Die EUREGIO EGRENSIS – 20 Jahre Zusammenarbeit über Grenzen hinweg

aus OWEP 4/2012  •  von Birgit Seelbinder

Dr. Birgit Seelbinder ist Oberbürgermeisterin der Stadt Marktredwitz und Präsidentin der EUREGIO EGRENSIS Arbeitsgemeinschaft Bayern e. V.

Zusammenfassung

Wenn Länder über Jahrzehnte hinweg voneinander fast völlig getrennt waren, dann muss eine Annäherung zwischen ihnen behutsam und Schritt für Schritt erfolgen. Dies gilt insbesondere für das historisch belastete Verhältnis zwischen Deutschland und Tschechien. Eine wesentliche Rolle im Begegnungsprozess kommt den mit dem Namen „Euregio“ bezeichneten grenzüberschreitenden Arbeitsgemeinschaften zu, wie im Folgenden anhand eines markanten Beispiels deutlich wird.


Die Schreibweise "EUREGIO EGRENSIS" ist die offiziell verwendete Form; vgl. z. B. http://www.euregio-egrensis.de/home.htm (letzter Aufruf: 07.12.2015).

Der Weg hin zur EUREGIO EGRENSIS

Mit dem Fall des Eisernen Vorhangs im Jahr 1989 ist die bayerisch- sächsisch/thüringisch-tschechische Grenzregion wieder ins Herz Europas gerückt. Die „neuen“ Nachbarn äußerten bereits 1989 ihr Interesse an einer engen grenzüberschreitenden Zusammenarbeit. Zuerst sollte mit Kreisen aus Sachsen und Thüringen eine „Region Europa Mitte“ geschaffen werden (1989), später ab Mitte 1990 auch mit Kreisen aus der damaligen Tschechoslowakei. Schließlich entstand auf einer Konferenz in Marktredwitz die Idee, eine Euregio, d. h. eine Koordinierungs- und Informationsstelle für grenzüberschreitende Zusammenarbeit, zu gründen. Vorbild war die bereits 1958 gegründete EUREGIO im deutsch-niederländischen Grenzraum.

Bereits 1991 wurden in Anwesenheit von Außenminister Jiří Dienstbier und Ministerpräsident Petr Pithart in Böhmen und Bayern Kontaktbüros eingerichtet. Am 27. Januar 1992 wurde die EUREGIO EGRENSIS Arbeitsgemeinschaft Bayern e. V. gegründet, am 18. März 1992 die Arbeitsgemeinschaft Vogtland/Westerzgebirge e. V. (jetzt Arbeitsgemeinschaft Sachsen/Thüringen e. V.). Am 3. Februar 1993 schlossen die drei Arbeitsgemeinschaften eine gemeinsame Vereinbarung ab. Thüringen trat im selben Jahr der sächsischen Arbeitsgemeinschaft bei.

Genau in die Gründungsphase der EUREGIO EGRENSIS im Jahr 1992 fällt auch die Unterzeichnung des damaligen Deutsch-Tschechoslowakischen Nachbarschaftsvertrags. Die EUREGIO EGRENSIS nimmt in ihrer Satzung und in der gemeinsamen Vereinbarung auf die Entwicklung gutnachbarschaftlicher Beziehungen und damit auf das Leitmotiv des Vertrags Bezug. Mittlerweile kann die EUREGIO EGRENSIS ebenso wie der Nachbarschaftsvertrag auf 20 Jahre ihres Bestehens zurückblicken. Sie dient seit ihrer Gründung als wichtiges Forum für kommunale und regionale Verwaltungen, Vereine und Bürger aus Böhmen, Sachsen, Thüringen und Bayern und entwickelte sich stetig weiter. Im Auftrag ihrer Mitglieder setzt sie grenzüberschreitende deutsch-tschechische Projekte um und vermittelt Kontakte zwischen deutschen und tschechischen Bürgern, Vereinen und Behörden.

Organisation und Struktur

Die EUREGIO EGRENSIS umfasst heute auf bayerischer Seite neun Landkreise und vier kreisfreie Städte in Oberfranken und der nördlichen Oberpfalz.1 Auf tschechischer Seite gehören die Region Karlsbad und ein Teil der Region Pilsen dazu. Zur Arbeitsgemeinschaft Sachsen/Thüringen zählen der Vogtlandkreis, Teile des Erzgebirgskreises sowie der Saale-Orla-Kreis und der Landkreis Greiz. Das Gesamtgebiet erstreckt sich auf rund 17.000 Quadratkilometer und etwa zwei Millionen Einwohner.

Skizze der zur EUREGIO EGRENSIS gehörenden Gebiete – Eine detaillierte farbige Karte findet sich unter http://www.euregio-egrensis.de/ueber-uns.htm

Die drei Arbeitsgemeinschaften, die Anfang der neunziger Jahre gegründet wurden, bilden bis heute die Grundstruktur der EUREGIO EGRENSIS. In Deutschland sind diese als eingetragene gemeinnützige Vereine organisiert, auf böhmischer Seite fungiert ein Kommunalverband als Partner. Jede der drei Arbeitsgemeinschaften hat ein eigenes Präsidium (= Vorstand) sowie eine Geschäftsstelle mit hauptamtlichem Geschäftsführer und weiteren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Die Leitlinien für die Arbeit der Gesamt-Euregio gibt seit 1993 das Gemeinsame Präsidium vor. In das Gemeinsame Präsidium entsenden alle drei Gebiete Vertreter. Ein Repräsentant aus einer der drei Regionen wird für zwei Jahre zum Vorsitzenden des Gemeinsamen Präsidiums der EUREGIO EGRENSIS gewählt. Das Gemeinsame Präsidium tauscht sich über die Entwicklungen in den Teilregionen aus und diskutiert über gemeinsame Anliegen und Projekte.

Aufbau von Begegnungen und Entwicklung von Kulturprojekten

Nach der politischen Wende Anfang der neunziger Jahre wurden von der EUREGIO EGRENSIS zunächst Begegnungen zwischen Jugendlichen und Schülern initiiert und deutsch-tschechische Kulturprojekte auf den Weg gebracht. Besonders symbolträchtig ist das seit 1992 jährlich durchgeführte Jugendsommerlager. Jeweils 15 Jugendliche aus dem böhmischen, sächsisch-thüringischen und bayerischen Teil der EUREGIO EGRENSIS verbringen gemeinsam eine Ferienwoche. Um das trennende Element der Sprache zu überwinden, erhalten die Jugendlichen einen ersten Einstieg in die Sprache des Nachbarn. Gleichzeitig lernen die Jugendlichen bei verschiedenen Aktionen, mit interkulturellen Unterschieden umzugehen.

Wie wichtig die Kultur im grenzüberschreitenden Kontext ist, zeigt außerdem eindrucksvoll das „Festival Mitte Europa“, das seit 1991 jährlich in Sachsen, Bayern, Tschechien und in Thüringen hochkarätige Künstler allen Bürgern zugänglich macht und den europäischen Gedanken mit Leben füllt.2

Das umfangreichste Projekt der EUREGIO EGRENSIS wurde im Schuljahr 1996/97 ins Leben gerufen. Seitdem führt die EUREGIO EGRENSIS das bayerisch-tschechische Gastschuljahr durch. Jährlich besuchen ca. 25 tschechische Schüler ein Schuljahr lang ein bayerisches Gymnasium im Euregio-Gebiet. Die Gastschüler lernen das Leben in Bayern kennen und verbessern ihre Deutschkenntnisse. Mit Hilfe von Projekttagen, an denen sich die deutschen Schüler verstärkt mit dem Nachbarland Tschechien beschäftigen, sollen künftig mehr deutsche Schüler für Kurzaufenthalte an tschechischen Gymnasien motiviert werden. Unterstützt wird dieses erfolgreiche Projekt unter anderem von der Bayerischen Staatskanzlei und dem Deutsch-Tschechischen Zukunftsfonds.

Die EUREGIO EGRENSIS ist aber auch Namenspatron des so genannten Euregionalen Kirchentags. Das ist ein seit 1992 in unregelmäßigen Abständen stattfindendes Treffen von Christen aus Böhmen, Bayern, Sachsen und Thüringen. Besonders eindrucksvoll war der Euregionale Kirchentag im Jahr 2006 unter dem Motto „... und dazwischen wächst Vertrauen“ mit mehr als 4.000 Teilnehmern. Das Besondere daran war, dass der Kirchentag im Zusammenhang mit der grenzüberschreitenden Gartenschau Marktredwitz- Cheb/Eger stand und deren Abschluss bildete. Auf dem Gartenschaugelände in Marktredwitz wurde eigens eine Kapelle aus Holz errichtet. In der Tradition der Euregionalen Kirchentage stehen auch die bayerisch-tschechischen Kinderkirchentage, die seit 2009 in Marktredwitz jährlich mit über 500 Kindern stattfinden.

Zahlreiche Kindergärten in kirchlicher Trägerschaft engagieren sich darüber hinaus seit Jahren sehr stark in deutsch-tschechischen Projekten. Als besonders erwähnenswert gilt der Evangelische Kindergarten Schirnding, in dem seit 2001 deutsche und tschechische Kinder täglich gemeinsam betreut werden. Neben den Kindern, die unbeschwert die Nachbarsprache lernen, findet darüber hinaus auch ein reger Austausch zwischen den Erzieherinnen und den Eltern statt. Der Evangelische Kindergarten Schirnding, die Euregionalen Kirchentage, das Gastschuljahr und zahlreiche weitere Projekte sind seit Gründung der EUREGIO EGRENSIS gestartet worden und bilden herausragende Beispiele dafür, dass gute grenzüberschreitende Jugend- und Kulturprojekte die künftige Entwicklung der Grenzregion positiv beeinflussen können.

Entwicklungen seit 2004 – Beitritt der Tschechischen Republik zur Europäischen Union

Der EU-Beitritt der Tschechischen Republik am 1. Mai 2004 war eine bedeutungsvolle politische Etappe, auf die sich die Region lange Zeit vorbereitet hatte. Aus Sicht der tschechischen Partner wurde die europäische Integration jedoch erst mit dem Beitritt Tschechiens zum Schengener Abkommen am 21. Dezember 2007 endgültig vollzogen, denn damit verschwanden die sichtbare Grenze und die Personenkontrollen.

Die erste gemeinsame Gartenschau Marktredwitz-Cheb/Eger im Jahr 2006 nutzte diese Entwicklungen. Als bundesweit erste grenzüberschreitende Gartenschau mit einem östlichen Anrainerstaat wurde das Projekt zum sichtbaren Symbol der EU-Erweiterung. Marktredwitz und Cheb/Eger konnten in kurzer Zeit ihre Stadtentwicklung vorantreiben, Brachflächen wieder nutzbar machen, die Innenstädte beleben und Erholungsräume schaffen. Insgesamt besuchten 750.000 Gäste diese grenzüberschreitende Gartenschau. Ein Erfolg war, dass viele deutsche Gäste erstmals mit dem Besuch des tschechischen Teils der Gartenschau in Cheb/Eger überhaupt im Nachbarland waren. Das gleiche galt für tschechische Gäste in Marktredwitz. Dazu beigetragen hat auch das grenzüberschreitende Nahverkehrssystem EgroNet, das die Besucher der grenzüberschreitenden Gartenschau kostengünstig und schnell in die beiden Gartenschaustädte brachte.

Verbesserung der Sprachkenntnisse

Kenntnisse in der Sprache des Nachbarlandes sind in ganz Europa wichtig und werden auch in Grenzregionen besonders gefördert. Die EUREGIO EGRENSIS startete deshalb im November 2005 eine Sprachoffensive mit dem Ziel, die interkulturelle Kompetenz im Euregio-Gebiet zu erhöhen. Die EUREGIO EGRENSIS bietet z. B. Aktionstage an Schulen in der Region an, bei denen Schüler spielerisch mit einer so genannten „Sprachanimation“ einige Worte Tschechisch lernen. Dadurch soll das Interesse von Eltern und Schülern für den Tschechisch-Unterricht an den Schulen erhöht werden.

Erfreulicherweise wird das Engagement in der Grenzregion auch durch die Initiativen des bayerischen Kultusministeriums unterstützt. 2011 hat das Kultusministerium mit dem tschechischen Schulministerium erstmals eine Kooperationsvereinbarung über die Förderung des Tschechischunterrichts abgeschlossen. Mittlerweile hat sich insbesondere an Realschulen in der Oberpfalz Tschechisch als Wahlfach etabliert und wird nahezu flächendeckend angeboten.

In den vergangenen Jahren hat die EUREGIO EGRENSIS darüber hinaus versucht, die Tschechisch-Sprachkenntnisse bei Erwachsenen zu verbessern. Ein Beispiel ist die Verbesserung der Sprachkompetenz bei den grenznahen Feuerwehren. Da die Feuerwehren entlang der gemeinsamen Grenze immer engeren Kontakt unterhalten und zum Teil auch gegenseitige Hilfe leisten, wurde ein deutsch-tschechisches „Praxiswörterbuch für die Feuerwehr“ herausgegeben. Bei der Erstellung arbeiteten Vertreter der Regierungen der Oberpfalz und Oberfrankens sowie Feuerwehrführungskräfte aus Bayern und Tschechien zusammen. Heute hat nun jedes Feuerwehrfahrzeug in den an Tschechien angrenzenden Gemeinden im Euregio-Gebiet dieses Wörterbuch an Bord. Verschiedene Feuerwehren führten auch Tschechisch-Sprachkurse in Kooperation mit der EUREGIO EGRENSIS durch.

Liberalisierung des EU-Arbeitsmarktes 2011

Der nächste wichtige Schritt auf dem Weg zu einem gemeinsamen Arbeits- und Lebensraum in der Grenzregion war dann die Liberalisierung des EU-Arbeitsmarktes am 1. Mai 2011. Seitdem hat sich die Arbeitsaufnahme für tschechische Arbeitnehmer in Deutschland, aber auch für deutsche Arbeitnehmer in Tschechien erheblich vereinfacht. Viele Formalitäten sind weggefallen. Im Grenzraum sind bisher vor allem im Gesundheits- und Pflegebereich sowie in der Gastronomie tschechische Arbeitskräfte anzutreffen. Die vielfach zitierten negativen Folgen für den regionalen Arbeitsmarkt sind insgesamt gesehen nicht eingetreten.

Zukunft

Nach zwanzig Jahren der Annährung rücken nun zunehmend Sachthemen in den Fokus, die aufgrund der unterschiedlichen nationalen Systeme erst langfristig und mit nationaler Unterstützung erfolgreich bearbeitet werden können. Die Anregung für gerade diese Themen liefern interessierte Bürger und Kommunalpolitiker.

Eines dieser Anliegen ist die Verbesserung der deutsch-tschechischen Zusammenarbeit im Rettungswesen. Denn trotz des EU-Beitritts der Tschechischen Republik 2004 ist die Zusammenarbeit im Gesundheitssektor noch wenig entwickelt. Hintergrund ist derzeit u. a. ein noch fehlendes Rahmenabkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Tschechischen Republik im Bereich des Rettungsdienstes. Die Verhandlungen hierzu laufen, Entwürfe wurden zwischen den verantwortlichen Stellen bereits ausgetauscht. Das Abkommen soll spätestens im nächsten Jahr unterzeichnet werden.

Da bei den Politikern vor Ort, bei den Kliniken und auch bei weiteren Experten kaum Kenntnisse über die Gesundheitssysteme im jeweiligen Nachbarland vorhanden waren, hat die EUREGIO EGRENSIS mit europäischen Fördermitteln ein Gutachten in Auftrag gegeben. Diese Studie wurde 2011 fertiggestellt und zeigt die Hindernisse in der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in der Notfallrettung und der stationären Versorgung auf. Zukünftig sollen nun die Möglichkeiten einer engeren Zusammenarbeit weiter entwickelt und vorangetrieben werden. Auch in anderen Bereichen, wie etwa im Brand- und Katastrophenschutz, im Verbraucherschutz sowie bei der Förderung der tschechischen Sprache sollen die grenzüberschreitende Kooperation in der Grenzregion verbessert und Hindernisse für die praktische Zusammenarbeit abgebaut werden.

Die Zusammenarbeit in der EUREGIO EGRENSIS hat sich im Laufe der vergangenen zwanzig Jahre stetig intensiviert. Abgesehen von der Durchführung relativ einfacher Begegnungsmaßnahmen greift die grenzüberschreitende Koordinierungs- und Informationsstelle mittlerweile Themen auf, die grenzüberschreitend nicht sofort lösbar sind und manchmal auch kontrovers diskutiert werden. Doch die Grundlage für diese Arbeit ist von Beginn an bis heute der persönliche Kontakt zwischen den Menschen, die in dieser Grenzregion zusammenarbeiten. Dabei bilden diese persönlichen Kontakte auch die Basis dafür, dass die EUREGIO EGRENSIS heute als Garant für Frieden, Freiheit und Stabilität steht. Dieser Umstand ist nicht hoch genug zu schätzen.


Fußnoten:


  1. Ausführliche Informationen: EUREGIO EGRENSIS Arbeitsgemeinschaft Bayern e. V., Fikentscherstraße 24, 95615 Marktredwitz; e-Mail: info@euregio-egrensis.de, Internet: www.euregio-egrensis.eu (letzter Aufruf: 07.12.2015). ↩︎

  2. www.festival-mitte-europa.com (letzter Aufruf: 07.12.2015). ↩︎