Von der Konfrontation zum Dialog: Tschechen und Sudetendeutsche

aus OWEP 4/2012  •  von Martin Kastler

Martin Kastler, Mitglied des Europäischen Parlaments, ist seit 2010 Bundesvorsitzender der Ackermann-Gemeinde.

Zusammenfassung

„Die Beziehungen zwischen Deutschland und Tschechien sind so gut wie noch nie!“ Diese Aussage gehört seit mehreren Jahren zu jeder Grundsatzrede über die zwischenstaatlichen Beziehungen von deutschen und tschechischen Politikern und Diplomaten. Und dieser Satz stimmt, wie die folgenden Ausführungen belegen, trotz und wegen der Sudetendeutschen.

Blickt man auf das deutsch-tschechische Verhältnis, muss man zunächst feststellen, dass es trotz der belasteten Geschichte und noch strittiger historischer Deutungen eine große Intensität und Normalität erreicht hat. Über 800 Kilometer Grenze verbinden Deutschland mit seinem Nachbarland. Der Fall des Eisernen Vorhangs bedeutete für beide Länder einen Neuanfang und rückte die Länder von der Randlage der beiden sich gegenüberstehenden Blöcke in die Mitte, in das Herz Europas. Die historisch gewachsene mitteleuropäische Nachbarschaft gehört nicht der Vergangenheit an, sondern ist hier wie dort lebendige Gegenwart.

Die lebendigen Schatten der Vergangenheit

Das deutsch-tschechische Verhältnis wurde seit der Wende 1990 in besonderer Weise durch Fragen der Vergangenheit geprägt. Über Jahre füllten die Diskussion um den rechtlichen Status der „Beneš-Dekrete“, die Beurteilung der Vertreibung der Sudetendeutschen, das Straffreistellungsgesetz und Entschädigungsforderungen von Vertriebenen die Titelseiten der Zeitungen in beiden Ländern. Mit der „Deutsch-Tschechischen Erklärung über die gegenseitigen Beziehungen und deren künftige Entwicklung“ vom Januar 1997 verloren diese Themen auf Ebene der nationalen Regierungen an Bedeutung.1 Dennoch zeigt sich immer wieder der Schatten der unaufgearbeiteten Geschichte und wirkte sich lange Zeit vor allem auf die bayerisch-tschechische Nachbarschaft aus. Bayern versteht sich als Schirmland der Sudetendeutschen, womit Positionen der Sudetendeutschen Landsmannschaft Eingang ins Regierungshandeln fanden. So kam es trotz immer engerer Zusammenarbeit auf vielen Ebenen in der Amtszeit von Ministerpräsident Edmund Stoiber zu keinem offiziellen Besuch im Nachbarland. Diesen hatte er vom Abrücken Prags von den „Beneš-Dekreten“ abhängig gemacht. Erst seine Nachfolger Günther Beckstein und Horst Seehofer konnten die Eiszeit zwischen München und Prag beenden.2 Mit den offiziellen Besuchen von Seehofer in Tschechien im Dezember 2010 und im November 2011 begann eine neue Ära in den bayerisch-tschechischen Beziehungen.

Bereits in der ersten Phase nach der „samtenen Revolution“ in der Tschechoslowakei war die Beurteilung der Geschichte das zentrale Thema. Am 2. Januar 1990 führte der erste Besuch des neu gewählten tschechoslowakischen Präsidenten Václav Havel nach Deutschland – nicht in die Bundeshauptstadt, sondern nach München. Havel betonte, er wolle diese Wahl des Reiseziels sehr bewusst symbolisch verstanden wissen. Die Vertreibung der Sudetendeutschen nach Ende des Zweiten Weltkrieges verurteilte er als „unmoralische Tat“. Auch in seinen folgenden Reden, wie beispielsweise am 15. März 1990 in Prag, nahm er zu diesem Kapitel der gemeinsamen Geschichte Stellung, kritisierte die zugrunde liegende Kollektivschuldthese und stellte fest: „Das war keine Strafe, das war Rache.“ Leider blieben diese historischen Sätze ohne erkennbare Reaktion bei der Sudetendeutschen Landsmannschaft. Die katholischen Bischöfe in Deutschland und der Tschechoslowakei, später Tschechien und Slowakei, gaben 1990 und 1995 Erklärungen ab, mit denen sie den Versöhnungsprozess unterstützen wollten. In beachtenswerten Texten verurteilten die tschechischen Bischöfe die Vertreibung der Deutschen aus ihrer Heimat, bei der das ungerechte Prinzip der Kollektivstrafe angewandt worden sei. Zum zwanzigjährigen Jubiläum des Briefwechsels von 1990 feierten die beiden Vorsitzenden der Bischofskonferenzen Erzbischof Dr. Robert Zollitsch und Erzbischof Dominik Duka auf Initiative der Ackermann-Gemeinde eine gemeinsame Messe im Prager Veitsdom am Grab des Heiligen Wenzel. In der anschließenden Feierstunde erinnerte der tschechische Außenminister Karel Schwarzenberg an die bahnbrechende Rolle der Kirchen im Aussöhnungsprozess.3

Diese Stimmen konnten sich letztlich ebenso wenig durchsetzen wie die Erklärung sudetendeutscher und tschechischer Christen aus dem Jahr 1991 oder die Initiative „Versöhnung 95 – Smíření 95“. Beide wurden maßgeblich von der Ackermann-Gemeinde initiiert und mitgetragen. Sicher waren solche Erklärungen ihrer Zeit voraus. Die Wunden der Betroffenen auf beiden Seiten waren noch zu tief, und in der tschechischen Gesellschaft entwickelte sich nach Jahrzehnten der kommunistischen Indoktrination nur langsam ein offener Diskurs. Umso wichtiger war in den 1990er Jahren für die Aufarbeitung der Vergangenheit die „Volksdiplomatie von unten“. Außerdem hat seit 1998 der Deutsch-Tschechische Zukunftsfonds durch die finanzielle Unterstützung von grenzüberschreitenden Projekten die staatliche wie zivilgesellschaftliche Annäherung stark gefördert.

Deutsch-tschechische Normalität mit Sudetendeutschen

Doch die deutsch-tschechische Normalität von heute hätte ohne die Menschen, die einen biographischen Bezug zu Böhmen, Mähren und Mährisch-Schlesien haben, nicht dieselbe Intensität und Lebendigkeit. Die grenzüberschreitende Nachbarschaft lebt von einem regen Austausch auf den verschiedenen Ebenen und in nahezu allen Bereichen. Von besonderer Bedeutung sind die Euroregionen – die deutsch-tschechisch-polnische Euroregion Neiße, die Euroregion Erzgebirge, die Euregio Egrensis und die deutsch-tschechisch-österreichische Euregio Bayerischer Wald-Böhmerwald/Šumava-Unterer Inn. Natürlich sind auch Gemeinde- und Städtepartnerschaften ein weiteres wichtiges Werkzeug. Derzeit bestehen alleine zwischen bayerischen und tschechischen Städten und Gemeinden rund 50 Partnerschaften. In diesem Zusammenhang seien beispielsweise die Partnerschaften Prag-Nürnberg, Pilsen/Plzeň-Regensburg, Budweis/České Budějovice-Passau und Taus/Domažlice-Furth im Wald genannt. Sudetendeutsche haben bei diesen Partnerschaften eine wichtige Brückenfunktion. Nach der Vertreibung übernahmen Kommunen so genannte Patenschaften für Heimatkreise, die sich nach Herkunftsorten der Vertriebenen gründeten. In einigen Fällen gelang es, ausgehend von einer Patenschaft eine Städtepartnerschaft zu knüpfen. Beispiel hierfür ist die Patenschaft Augsburgs über die ehemaligen Bewohner von Reichenberg (tschechisch Liberec) aus dem Jahr 1955. Daraus entstand im Jahr 2001 eine Partnerschaft mit der nordböhmischen Stadt. Diese „Dreieckspartnerschaften“ sind ein gutes Modell, das zur weiteren Nachahmung anregen sollte.

Bereits vor der Wende übernahmen Sudetendeutsche die Rolle des natürlichen Bindeglieds ins Nachbarland. Viele suchten seit Beginn der 1960er Jahre den Brückenschlag in ihre alte Heimat. Beispielhaft kann das Engagement der katholischen Ackermann-Gemeinde genannt werden. Kaum war es für Westdeutsche möglich, die ČSSR zu besuchen, wurden erste Kontakte in das Nachbarland geknüpft. Während der kommunistischen Zeit unterstützte das Sozialwerk der Ackermann-Gemeinde über 1.000 Priester in der Tschechoslowakei mit Geld, theologischer Literatur und Medikamenten.4 Nach der Wende nahmen die Fahrten der Vertriebenen in die alte Heimat zu. Traditionelle Wallfahrten wurden wieder aufgenommen und fortan oft zweisprachig gestaltet. Kirchen und Friedhöfe wurden mit erheblicher finanzieller Unterstützung der ehemaligen deutschen Bewohner renoviert. Dieses selbstlose Engagement schuf Vertrauen und fand in Tschechien Anerkennung. Sudetendeutsche wurden Ehrenbürger in ihren Heimatgemeinden und erhielten hohe staatliche tschechische Auszeichnungen. Was früher undenkbar war, geschah 2003: Die Sudetendeutsche Landsmannschaft eröffnete ein Büro in der tschechischen Hauptstadt. Eine richtig verstandene Vertriebenenpolitik muss heute „eine aktive, zukunftsorientierte Nachbarschaftspolitik“ sein, wie es die CSU-Landtagsfraktion in ihrem Grundlagenpapier „Bayern: Herz und Mittler Europas“ vom Januar 2008 formulierte.5 Dies ist letztlich auch die einzige Möglichkeit, das gemeinsame kulturelle Erbe in den ehemals von Deutschen bewohnten Regionen Tschechiens zu erhalten.

Die Entdeckung der verschwundenen Geschichte in der Tschechischen Republik

Die Geschichte der Deutschen in den böhmischen Ländern wird in Tschechien immer mehr entdeckt. Dabei wird der Blick nicht nur auf die kulturellen Traditionen der ehemaligen Mitbürger gerichtet. Auch die Verbrechen an den Deutschen nach Ende des Zweiten Weltkrieges werden nicht ausgeblendet. „Das Erinnerungsvirus greift um sich“, bemerkte die Frankfurter Allgemeine Zeitung.6

Die Ausstellung „Das verschwundene Sudetenland“ der Bürgervereinigung „Antikomplex“, die 1998 von Prager Studenten gegründet wurde, zeigt, wie die Beschäftigung mit diesem Thema nach und nach in der Gesellschaft Fuß fasste. Die Ausstellung, erstmals im Dezember 2002 in Prag zu sehen, stieß zunächst auf große Skepsis, hatte dann jedoch ein unerwartet großes Echo: Die Besucherzahlen waren beachtlich, die Ausstellung erfreute sich so großer Nachfrage, dass sie über Jahre ausgebucht war und eine zweite Version erstellt werden musste. Der Katalog zur Ausstellung7 stieg zu einem wahren Bestseller auf dem tschechischen Buchmarkt auf. Auch für Nachfolgeprojekte erhält „Antikomplex“ großen Zuspruch.

In nahezu allen Regionen des ehemals von Deutschen besiedelten Grenzgebietes gründeten sich in den vergangenen Jahren Initiativen, die sich mit der regionalen deutschen Geschichte auseinandersetzen. Internetseiten zu den verschwundenen Dörfern (www.zanikleobce.cz) und Orten der Erinnerung (www.mistapameti.cz) geben davon ebenso Zeugnis wie renovierte Denkmäler und Gebäude. Diesem Aufbruch in der tschechischen Zivilgesellschaft kann sich auch die Politik nicht verschließen. Auf kommunaler Ebene wird vielerorts diskutiert, wie mit dem Erbe der Deutschen und den Nachkriegsereignissen umgegangen werden sollte. So erinnern beispielsweise auf der Brücke in Aussig/Ústí nad Labem und im nordböhmischen Postelberg/Postoloprty Gedenktafeln an die Gräueltaten an der deutschen Bevölkerung. Anlässlich des 65. Jahrestages des Kriegsendes sendete das staatliche Tschechische Fernsehen ČT zur besten Sendezeit eine einstündige Dokumentation mit dem Titel „Töten auf tschechische Art“. In dieser waren unter anderem bislang unbekannte Amateuraufnahmen von einem Massaker in Prag an deutschen Zivilisten ein oder zwei Tage nach dem offiziellen Kriegsende im Mai 1945 zu sehen. Diese und weitere Dokumentationen haben eine bemerkenswerte innertschechische Diskussion angestoßen.

In Aussig/Ústí nad Labem entsteht durch das Collegium Bohemicum unter der Mitträgerschaft des tschechischen Kulturministeriums ein zentrales Museum zur Geschichte der deutschsprachigen Bevölkerung in den böhmischen Ländern. Dieses wird durch das in München entstehende Sudetendeutsche Museum ein Gegenstück erhalten. Es ist eine überaus ermutigende Entwicklung in der Tschechischen Republik. Auch auf der politischen Bühne in Prag nehmen die Kräfte zu, die ein Verdrängen oder Leugnen dieser Themen ablehnen.

Ausblick: Chance für ein engeres Miteinander

Die deutsch-tschechische Nachbarschaft gedeiht nur, wenn füreinander Interesse besteht. Hier ist noch immer ein großes Ungleichgewicht festzustellen. In Tschechien wird die Entwicklung in Deutschland sehr aufmerksam verfolgt. Die Tschechen wissen, auch aus geschichtlicher Erfahrung heraus, dass alles, was hierzulande passiert, auf sie zurückwirken kann. Auf deutscher Seite ist das Interesse leider geringer. Allgemein wird unser Nachbarland Tschechien in der deutschen Öffentlichkeit kaum wahrgenommen. Für die Sudetendeutschen und ihre Nachfahren ist das Land jedoch weiterhin sehr präsent und nicht selten Motivation für grenzüberschreitende Partnerschaftsaktivitäten. Dieses Phänomen lässt sich auch vergleichbar bei christlichem Engagement für die östlichen Länder beobachten.8 Um darüber hinaus, auch mit Blick auf das Abtreten der Erlebnisgeneration von Krieg und Vertreibung, neue Gruppen zu interessieren, ist es wichtig, den Blick auf unseren tschechischen Nachbarn zu richten, insbesondere im Schulunterricht, in den Städtepartnerschaften, in der außerschulischen Jugendarbeit, in der Erwachsenenbildung, durch kirchlich geförderte Begegnungsmaßnahmen, durch Übersetzung von Literatur, durch Präsentation von Kunstwerken und nicht zuletzt auch durch enge Wirtschaftsbeziehungen. Viele Möglichkeiten und eine große Verantwortung haben auch die Medien, denn die Dichte der Berichterstattung und die Themenauswahl wirken sich auf die öffentliche Meinung aus.

Die deutsch-tschechischen Beziehungen haben eben auch wegen der Sudetendeutschen in der Zusammenarbeit auf den verschiedensten Ebenen ein sehr hohes Niveau erreicht. Dank ihres Einsatzes ist ein enges deutsch-tschechisches Netzwerk entstanden. Das deutsch-tschechische Verhältnis wird allerdings auch zukünftig turbulente Zeiten erleben, sodass diese Kontakte von großer Bedeutung sein werden. Noch immer laufen Bemühungen von Vertriebenen, über Petitionen und Klagen mögliche Eigentumsansprüche durchzusetzen. Und es ist zu befürchten, dass bei der anstehenden ersten Direktwahl des tschechischen Präsidenten einzelne Kandidaten die „deutsche Karte“ spielen, in dem sie bestehende Ressentiments bedienen.

Dennoch: Die Entwicklung in unserem Nachbarland, das die Geschichte „seiner Deutschen“ ohne Tabus entdeckt, und der von Bayern neu eingeschlagene Weg schaffen eine neue Qualität des Dialogs und eine Normalität im gut verstandenen Sinn. In naher Zukunft wird es so gelingen, die „Lasten der Geschichte“ aus dem Weg zu räumen, und dies wird so zu einem noch engeren Miteinander im Herzen Europas führen.


Fußnoten:


  1. Eine Zusammenstellung von Verträgen, Erklärungen und Reden zur deutsch-tschechischen Nachbarschaft ist zu finden in: Walter Rzepka (Hrsg.): Zukunft trotz Vergangenheit. Texte zur deutsch-tschechischen Versöhnung. München 2005. ↩︎

  2. Vgl. ausführlicher zum bayerisch-tschechischen Verhältnis Martin Kastler Eine neue Ära zwischen Bayern und Tschechien. In: Politische Studien. Heft 432. Juli/August 2010, S. 95-104. ↩︎

  3. Martin Kastler: Kirche bleibt Motor der Verständigung. In: Die Tagespost, 20.11.2010, und Kilian Kirchgeßner: Gegen das Verschweigen. In: Der Tagesspiegel, 19.11.2010. ↩︎

  4. Ackermann-Gemeinde e. V.: 60 Jahre Friedensarbeit. Das Sozialwerk der Ackermann-Gemeinde. München 2010. ↩︎

  5. www.csulandtag.de/www/dateien/www_entschliessung_vertriebene_Kreuth2008.pdf. (letzter Zugriff: 24.10.2012; Link mittlerweile inaktiv!). ↩︎

  6. Dirk Schümer: Das Erinnerungsvirus greift um sich. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. 12.06.2010, S.41. ↩︎

  7. Antikomplex: Zmizelé Sudety. Das verschwundene Sudetenland. Domažlice 2007. ↩︎

  8. Eine Studie aus dem Jahre 2002 im Auftrag der Deutschen Bischofskonferenz wies auf die häufig auftretende biographisch bedingte Motivation ausdrücklich hin; vgl. Karl Gabriel u. a. (Hrsg.): Engagement für Osteuropa. Praxis und Motivationen christlicher Solidaritätsgruppen. Bonn 2002, z. B. S. 98 und 108. ↩︎