusammenhang mit der Überzeugung verbinden, persönlich keine unehrenhaften Motive gehabt und im Einzelfall vielleicht sogar manche Milderung ansonsten noch unerträglicherer Zustände bewirkt zu haben. Das Erschrecken über die Folgen eigenen Handelns wird auch dadurch gehemmt, dass die dafür Verantwortlichen ihren Opfern im Gros der Fälle nicht mehr begegnen. Täter-Opfer-Gespräche, also bewusst intendierte Zusammentreffen, sind bis heute überaus selten, und die meisten von ihnen scheitern erfahrungsgemäß.

III.

Unsichtbar scheint, wenigstens auf den ersten Blick, das Leid, das auf einer Gesellschaft lastet, in der Menschen zusammen leben müssen, die einander einst als Täter und Opfer begegneten. Dennoch bleibt es vielfach in eminenter Weise präsent und wirksam. Hierbei geht es nicht nur um die Folgen moralischer oder krimineller Schuld im geläufigen Sinn des Wortes. Am Phänomen der Verstrickung wird vielmehr deutlich, wie sehr etlichen Handlungszusammenhängen, in denen Menschen sich vorfanden, tragische Züge zukommen. Der Versuch, im eigenen Handlungsrahmen Unrecht und Leid wenigstens zu mindern, konnte darauf hinauslaufen, auf andere Weise dem Unrecht aufzuhelfen, seine Wirksamkeit noch zu steigern. Erfahrungen von Ausweglosigkeit und Ohnmacht prägen die Erinnerung unzähliger Menschen, zugleich damit ihr Lebensgefühl in der Gegenwart.

Ein weiteres charakteristisches Merkmal dieser Gegenwart liegt in der Zäsur der Lebenswelten, die Menschen, die zu Opfern von Systemunrecht wurden, von jenen trennt, die dieses verantworteten oder solches Handeln stillschweigend akzeptierten. Letzteren gelingt es meist, in und nach Wendezeiten in der unter neuen politischen Vorzeichen entstehenden gesellschaftlichen Realität wieder Fuß zu fassen, sich nicht selten erfolgreich darin zu etablieren, ja den Gang der weiteren Entwicklung womöglich maßgeblich mitzubestimmen und so erneut Verhältnisse entstehen zu lassen, die den eigenen Interessenlagen und Präferenzen günstig sind. Denjenigen, die die Erfahrungen des Opfer-Seins in sich tragen, fällt dies ungleich schwerer; nicht nur gelegentlich scheitern solche Versuche, nachdem sie wiederholt unternommen wurden. Menschen, die unter den Systembedingungen der Diktatur ausgegrenzt und verfolgt wurden, sehen sich auch unter gewandelten politischen Bedingungen erneut marginalisiert und von der großen Mehrheit weitgehend isoliert, schon deswegen, weil kaum jemand von ihren Erfahrungen und ihrer Lebenssituation Kenntnis nehmen will, der diese nicht selbst in ähnlicher Weise leidvoll erfahren hat. Nicht nur im psychologischen, sondern auch im soziologischen Sinn erscheint die Beobachtung, dass die markierte Trennung der Lebenswelten nicht Fiktion, sondern schmerzhafte Realität ist, als berechtigt.

Vor diesem Hintergrund erweisen sich herkömmliche Versuche, pragmatisch mit den Herausforderungen von Transformationsprozessen umzugehen, als unzulänglich, weil sie die Ernsthaftigkeit und Tiefe der tatsächlich aufkommenden Fragen erkennbar unterbieten. Hierin liegt eine der wesentlichen Ursachen für die Enttäuschung, die sich bei nicht wenigen Menschen mit der Erfahrung der konkreten Praxis politischer, gesellschaftlicher, ökonomischer und sozialer Veränderungsprozesse verbindet. Dies gilt selbst dann, wenn diese Praxis äußerlich durchaus erfolgreich ist. Dass das allgemeine Lebensniveau gegenüber dem Zustand zur Zeit des alten Regimes deutlich angehoben wurde, erscheint in dieser Sicht bei aller Anerkennung des Geleisteten doch nur als eine relative, sekundär bleibende Errungenschaft, der gegenüber die Bewältigung wesentlicher, auf politisch-moralischer Ebene liegender Herausforderungen weiterhin aussteht. Nur Unkenntnis der hinter dieser Wahrnehmung liegenden Problemkonstellation mag es Betrachtern von außen als berechtigt erscheinen lassen, im Hinweis auf die begrenzte Reichweite etwa ökonomischer Konsolidierungsprozesse einen Mangel an Dankbarkeit derer zu diagnostizieren, denen diese Fortschritte zugute kommen sollen.

IV.

Entgegen einer vielleicht auf den ersten Blick plausiblen Erwartungshaltung sind in einer solchen Situation auch Kirchen und religiöse Gemeinschaften nicht diejenigen Institutionen, denen vorab eine besondere Befähigung zugeschrieben wird, auf die Fragen, die die Gesellschaft umtreiben, angemessen antworten zu können. Denn zum einen haben auch sie unter den Bedingungen des ehemaligen politischen Systems leben und überleben müssen, unterlagen also in einem nicht unerheblichen Grad selbst den subtilen Mechanismen der Herrschaftssicherung, die sich mit diesem System verbanden. Ihre Glaubwürdigkeit als geeignete Institutionen zur Aufarbeitung von Unrechtserfahrungen war daher stets Zweifeln ausgesetzt, und jüngste Veröffentlichungen mit einer Reihe durchaus selbstkritischer Beiträge von Kirchenvertretern aus vormals kommunistisch regierten Ländern zu Möglichkeiten und Grenzen ihres damaligen und heutigen Tuns bestätigen dies.4 Zum anderen erschien häufig unklar, worin ein inhaltlich substanzieller kirchlicher Beitrag zu den Fragestellungen gesellschaftlicher Aufarbeitungsprozesse überhaupt liegen könnte. Theologische Antwortversuche, auch solche, die sich im Sinne von Johann Baptist Metz in besonderer Weise einer „leidempfindlichen Gottesrede“5 verpflichtet sahen, erreichten nur diejenigen, die einen Zugang zu dieser Reflexionsform gefunden hatten, also eine deutliche Minderheit im Vergleich zur Gesamtgruppe derer, die nach Antworten auf die Fragestellungen des Aufarbeitungsprozesses suchten. Eher schon konnten kirchliche Strukturen einen Rahmen dafür bieten, die großen Themen der Aufarbeitung von Systemunrecht zu identifizieren und sie unter Beteiligung von Zeitzeugen aus unterschiedlichen Länderkontexten ins Gespräch zu bringen, um Anregungen dafür geben zu können, welche Aspekte mit welcher Gewichtung in einem den kirchlichen Raum überschreitenden gesellschaftlichen Kontext zu erörtern wären.6

Deutlich wurde dabei immer wieder, dass es sich verbietet, Kategorien wie diejenigen der Vergebung und der Versöhnung vorschnell in einen politisch-ethischen Gesprächszusammenhang einzuführen. Denn damit wird riskiert, dass die Frage nach den anspruchsvollen Voraussetzungen für die mit diesen Kategorien bezeichneten Prozesse unbestimmt bleibt. Umgekehrt müssten zunächst diese Voraussetzungen geklärt und den Gründen dafür nachgegangen werden, warum sie oft so schwer zu realisieren sind. Aufarbeitung von Systemunrecht muss sich an der Trias „Erinnerung – Gerechtigkeit – Versöhnung“7 orientieren, wobei zu vermeiden ist, dass die Bedeutung, die dem Bemühen um eine authentische Erinnerung an das Geschehene und dem Streben nach Linderung der Folgen erlittenen Unrechts zukommt, von der Versöhnungsfrage her relativiert wird: Auch wo letztere bis auf weiteres offen steht, haben solche Bemühungen einen unverzichtbaren Eigenwert. Denn die Arbeit daran, zu authentischem, also nicht selektivem und damit verfälschendem Erinnern vorzudringen, beugt nicht nur der späteren Legendenbildung vor, vielmehr ist sie selbst ein Beitrag dazu, ein Stück Gerechtigkeit für die Opfer von Unrechtsstrukturen und -handlungen zu schaffen und ihre verletzte Würde wieder aufzurichten: Indem verhindert wird, dass die Verursachungsfaktoren und Verantwortlichkeiten für das ihnen zugefügte Leid auch nach Überwindung dieser Strukturen dem kollektiven Vergessen anheim fallen.

Zu den Aufgaben wiederherstellender Gerechtigkeit gehört es darüber hinaus, jenseits individueller Rehabilitierungen und Entschädigungen die gesellschaftliche Situation von Opfern zu verändern, indem sie aus der selbst empfundenen Isolation befreit und aktiv in den Prozess der gesellschaftlichen Aufarbeitung einbezogen werden. Denn nicht zuletzt wird diese Wahrnehmung dadurch verstärkt, dass es ihnen unmöglich ist, über das von ihnen Erlittene zu sprechen – sei es, weil die Tiefe der eigenen Verletzungen dies verwehrt, sei es, weil die lebensweltlichen Plausibilitäten der Gegenwart hierfür keinen Ort mehr zu bieten scheinen. Durch Zeitzeugengespräche, öffentliche Ehrungen der Opfer, Gedenkstättenarbeit, historisch wie didaktisch mit Sorgfalt konzipierte Publikationen, Medienarbeit und überhaupt die Thematisierung dieser Problematik im Bereich von Erziehung und Bildung kann es gelingen, geeignete Formen kollektiven Erinnerns zu entwickeln und sie zugleich vor politischer Manipulation zu schützen. Sie lassen sich im weiteren Sinne als Akte der Rehabilitation und der Entschädigung ansehen. Denn sie zielen darauf, gegen das allmähliche Vergessen anzuarbeiten, das über Zeit die Opfer ein zweites Mal zu Opfern werden lässt.

In diesen Zusammenhang sind auch konkrete, in der karitativen bzw. diakonischen Arbeit der beiden großen christlichen Kirchen in Deutschland realisierte psychosoziale Hilfsangebote für Menschen zu stellen, die durch die Erfahrungen von politischer Repression traumatisiert wurden. Die öffentliche Beratungstätigkeit im Rahmen dieses Projekts, die seit 2004 dezentral in den ostdeutschen Bundesländern durchgeführt wird, folgt dem Grundsatz, den Betroffenen einen „geschützten Raum“ und Wege zu eröffnen, auf denen sie das Gefängnis ihrer Erinnerungen ein Stück weit aufsprengen können.8 So soll es ihnen ermöglicht werden, trotz der erlittenen Schädigungen Formen der alltagspraktischen Lebensbewältigung zu entdecken und die dazu notwendigen Kraftressourcen in sich zu erschließen. Es geht dabei nicht um die illusionäre Absicht, die seelischen Verwundungen umfassend zu heilen; das Ziel besteht darin, zu der Wahrnehmung zu gelangen: „Ja, ich war ein Opfer, aber letztlich haben mich die Verfolger nicht besiegt. Es ist Vergangenheit, ich habe noch ein Leben danach.“9

Diese Form karitativen Engagements kann auch solche Menschen erreichen, deren Kirchenbindung aus unterschiedlichsten Gründen weniger stark ausgeprägt ist oder gänzlich fehlt. Sie haben die Möglichkeit, ein niederschwelliges Angebot in Anspruch zu nehmen. Der bisherige Verlauf der Beratung zeigt den weiterhin bestehenden Bedarf an psychosozialer Hilfe für den betroffenen Personenkreis auf. Es ist daher dringend zu wünschen, dass diese auch künftig bereit gestellt werden kann.

Ein bescheidener Beitrag, gewiss, aber doch eine Alternative dazu, das Existieren bleibender Verwundungen nur zu beklagen. Und ein Stück praktischer Verantwortungsübernahme in einem Bereich, der zum Auftrag von Kirche in dieser Welt untrennbar dazugehört: der konkreten Sorge um den Nächsten, gerade den verletzten und bedrängten. Es gibt Grund zu hoffen, wenn man darum weiß, dass so zu handeln möglich ist.


Fußnoten:


  1. Interview mit Walter von Rossum, Deutschlandfunk,19.01.1997. ↩︎

  2. Zu den angewendeten Methoden und ihren Auswirkungen vgl. z. B. Sandra Pingel-Schliemann: Zersetzen. Strategie einer Diktatur. Berlin 2002. ↩︎

  3. Vgl. etwa Klaus Behnke/Jürgen Wolf (Hrsg.): Stasi auf dem Schulhof. Der Missbrauch von Kindern und Jugendlichen durch das Ministerium für Staatssicherheit. Berlin 1998. ↩︎

  4. Vgl. etwa Ingeborg Gabriel/Cornelia Bystricky (Hrsg.): Kommunismus im Rückblick. Ökumenische Perspektiven aus Ost und West (1989-2009). Ostfildern 2010. ↩︎

  5. Vgl. z. B. Johann Baptist Metz: Kein Leid, das uns nichts angeht. In: Süddeutsche Zeitung, 28.09. 2004, S. 17. ↩︎

  6. Vgl. Dieter Grande (Hrsg.): Ohne Erinnerung keine Versöhnung. Ansätze zu einer Charta Memoriae. Dokumentation eines internationalen Workshops in der Gedenkstätte Buchenwald (Deutsche Kommission Justitia et Pax: Schriftenreihe Gerechtigkeit und Frieden, Nr. 41). Bonn 1999; Erinnerung, Wahrheit, Gerechtigkeit. Empfehlungen zum Umgang mit belasteter Vergangenheit (Deutsche Kommission Justitia et Pax: Schriftenreihe Gerechtigkeit und Frieden, Nr. 102). Bonn 2004. ↩︎

  7. Vgl. Thomas Hoppe: Erinnerung, Gerechtigkeit und Versöhnung. Zur Aufgabe eines angemessenen Umgangs mit belasteter Vergangenheit, in: Michael Bongardt/Ralf K. Wüstenberg (Hrsg.): Versöhnung, Strafe und Gerechtigkeit. Göttingen 2010, S. 29-51. ↩︎

  8. Vgl. Norbert Peikert: Psychosoziale Beratung für Betroffene von Systemunrecht und Gewaltherrschaft. In: Evangelische Theologie 70 (2010), S. 145-150; Thomas Hoppe, Psychosoziale Beratung für Betroffene von Systemunrecht in der ehemaligen DDR. In: ebd., S. 151-158. ↩︎

  9. Norbert F. Gurris: Interview, veröffentlicht im 4. Tätigkeitsbericht der Landesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR in Sachsen-Anhalt. Magdeburg 1998, S. 108-114, hier S. 113. ↩︎