„Es ist in der Tat Krieg – Putins Krieg mit Europa.“
Viktor Juschtschenko war von Januar 2005 bis Mai 2010 Präsident der Ukraine; sein Amtsantritt war eine Folge der „Orangenen Revolution“ 2004, die man als Vorläuferin des Majdan 2013 ansehen kann. Er tritt nach wie vor für eine engere Anbindung der Ukraine an die EU ein. Das Gespräch zwischen ihm und Michael Albus fand Ende August 2014 in Kiew statt.
In diesen Tagen fand das Treffen von Präsident Poroschenko und Putin unter Beteiligung der EU in Minsk statt. Tags darauf war es endlich offenkundig, dass Russland die Separatisten mit regulären Soldaten und mit Waffen massiv unterstützt. Putin forderte eine Eigenstaatlichkeit des Ostteils der Ukraine. Die Lage verschärft sich zusehends. Wie sehen Sie die aktuelle Situation?
Die Frage der nationalen und politischen Einheit der Ukraine war vor dreihundert, vor zweihundert, vor zehn Jahren immer die wichtigste Frage der russischen Außenpolitik. Sie wird auch weiterhin an erster Stelle für Russland stehen.
Putin ist krank. Er leidet an dem Unsinn, der heißt: Russland ist für die ganze Welt wichtig und das alte mächtige Russland muss wieder aufleben. Ihn beherrschen imperiale Gedanken. Deswegen betreibt er das Projekt der Sammlung von Territorien. Die Errichtung einer „neuen russischen Welt“ sieht er offensichtlich als seine wichtigste aktuelle Mission an. Für ihn ist der Zerfall der Sowjetunion, dieses furchtbaren, totalitären Systems, die größte Tragödie des 20. Jahrhunderts. Innerhalb seines Plans spielt die Ukraine zweifellos eine Schlüsselrolle. Ihm wäre am liebsten gewesen, wenn sich ein ukrainischer Präsident hätte finden lassen, der die ganze Ukraine unverzüglich und unmittelbar in die von Putin angezielte, so genannte Zollunion im euro-asiatischen Wirtschaftsraum überführt hätte. Das war sein Plan A. Aber einen solchen Präsidenten der Ukraine gab es und gibt es nicht. Deswegen geht es jetzt um die Verwirklichung von Plan B, der darin besteht, dass ein Teil des ukrainischen Territoriums okkupiert werden muss. In diesem okkupierten Teil, in dieser politischen Enklave muss dann eine Marionettenregierung eingesetzt werden, die zur Aufgabe hat, die politische Lage in der Ukraine zu destabilisieren und das Land dann Schritt für Schritt in den russischen Raum zu integrieren.
Nicht nur in Deutschland sagt man: Putin ist unberechenbar, man weiß nicht, was er wirklich will. Ich meine, er handelt immer noch nach dem psychologischen und politischen Schema des ehemaligen KGB-Spions in Dresden. Aber hat er einen Plan? Was ich jetzt von Ihnen gehört habe, ist, dass er eine Traum-Perspektive hat, die zur Alptraumperspektive für Ihr Land werden kann.
Putin ist einfach gestrickt und verbirgt keine politischen Rätsel in sich. Er hat sich fest eingebildet, dass der Eckpfeiler seiner politischen und geopolitischen Perspektive eine erfolgreiche, ruhige, stabile Ukraine in seinem Sinne sein muss. Sein Projekt der „neuen russischen Welt“ ist ohne die Ukraine unmöglich. Unmöglich ohne Ukraine ist eine freie Handelszone Weißrussland-Kasachstan-Russland. Unmöglich ohne Ukraine ist die Zoll-Vereinigung im euro-asiatischen Wirtschaftsraum. Weder Kirgistan noch Armenien können diesen Raum ausfüllen. Diesen Raum kann nur die Ukraine ausfüllen. Darum geht Putins gegenwärtiger Kampf um die Ukraine. Entweder wird dieser Kampf um die Integration der Ukraine in seinen Plan politisch für ihn entschieden oder er führt zu einem politischen Fiasko, wird zu einer Tragödie für die russische Politik und führt letztlich zum Zerfall des russischen Imperiums.
Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel hat vor und während ihres letzten Besuchs in der Ukraine im August 2014 die Frage der Dezentralisierung oder Föderalisierung des Landes ins Spiel gebracht. Ist das eine Lösung, eine nicht nur denkbare, sondern realisierbare Lösung? Oder ist diese Position nicht bestimmt von der seltsamen Angst der Europäer vor Putin? Mir scheint, dass Putin so frech und so unverschämt vorgehen kann, weil die meisten Westeuropäer eine panische Angst vor ihm und davor haben, ihr Wohlstand könnte konkret in Gefahr geraten.
Dem vereinten Europa mangelt es heute an geistiger Kraft. Viele Vorschläge, die jetzt für die Lösung der Krise gemacht werden, sind in der Tat unangemessen. Sie leisten keinen wirklichen Beitrag zur Regulierung der Situation. Föderal war die Ukraine nie. Und sie wird es nie sein. Apropos: die Föderalisierung ist einer der Punkte in Putins Plan. Wenn man ein Land zunichte machen will, in dem 73 Prozent der Bevölkerung zur Stammnation gehören, gibt es drei Wege: Der erste ist die Autonomisierung, wie es auf der Krim geschehen ist oder wie man das nun als Nächstes im Osten der Ukraine machen wollte und will: Eine „Ostukrainische Republik“ und dann „Noworossia“, „Neues Russland“, wie Putin es jetzt zu nennen beginnt. Das ist das Autonomisierungs-Szenario. Es ist nicht akzeptabel. Der zweite Punkt: Wenn es mit der Autonomisierung nicht klappt, muss das Zersplitterungsprojekt durch Föderalisierung verwirklicht werden. Föderalisierung ist der zweite Plan Putins zur Spaltung der Ukraine. Und wenn das nicht klappt, oder gleichzeitig damit, wird das dritte Spaltungsszenario gestartet: Russisch wird Staatssprache.
Jeder von diesen drei Hebeln ist ein Spaltungshebel. Putin hat schon vor einigen Monaten aufgezählt, welche Bedingungen aus seiner Sicht für einen Verhandlungsprozess nötig sind. Die erste: die Krim so anerkennen, wie sie heute ist. Das bedeutet die territoriale Spaltung der Ukraine anzuerkennen. Die zweite Bedingung: Föderalisierung der Ukraine, föderale Grenzen zu ziehen, welche wir nie hatten. Die dritte Bedingung: Russisch als Staatssprache einzuführen. Das heißt: die Sprache als Instrument der Spaltung einer Nation einzusetzen. Und die vierte Bedingung: der blockfreie Status der Ukraine. Damit sollen wir von der Welt isoliert werden, abgegrenzt vom kontinentalen Projekt einer Sicherheits- und Verteidigungspolitik.
Ich bin davon überzeugt, dass Putin heute verhandlungsunfähig ist. Sein Ziel ist nicht die Regelung des Konflikts. Er macht Manöver und benutzt die Umstände, diesen Konflikt zu modifizieren, auszubreiten, aufzuheizen. Dieser Prozess des Verhandelns im Sinne Putins beschert uns nur weitere Schwierigkeiten und gibt keine Antworten auf die tatsächlich bestehenden Probleme.
Ich empfinde die ganze Situation, wenn man die konkreten Menschen sieht und nicht nur die politischen Strukturen, als tragisch. Mich bedrückt es, dass hier keine Einigung zustande kommen kann. Das hat für allzu viele Menschen in Ihrem Land fürchterliche, auch persönliche und familiäre Konsequenzen. Wie sieht für Sie eine mögliche Lösung aus? Gibt es für Sie überhaupt eine Lösung in absehbarer Zeit?
Ich sage noch einmal: Es ist grundfalsch, diesen Konflikt als Innenkonflikt zu betrachten, als eine innere ukrainische Angelegenheit. Wir haben ein solches Problem nicht, obwohl wir die letzten 350 Jahre keinen eigenen Staat gehabt haben. Der Osten der Ukraine wurde vom russischen Imperium, die West-Ukraine von verschiedenen europäischen Imperien okkupiert. Klar, dadurch haben wir, als wir uns vor 23 Jahren zu einer ukrainischen Familie wiedervereinigt haben, eine Reihe von Problemen geerbt. Aber das sind Probleme, keine Konflikte. Das sind keine Widersprüche der Ukrainer mit Ukrainern. Es gibt einige Unterschiede, erworben während der jahrhundertlangen Okkupierungen von der einen oder der anderen Seite.
Wie diese Probleme aufzuheben sind? Sehr einfach! So, wie sie in Polen abgeschafft wurden, in Tschechien, in jeder beliebigen anderen europäischen Nation: Durch eine gesunde, geduldige, durchdachte Innenpolitik. Das steht absolut in den Kräften der Ukraine. Gebt uns eine Generation Zeit, und ihr werdet eine einheitliche, vereinigte, konsolidierte Ukraine sehen! Ich betone noch einmal: Es ist kein dumpfes Schicksal, das den gegenwärtigen Krieg verursacht hat. Wenn wir mit dieser Beschreibung, die den Prozess charakterisiert, nicht klar kommen und sie nicht annehmen, machen wir einen großen Fehler.
Es ist in der Tat Krieg – Putins Krieg mit Europa mittels der Ukraine. Wenn wir darüber reden, wie man sich gegen diesen Krieg wehren kann, müssen wir über einen gemeinsamen, konsolidierten Plan reden. Das ist kein nur ukrainisches Problem. Es ist ein globales Problem. Und es ist eine Aufgabe Europas und der ganzen Welt.