Eine unvermeidliche Beziehung: Bosnien und Herzegowina und die Europäische Union

Tobias Flessenkemper studierte Politikwissenschaften in Köln und ist zur Zeit als politischer Berater für die EU-Polizeimission in Bosnien und Herzegowina in Sarajevo tätig.

Zusammenfassung

Die verfehlte EG-Krisendiplomatie der Jahre 1991/1992 wirkt bis heute in den gemeinsamen Beziehungen nach. Trotz einer EU-Beitrittsperspektive und massiven EU-Engagements ist das Land noch nicht zu einem glaubwürdigen Beitrittskandidaten herangereift. Seit dem Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon scheint die EU die Integration des Landes entschlossener voranbringen zu wollen.

Eine gemeinsame Geschichte der Enttäuschungen

Die gescheiterten Vermittlungsversuche und das Versagen, Krieg und Vertreibung zu verhindern, haben die Glaubwürdigkeit der Europäischen Union (EU) in Bosnien und Herzegowina langfristig beschädigt; sie wird als politisch und militärisch schwach angesehen. Die EU hat mit ihrer Konditionalitätspolitik wiederholt vergeblich versucht, das Binnenverhältnis der drei Lager – also der konstituierenden Völker der Bosniaken, Serben und Kroaten – zu gestalten.1 Seit 1992 gelang es nicht, grundsätzliche Widersprüche aufzuheben; vielmehr wirkt die EU-Konditionalität eher konfliktverschärfend, wenn sie die Ziele eines der drei ethnonationalistischen Lager infrage stellt.2

Die Gründe für die Schwierigkeiten der EU, ihre Forderungen gegenüber Bosnien und Herzegowina durchzusetzen, sind vielfältig. Zum einen liegen sie in der Struktur Bosnien und Herzegowinas als komplexem Staatswesen. Die im Vertrag von Dayton geschaffenen Strukturen erlauben der lokalen Politik eine „Fortsetzung des Krieges“ durch gegenseitige Blockade. Zum anderen leidet die EU-Politik unter dem Fehlen einer von allen Mitgliedsstaaten geteilten Analyse der Konsequenzen des Zerfalls Jugoslawiens, was zu diffusen Positionen innerhalb der EU führt.3 Letztlich hat diese Politik wesentlich zur heutigen Verfassungsrealität beigetragen. Xavier Bougarel merkt dazu an: „Die Europäische Gemeinschaft ignorierte die kommunitaritische Strukturierung der bosnischen Gesellschaft oder reduzierte sie auf nationalistische Parteien und territoriale Aufteilung. So trug (sie) … dazu bei, den ohnehin eingeengten Raum für eine Einigung innerhalb der bosnischen Gesellschaft weiter einzuengen, und stieß die bosnische Gesellschaft in den Krieg.“4

Als Institution sollte die EU bis zum Ende des Krieges 1995 keine führende Rolle mehr spielen; einzige Ausnahme war die EU-Verwaltung der Stadt Mostar (1994-1996). Einzelne Mitgliedsstaaten wie Großbritannien, Frankreich oder die Niederlande übernahmen hingegen wichtige diplomatische und militärische Rollen im Rahmen der Vereinten Nationen. Das Versagen der Union lag darin, dass sie weder das Verständnis, die Kreativität noch die Einigkeit hatte, die zerstörerische Dynamik zu stoppen oder umzukehren. So wurde Bosnien und Herzegowina zum „Experimentierfeld“ der „Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik“ (GASP) und der heutigen „Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik“ (GSVP).

Europäische Integration als Perspektive

Mit der offiziellen EU-Perspektive ab 2000 wurde aus dem „state-building“ der Nachkriegszeit das „member-state-building“, also der Aufbau eines zukünftigen EU-Mitglieds. 2002 wurden ein Europäischer Sonderbeauftragter und 2003 eine Europäische Polizeimission (EUPM) entsandt. Eine EU-Sicherheitsstrategie für Bosnien und Herzegowina wurde im Vorfeld der Entsendung von 6.000 Soldaten der EU-Truppe (EUFOR) verabschiedet. Zusammen mit der Delegation der Europäischen Kommission in Sarajevo und der lokalen EU-Präsidentschaft waren damit sechs EU-Akteure ab 2004 beauftragt, den Weg des Landes in die EU zu begleiten – kein anderes Land hat jemals diese Aufmerksamkeit erhalten.5 2004 hat die EU bewiesen, dass Erweiterung kein leeres Versprechen war. So entfaltete sich auch in Bosnien und Herzegowina Optimismus. Aber trotz des massiven Einsatzes finanzieller, personeller und militärischer Instrumente blieb die EU-Integration des Landes stecken, denn zehn Jahre nach Kriegsende war der Vorrang des Wiederaufbaus von Grundsatzfragen der Verfassungsordnung wieder eingeholt worden. Die Auflösung der Bundesrepublik Jugoslawien sowie die Unabhängigkeit Montenegros 2006 und Kosovos 2008 beflügelten eine sezessionistische Rhetorik des Ministerpräsidenten der Republika Srpska, Milorad Dodik – Haris Silajdzic, zukünftiges bosniakisches Mitglied des Staatspräsidiums, hingegen forderte eine Zentralisierung des Landes. Nach dem Scheitern des von den USA vermittelten Verfassungsreformpakets im April 2006 war die optimistische Stimmung, die noch kurz zuvor herrschte, dahin.

Die EU blieb gegenüber dem Phänomen des Ethnonationalismus ambivalent, d. h. sie schwankte zwischen einer Unterstützung des Gesamtstaates und einem Einlenken gegenüber den Positionen der Republika Srpska. Die Krise um die europäische Verfassung 2005 und die „Erweiterungsmüdigkeit“ nach dem Beitritt Bulgariens und Rumäniens 2007 minderten zusätzlich den Einfluss der EU in der Region.

Eine Ausnahme bildete der von 2008 bis 2010 geführte Visa-Dialog mit dem Ziel der Abschaffung der Visapflicht, ein konkretes Ziel und zugleich ein sehnlicher Wunsch der Bevölkerung. Spätestens nach der Erweiterung des Schengenraumes 2007 waren für die Bewohner von Bosnien und Herzegowina fast alle Reisen in Europa der Visapflicht unterworfen. Dies erschwerte den ohnehin schwierigen und teuren Austausch und führte zu einem Gefühl der Isolation. Seit Dezember 2010 können die Bürger Bosnien und Herzegowinas nun wieder ohne Visumsbeschränkungen als Touristen in die EU reisen.6 Das Ende der Visumspflicht ist somit ein Schritt in Richtung Normalisierung, denn die Einschränkung der Reisefreiheit diente auch zur Steuerung kriegsbedingter Flüchtlingsprobleme.

Krise und Aufbruch: ein neuer EU-Ansatz?

Ende 2010 ratifizierten zwar alle 27 EU-Mitgliedsstaaten das Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen mit Bosnien und Herzegowina, waren aber nicht bereit, es in Kraft zu setzen, weil Bosnien und Herzegowina noch nicht zu einem glaubwürdigen Kandidaten für Mitgliedschaft herangereift war. Fortschritte bei den schwierigen politischen Kriterien waren nicht zu verzeichnen, trotz bzw. vielleicht auch wegen der Vielzahl der EU-Akteure vor Ort.

Nach den Wahlen in Bosnien und Herzegowina im Oktober 2010 zeichnete sich ab, dass die Bildung einer Regierung auf staatlicher Ebene erneut schwierig sein würde: Zu weit lagen die Vorstellungen der stärksten Parteien auseinander. Die Widersprüche lagen nicht eigentlich in substanziellen politischen Fragen, sondern im Konflikt um die Verteilung von Macht und Einfluss, also in den Strukturproblemen der Verfassung von Dayton. Milorad Dodik, nun Präsident der Republika Srpska, führte die auf eine Autonomie gerichtete Politik konsequent fort. Die Lage drohte im Frühjahr 2011 mit der Ankündigung eines Referendums des serbischen Teilstaats über die Legitimität staatlicher Institutionen zu eskalieren. Die EU vermittelte daraufhin einen Kompromiss, der allerdings die Republika Srpska zum direkten Gesprächspartner der EU aufwertete; bis dahin hatte die EU stets darauf bestanden, gesamtstaatliche Institutionen zu stärken.

Wie sich die extremen Positionen der Politiker allerdings mit einer EU-Integration vertragen, bleibt unklar. Viele Beobachter wollen darin vor allem Selbstnutz und Selbstschutz erkennen; ein funktionierender Rechtsstaat, wie von der EU gefordert, mag nicht im Interesse der Protagonisten liegen, und diese Haltung wird hinter nationalistischer Rhetorik versteckt. Immerhin ist die polizeiliche und rechtsstaatliche Kooperation inzwischen zu einem wichtigen Pfeiler der EU-Integration herangereift.

Der Weg zur Mitgliedschaftsbewerbung

Jüngster Schritt auf diesem Weg sind die Forderungen, die die EU-Außenminister im März 2011 aufgestellt haben, um Bosnien und Herzegowina auf dem europäischen Gleis zu halten. Neben dem Aufruf zur Bildung einer gesamtstaatlichen Regierung sind drei Forderungen zu erfüllen, damit sich das Land glaubhaft um die EU-Mitgliedschaft bewerben kann. Zwei davon sind Selbstverständlichkeiten, sie beziehen sich auf die Erfüllung des schon ratifizierten Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommens. Dabei handelt es sich um einen völkerrechtlichen Vertrag, der nach dem Grundsatz pacta sunt servanda zu respektieren ist. Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in der Sache Finci/Sejdić7 bedeutet allerdings, dass Artikel 2 dieses Abkommens nicht erfüllt ist. Gerade weil das Urteil heikle verfassungsrechtliche Fragen aufwirft, verlangt die EU, dass ernsthafte Schritte zur Lösung dieses Problems unternommen werden müssen.

Die zweite Forderung betrifft die Grundlagen der wirtschaftlichen Integration: die Kontrolle von staatlichen Beihilfen (Subventionen). Der EU-Binnenmarkt, dem das Land graduell betritt, basiert auf einem allgemeinen Beihilfeverbot. Ausnahmen müssen überwacht und genehmigt werden. Somit ist eine Aufsichtsbehörde notwendig, die verhindert, dass z. B. Entitätsregierungen durch Subventionen an einheimische Unternehmen unfaire Marktbedingungen herstellen. Nun trifft aber die Forderung nach einer Beihilfeaufsicht den Nerv des politischen Klientelismus. In Bosnien und Herzegowina befinden sich große Teile der Wirtschaft noch immer in der öffentlichen Hand, und Politiker sind häufig in der Lage, Unternehmen bei der Auftragsvergabe zu bevorzugen. Im Gegenzug sind öffentliche Unternehmen eine Versorgungseinrichtung für die eigene Klientel. Hier mehr Transparenz zu schaffen, ist politisch schmerzhaft, aber eine unbedingt notwendige Reform für ein potenzielles EU-Mitglied.

Der dritte Punkt betrifft die Durchführung eines Bevölkerungs- und Haushaltszensus. Der letzte Zensus wurde im Jahre 1991 durchgeführt, die damals erhobenen Daten sind obsolet. Der Krieg hat zu massiven Umwälzungen in der Bevölkerungs- und Siedlungsstruktur geführt. Selbst die Gesamtbevölkerungszahl des Landes beruht auf Schätzungen. Aussagekräftige Daten werden jedoch zur Planung von Infrastrukturvorhaben, zur Errechnung des Schlüssels für zukünftige EU-Leistungen, für Wirtschaft und Verwaltung im Allgemeinen benötigt.

Technisch ist die Durchführung des Zensus kein Problem – das Problem liegt im Politischen. Soll auch die Volksgruppenzugehörigkeit der Bürger erhoben werden? Wenn ja, was soll mit diesen Daten geschehen? Zurzeit werden die meisten Ämter aufgrund des ethnischen Schlüssels von 1991 vergeben. Wie lange kann dieser noch Bestand haben, wenn man feststellt, dass sich die Bevölkerungszusammensetzung in vielen Gebietskörperschaften als Folge des Krieges radikal verändert hat? Die EU-Verordnung zum Zensusjahr 2011 verlangt keine Fragen nach Ethnizität. Ein einfacher Zensus könnte also durchgeführt werden. Dennoch hat sich die örtliche Politik an der Volksgruppenfrage verbissen, wobei verschiedene Motivationen im Spiel sind, die den Konfliktlinien der Lager seit 1991 entsprechen: Wieviel Autonomie für die serbische Teilrepublik, welcher Platz für die kroatische Volksgruppe, und wie soll die Balance zwischen Gruppen- und individuellen Rechten gestaltet werden? So ist das Land 2011 wieder an die Grundsatzfragen seiner Staatlichkeit zurückgelangt, wo es vor zwanzig Jahren stand.

Die EU reift zum Akteur

Diese Problemfelder umreißen das Kernproblem der Krise im Lande, die zu einem Stillstand der politischen EU-Integration geführt hat. In diesem Zusammenhang muss auch die Rolle und Funktion des Hohen Repräsentanten betrachtet werden. Schon mit der Amtsübernahme des Deutschen Christian Schwarz-Schilling Anfang 2006 war der Plan verbunden, das Büro des Hohen Repräsentanten (Office of the High Representative, OHR) in eine starke EU-Präsenz zu überführen, weil die Meinung vorherrschte, das Vorhandensein eines mit weitreichenden Vollmachten8 ausgestatteten Hohen Repräsentanten ließe sich nicht mit der angestrebten EU-Mitgliedschaft vereinbaren. Insbesondere sollten die für die EU-Integration notwendigen Reformen von der bosnischen Politik selbst beschlossen werden; eine Oktroyierung über die „Bonner Befugnisse“ wäre ein Beweis für die Unreife des Landes. Der letzte Verfassungsreformversuch sollte dann die Voraussetzung für die Schließung des OHR schaffen, doch war der notwendige Minimalkonsens der örtlichen Akteure dafür nicht vorhanden. Das bosniakische Lager sieht den OHR als Garantie für den Fortbestand des Staates an und war deshalb nicht bereit, auf die Institution zu verzichten. Die Republika Srpska wiederum weigerte sich, über eine neue Kompetenzverteilung zwischen Gesamtstaat und Entitäten als Grundlage einer Verfassungsreform zu diskutieren.

Die Verflechtung der EU-Integration mit der Zukunft des OHR führte dazu, dass die EU den Integrationsfortschritt nicht mehr autonom bestimmen konnte. Das Mandat zur Abschaffung des OHR liegt zwar in den Händen einzelner EU-Mitgliedsstaaten, daneben aber auch bei den Partnern Russland, Türkei und USA. Deutschland, Frankreich und Italien drängten daher auf eine „Entkopplung“ des Hohen Repräsentanten von der Funktion des EU-Sonderbeauftragten. Dieser „Doppelhut“ des EU- Sonderbeauftragten wurde 2002 als Übergangskonstruktion eingeführt, ist inzwischen zu einer dauerhaften Institution und zugleich zur Belastung für die EU-Integration geworden. 2010 wurde die Entkopplung mit Hochdruck verfolgt. Die Europäische Kommission stufte die Abschaffung des OHR zu einer „internationalen Verpflichtung“ herab, deren Erfüllung noch ausstehe. Der Kommissionsbericht stellt lakonisch fest, dass das Regierungssystem eine „internationale Präsenz“ beinhalte – damit wurde das Thema „OHR“ entschärft.

Im September 2011 konnte die Entkopplung schließlich auch personell vollzogen werden. Der Däne Peter Sörensen leitet seither als EU-Sonderbeauftragter in Personalunion die Delegation der EU, während der Österreicher Valentin Inzko als Hoher Repräsentant weiter im Amt bleibt. Die EU-Polizeimission und EUFOR rücken in den Hintergrund.9 Nach knapp zehn Jahren gibt es nun einen „alleinigen Vertreter der EU in Bosnien und Herzegowina, der eine Führungsrolle bei der Unterstützung des Landes in EU-bezogenen Angelegenheiten übernehmen wird“ (Rat der EU-Außenminister).

Ausblick

Im Juli 2011 wurde beschlossen, dass Kroatien die Bedingung erfüllt hat, EU-Mitglied zu werden; als Beitrittstermin ist Juli 2013 anvisiert. Damit hat die EU gezeigt, dass die Staaten des westlichen Balkans eine reale Perspektive auf Beitritt haben. Dies gilt auch für Bosnien und Herzegowina. Aber das Überspringen der ersten Hürde zur Mitgliedschaft, die Zuerkennung des Kandidatenstatus, ist eine fundamental politische Entscheidung der Mitgliedsstaaten. Sie setzt voraus, dass ein Mindestmaß an Vertrauen herrscht; von der EU in die und – vor Ort – zwischen den bosnisch-herzegowinischen Eliten. Solange die Forderungen der EU-Außenminister vom März 2011 nicht erfüllt werden, kann kaum Vertrauen entstehen. Aber selbst wenn dies geschieht, werden wahrscheinlich nur Formelkompromisse geschnürt und nach Brüssel geschickt werden.

Dieses Dilemma ist beiden Seiten bekannt, denn für die EU und Bosnien und Herzegowina ist die Integration „unvermeidlich“. Aus Prestigegründen kann sich die EU kaum ein Scheitern einer ihrer wenigen erfolgreichen Außenpolitiken, also der Erweiterung, leisten. Auf der anderen Seite gibt es ebenfalls keine andere Perspektive als den Beitritt. Dennoch ist es noch nicht gelungen, die politischen Eliten zu einer Überwindung ihrer Politik der Teilung und Verteilung von Macht zu bewegen. Ein qualitativer Schritt Richtung Gemeinsamkeit und geteilter Souveränität im Sinne des EU-Modells könnte ihre jahrelang eingeübte Rhetorik Lügen strafen und die Mechanismen ihres Machterhalts untergraben. Die europäische Perspektive verspricht (noch) zu wenig Gewinn, um einen grundsätzlichen Politikwechsel einzuleiten.

So bleibt der EU nur die Möglichkeit, jegliche Fortschritte – und seien sie noch so formelhaft – als Erfüllung ihrer Konditionalität mit einem weiteren Integrationsschritt zu „belohnen“. Die EU-gesteuerten Prozesse halten zurzeit die Eliten zusammen, indem sie die zentrifugalen Kräfte, vor allem die der Republika Srpska, zumindest parziell einbinden. Daher wird erwartet, dass Bosnien und Herzegowina bis 2012 einen Antrag auf Mitgliedschaft stellen wird. Das weitere EU-Verfahren könnte dann die Aufmerksamkeit für eine Weile von den politischen zu den bürokratischen Kriterien verschieben.

Die Notwendigkeit einer Verfassungsreform wird jedoch weiterhin im Raum stehen. Angesichts einer zukünftigen Mitgliedschaft Kroatiens wird die Zeit knapp. Wenn bis 2013 kein Fortschritt zu verzeichnen ist, könnte Kroatien die EU direkt für die Lösung der „kroatischen Frage“ in Bosnien und Herzegowina – also der Forderung nach mehr kroatischer Souveränität einschließlich einer möglichen dritten Entität – haftbar machen. Dann wäre nach Zypern ein weiterer Konflikt in die EU importiert worden. Um dies verhindern, sollte die Verfassungsreform die wichtigste Prioriät der EU im Jahre 2012 werden. Die EU müsste ihre Scheu, klare Vorgaben für die Kompetenzverteilung im Lande zu machen, überwinden. Dies wäre zwar Neuland, aber jede EU-Erweiterung ist Neuland, und niemals zuvor wurde mit einem so stark konföderativ organisierten Gemeinwesen ein Beitritt verhandelt. Für eine stärker gestaltende Rolle gibt es auch eine historisch-politische Verantwortung, nicht zuletzt deshalb, weil die EU zur heutigen Verfassungsrealität beigetragen hat.10

In diesem Prozess wird die Bürgergesellschaft eine wachsende Rolle spielen müssen. Nach über zwanzig Jahren ist der Platz der Bürger Bosnien und Herzegowinas zwischen der Ideologie der konstituierenden Völker und dem damit einhergehenden Klientelismus praktisch verschwunden. Das politische System ist mit zahllosen unbewältigten und verfestigten Strukturproblemen konfrontiert, die durch den Opportunismus der politischen Eliten und weiter Kreise der Bevölkerung verschärft werden. Um hier Erleichterung und Öffnung zu schaffen, ist jeder Annäherungsschritt an die EU notwendig, wie die Visabefreiung als konkrete Verbesserung für die Bürger gezeigt hat.

Die europäische Integration Bosnien und Herzegowinas und seiner Nachbarn kann jedoch nur gelingen, wenn an die Stelle von „too much memory, too little history“ (Slavenka Drakulić) eine fundierte, offene Diskussion über die Vergangenheit tritt, die um Lösungen und „Versöhnung“ ringt. Gefordert ist eine sowohl nationale als auch regionale Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, die auch nicht vor der Analyse des eigenen kollektiven und individuellen Versagens zurückscheut. Dies gilt ebenfalls für die EU, ihre Mitgliedsstaaten und deren Mitverantwortung für die Krise Bosnien und Herzegowinas.


Fußnoten:


  1. Der Begriff „Konditionalität“ stammt aus der Entwicklungszusammenarbeit und bindet Hilfe an die Erfüllung von Bedingungen, die das politische Verhalten der Empfängerstaaten ändern sollen. Die EU wendet weitreichende politische Konditionalität auch gegenüber Beitrittskandidaten an, an erster Stelle die Forderungen nach Menschenrechtsschutz, demokratischen und rechtstaatlichen Institutionen und Einführung der Marktwirtschaft. ↩︎

  2. Zur Diskussion um den Begriff „Ethnonationalismus“ vgl. Vedran Džihić: Ethnopolitik in Bosnien-Herzegowina: Staat und Gesellschaft in der Krise (Southeast European Integration Perspectives, Bd. 2). Baden-Baden 2010. ↩︎

  3. Exemplarisch dafür: Kosovo wird von 22 der 27 Mitgliedsstaaten anerkannt. ↩︎

  4. Xavier Bougarel: Bosnie, anatomie d’un conflit. Paris 1996. Zitiert bei: Džihić (wie Anm. 2), S. 148. ↩︎

  5. Die Europäische Beobachtermission (European Union Monitoring Mission) versorgte Brüssel und die Mitgliedsstaaten von 1991 bis 2007 mit Analysen der Lage vor Ort und in der gesamten Region. ↩︎

  6. Dies gilt für alle EU-Mitgliedsstaaten außer Großbritannien und Irland, außerdem für die Nicht-EU-Mitglieder Island, Norwegen und die Schweiz. ↩︎

  7. Vgl. Saša Gavrić, Verfassungsreform, in vorliegendem Heft, besonders S. 261 f. (der gedruckten Ausgabe). ↩︎

  8. Für diese Vollmachten hat sich der Begriff „Bonner Befugnisse“ (Bonn Powers) eingebürgert, da sie auf einer Konferenz in Bonn im Dezember 1997 beschlossen wurden (Anm. d. Redaktion). ↩︎

  9. Die Militäroperation EUFOR-Althea wird unter Rückgriff auf NATO-Strukturen militärisch geführt. Die politische Aufsicht liegt bei der EU. Ohne eine enge Abstimmung mit den NATO-Partnern Türkei und USA kann die EU über den Einsatz der Truppe allerdings nicht entscheiden. ↩︎

  10. Vgl. Christian Schwarz-Schilling: Wer ergreift endlich die Initiative? In: Erich Rathfelder/Carl Bethke (Hrsg.): Bosnien im Fokus. Die zweite politische Herausforderung des Christian Schwarz-Schilling. Berlin, Tübingen 2010, S. 399-406. ↩︎