Als junge Tschechin in Deutschland – Eindrücke und Gedanken

(Erfahrungen)
aus OWEP 4/2012  •  von Marie Talířová

Marie Talířová stammt aus einem südböhmischen Dorf und lebt seit 2007 in München, wo sie sich seither neben dem Studium in verschiedenen Bereichen engagiert hat. Seit April 2012 ist sie als Projektmitarbeiterin in der Ackermann-Gemeinde tätig.

Mit Deutschland, Deutschen und der deutschen Sprache habe ich seit meiner Kindheit viele Erfahrungen gemacht, auch wenn ich gar nicht so viel in die Bundesrepublik gereist bin. Schon meine Vorfahren lebten aber im Grenzgebiet Südböhmens, in engster Nähe zu Österreich und Deutschland, in den vielfach gemischten deutsch-tschechischen Gemeinden. Da unsere Familie viele Bekannte und Freunde in Deutschland ebenso wie in Österreich hat, war ich seit meiner Kindheit an vielen deutsch-tschechischen Aktionen und gemeinsamen Treffen aktiv beteiligt. Dass ich aber zum Studium nach Deutschland oder überhaupt ins Ausland gehen würde, habe ich selbst eigentlich nie geplant. Dies hat sich erst nach meinem Abitur durch das Zusammenspiel mehrerer Faktoren ergeben, und manchmal wundere ich mich heute, wenn ich daran denke, wie „zufällig“ mein Leben in Deutschland angefangen hat und was alles ich hier bis heute erlebt habe.

1999-2007 besuchte ich das Gymnasium in Kaplice/Kaplitz; in dieser Zeit habe ich zweimal an den Sommerdeutschkursen der Universität Wien teilgenommen, wo zu dieser Zeit meine Schwester studierte. Schon in der Schule haben zu meinen Lieblingsfächern Literatur, Deutsch und besonders Geschichte gehört. Das einzige, was mich ziemlich gestört hat, war die Tatsache, dass der Unterricht oft noch nach alten Richtlinien aus der Zeit des Sozialismus verlaufen ist, wo die Geschichte vielfach zum Instrument der kommunistischen Erziehung stilisiert wurde und wir beim Lernen auch viele alte Klischees und Vorurteile als selbstverständliche Tatsache mitbekommen haben.

Mein „erstes Mal“ in München hat sich allerdings schon lange vor meinem Abitur abgespielt. Wir haben damals mit einer kleinen Gruppe von sieben Mädchen am Vorprogramm des Weltjugendtags in Köln 2005 teilgenommen, auf Einladung der Barmherzigen Schwestern vom Hl. Vinzenz von Paul, die in der Nähe meines Heimatdorfs, im bekannten Wallfahrtsort Maria Gojau bei Krummau/ Český Krumlov, wirken und in München ihr Mutterhaus haben. Obwohl ich mich an viele Einzelheiten des damaligen Aufenthalts in der bayerischen Metropole nicht mehr so gut erinnere, weiß ich, dass es mir dort schon damals sehr gefallen hat – eine Großstadt, wo man sich gar nicht wie in einer Großstadt fühlt, mit ihrem eher kleinen, aber schönen historischen Zentrum und vielen Grünflächen. Ich dachte mir, das wäre schon ein guter Ort zum Leben, bin aber überhaupt nicht auf die Idee gekommen, dass ich zwei Jahre später dort tatsächlich mein Studium beginnen würde. Hier haben die Schwestern in Maria Gojau ein wenig Schicksal gespielt. Gerne nahm ich ihr Angebot an, zu ihnen zu kommen und an einem Deutschkurs für Ausländer an der Universität München teilzunehmen. So habe ich fast ein halbes Jahr bei ihnen im Mutterhaus gelebt und im Sprachkurs die Oberstufen I und II absolviert, die ich mit der DSH1 abgeschlossen habe, was so gut wie eine „Eintrittskarte“ für ein Studium in Deutschland für die Ausländer funktioniert. Die Prüfung ist für mich so überraschend gut gelaufen, dass ich mich gleich um einen Studienplatz an der Universität München bewerben konnte – und ich wurde tatsächlich am Historischen Institut angenommen. Die Zeit, die ich in den Deutschkursen und im Mutterhaus der Barmherzigen Schwestern verbracht habe, war sehr schön und stellt eine wichtige Zäsur in meinem Leben dar; ich habe nicht nur mein Deutsch wesentlich verbessert – ich hatte auch die Zeit und die Möglichkeit, über Grundsätze für meine Zukunft in Ruhe nachzudenken, und habe viele geistige Impulse erhalten, die mich bis heute prägen.

Im Wintersemester 2008/09 begann ich mit dem Magisterstudium in der Fächerkombination Neuere und Neueste Geschichte (Hauptfach), Geschichte Ost- und Südosteuropas sowie Deutsch als Fremdsprache (Nebenfächer) und lebe seitdem dauerhaft in München. Mit dem Studium in München verfolgte ich dann von Anfang an die Absicht, mir einen objektiven und qualifizierten Einblick in die Geschichte zu verschaffen, um später effektiv an den vielfältigen internationalen Aktionen mitwirken zu können, die ich in der Praxis schon als Kleinkind vielmals erleben konnte. Gute Einarbeitung und erste Erfahrungen dazu konnte ich durch die Arbeit im Collegium Carolinum (Institut für die Geschichte der Böhmischen Länder München) sammeln, wo ich drei Jahre als studentische Hilfskraft tätig war. Seit März 2010 bin ich außerdem für vier Jahre gewähltes Mitglied des Pfarrgemeinderats der tschechischen katholischen Gemeinde in München und engagiere mich in dieser Position in der Zusammenarbeit der tschechischen mit den deutschen Gemeinden und Vereinen. Im April 2012 habe ich schließlich eine Teilzeitstelle als Projektmitarbeiterin in der Geschäftsstelle der Ackermann-Gemeinde in München angetreten. Die Ackermann-Gemeinde war mir bereits vorher ziemlich gut bekannt, jedoch hatte ich noch keinen engeren Kontakt zu ihr gehabt. Ich wusste aber, dass ihre Arbeit meinen Vorstellungen über die Zusammenarbeit zwischen den Deutschen und Tschechen entspricht – ein offener Dialog über die Vergangenheit, frei von einseitiger Kritik und Vorurteilen, und ein freundschaftlicher Ideenaustausch sowie eine gemeinsame Suche nach neuen Wegen für die Zukunft.

Und nun endlich zu der vielleicht interessantesten Frage: Wie lebt es sich als Ausländer in Deutschland? Haben sich meine Erwartungen erfüllt, hat sich meine Sicht auf Deutschland und die Deutschen verändert? Und wenn ja, wie?

Von vorneherein muss ich bemerken: Ich kann nur über das Leben in München bzw. Bayern berichten. Ich habe zwar viele Bekannte auch an anderen Orten in Deutschland, habe aber selbst nie länger woanders als in München gelebt. Als nächstes kann ich gleich sagen: Ja, meine Sicht auf das Leben in Deutschland hat sich sicher verändert. Erfüllt haben sich meine Erwartungen insofern, als man hier auch als Ausländer tatsächlich gut leben kann. Und das behaupte ich, obwohl das Leben in München für tschechische Verhältnisse recht teuer ist und auch meine eigene finanzielle Situation manchmal ziemlich bedrückend war. Vielleicht ist es Zufall, manche würden es Glück, andere Gottes Vorsehung nennen – ich habe stets Menschen getroffen, die mir geholfen haben, als ich nicht gewusst habe, wie es weitergehen kann. Auch eine „geistige“ Unterstützung habe ich mehrmals gebraucht und bekommen, als es mir psychisch nicht so gut ging. Hilfe erhielt ich sowohl von Deutschen als auch von Tschechen, jüngeren und älteren Menschen aus verschiedenen gesellschaftlichen Kreisen. All diese Menschen waren ganz wichtig, damit ich mich in München heute so wohl fühlen kann. München ist ja schon längst keine rein deutsche Stadt, ganz verschiedene Nationalitäten und Kulturen stoßen hier aufeinander.

So hatte ich hier stets auch viele Möglichkeiten zum Vergleich und habe festgestellt: Doch, die Deutschen sind anders als die Tschechen. Damit möchte ich auf keinen Fall behaupten, dass die einen „besser“ oder „schlechter“ sind als die anderen. Die Deutschen sind meist viel verschlossener und ängstlicher als die Tschechen, sie bevorzugen – das ist wirklich kein Klischee – eine gewisse Ordnung der Dinge und geregelte Abläufe. Daher ist ja auch die deutsche Wirtschaft so effektiv – genau das aber empfindet ein Tscheche eher als ein mechanisches, langweiliges, eher freudloses Leben. Die Tschechen sind spontaner, knüpfen viel leichter neue Kontakte an und haben kein Problem mit Unerwartetem und Ungeplantem. Sie entscheiden sich eher situationsgemäß und planen alles nicht so viel voraus. Daher herrschen auch in unserem Land viel mehr chaotische Zustände. Auch ist es – so scheint es mir jedenfalls – dank der emotionalen Entscheidungsweise nach Lust und Laune auch möglich, dass sich ein Politiker zwar mit einem Skandal absolut unmöglich macht, nach ein paar anderen Skandalen ist das aber wieder vergessen und er hat kein Problem, bei den nächsten Wahlen wieder gewählt zu werden.

Pauschal kann man auch sagen: Die Tschechen feiern gerne, die Deutschen arbeiten gerne. Deshalb finde ich es toll, wenn es gerade in Bayern noch anders läuft und viele Traditionen über das ganze Jahr hinweg hochgehalten werden. Allerdings ist dieses traditionelle Leben auch in Bayern vom Aussterben bedroht, weniger auf dem Lande als in den Städten. Wenn man sich die deutsche Jugend dort anschaut, so bekommt man oft einen ziemlich traurigen Eindruck. Meist interessieren die Jugendlichen nur die technischen Neuheiten oder wie viel man bei der letzten Party getrunken hat. Das ist in Tschechien vielleicht nicht besser, doch habe ich oft Eindruck, dass es bei vielen jungen Tschechen eine tiefe Sehnsucht nach dem wahren Sinn des Lebens gibt. Auch hat mich ziemlich schockiert, wie erbärmlich die Kenntnisse der deutschen Jugendlichen, besonders der, die noch in die Schule gehen, über ihre Nachbarn sind – für viele ist Tschechien einfach nur „irgendwo im Osten“. Wenn jemand Prag kennt, muss man schon froh sein. Natürlich ist es nicht bei allen so, generell aber wissen die Kinder in Tschechien schon frühzeitig viel mehr über Deutschland und die anderen Nachbarländer als umgekehrt. Wohlstand und Konsumdenken haben offensichtlich das Interesse an den anderen, aber auch die Stimme der eigenen Seele verstummen lassen. Ein Ideenaustausch zwischen den jungen Leuten aus beiden Ländern könnte, meine ich, zugunsten der Zukunft unserer beiden Nationen viel bewirken.

Mein nächstes Ziel ist es, mein Studium an der Ludwig-Maximilians-Universität erfolgreich abzuschließen und mich auch danach weiterhin der Zeitgeschichte zu widmen, mit dem Schwerpunkt der Geschichte der deutsch-tschechischen Beziehungen im 19. und 20. Jahrhundert. Je nach Umständen und Möglichkeiten würde ich dann eine Dissertation anfertigen. Mein Zukunftswunsch wäre es, durch meine Arbeit zu guten internationalen Beziehungen zwischen Deutschland und Tschechien und einer künftigen Zusammenarbeit der beiden Nationen ein wenig beizutragen.


Fußnote:


  1. DHS steht für „Deutsche Sprachprüfung für den deutschen Hochschulzugang ausländischer Studienbewerber“. ↩︎