Nähe und Ferne – meine Erfahrungen mit Deutschland

(Erfahrungen)
aus OWEP 4/2012  •  von Ondřej Matějka

Ondřej Matějka ist Politologe, Historiker und Leiter der Bürgerinitiative „Antikomplex“ (vgl. dazu den [Textkasten „Antikomplex“](/node/913) in diesem Heft; S. 278 der gedruckten Ausgabe).

Da ich in Liberec/Reichenberg unweit der deutschen Grenze groß geworden bin, war Deutschland schon immer in meinem Leben präsent. Mein heutiges Bild von Deutschland hat allerdings zu viele Schichten, als dass es auf einen gemeinsamen Nenner gebracht werden könnte. Diese unterschiedlichen Schichten von „meinem“ Deutschland werden sehr oft durch konkrete Menschen repräsentiert, die mir das jeweilige Deutschland eröffnet haben. Bei dieser Betrachtung gehe ich sicherlich das Risiko einer Pauschalisierung ein, aber andererseits war das mein Weg, um das Land kennenzulernen.

Das erste wirklich prägende Gesicht Deutschlands war unser Deutschlehrer Hans Joachim am deutschsprachigen Zweig des Gymnasiums in Liberec. Er wurde für mich zum Inbegriff Deutschlands, wie es die berühmten „Achtundsechziger“ geschaffen haben. Bei ihm habe ich gelernt, dass ein kritischer Blick auf die eigene Geschichte selbstverständlich ist, dass soziale und politische Gerechtigkeit, Umwelt, Bildung usw. Werte sind, um die es auch in der Politik gehen sollte. Es war ein äußerst modernes, liberales Deutschlandbild. Natürlich war es vor allem ein Bild von Westdeutschland, unser Lehrer kam ja aus Westdeutschland. Diese Mischung eines wohlhabenden Lehrers und kritischen Geistes bekam für mich dann später das Label „Bildungsbürgertum“. Wie oft habe ich mir bei einem Treffen mit Angehörigen dieser Klasse gewünscht, es hätte sich diese Schicht in Tschechien genauso stark entwickelt wie in Deutschland. Nicht, dass es sie bei uns nicht gegeben hätte, aber der soziale Status der Lehrer, Dozenten, Musiker, Journalisten, Beamten, teilweise auch der Ärzte, ist mit dem in Deutschland nicht zu vergleichen. Um nicht missverstanden zu werden – ich beneide die deutschen Lehrer nicht wegen der schönen Einfamilienhäuser. Ich beneide Deutschland um die Autorität, die die gebildete Klasse im öffentlichen Raum – immer noch – genießt. In meinen Augen verleiht gerade dieser Aspekt dem deutschen politischen Leben die gerade von außen eindeutig zu schätzende Rationalität und Kultiviertheit. Nicht zuletzt ist ein Bildungsbürgertum auch die Stütze der Zivilgesellschaft, sie schafft den eigentlichen Unterschied zur Zivilgesellschaft in Tschechien. Der Unterschied liegt bei den Teilnehmern, die bei uns immer noch nicht kommen. Uns fehlt es nicht an den Aktiven, die gibt es wohl irgendwie in jedem Land. Uns fehlt es vor allem an einer aufnahmefähigen Gesellschaft, die man ansprechen kann und die auch reagiert.

Eine völlig andere Begegnung mit Deutschland bot mir meine durchwegs tschechische Familie, in der es einen angeheirateten deutschen Onkel gibt. Als ich mit Onkel Kurt zum ersten Mal ausführlicher sprechen konnte, war er beinahe 80 Jahre alt. In meinen Augen steht er ziemlich genau für das Deutschland, wogegen sich mein Lieblingslehrer Hans Joachim abgrenzte. Nicht seiner aktiven Teilnahme am Krieg wegen, das konnte er wegen seines Alters kaum verhindern, sondern wegen seiner Einstellung dazu. Er hat es nie kommentiert, gab nie eine Meinung dazu ab. Seine ganze Lebensauffassung war und ist immer noch äußerst nüchtern und pragmatisch. In seiner Auffassung besteht das Hauptproblem Deutschlands darin, dass man nicht mehr „Leistung“ an die erste Stelle setzt. Er war damit ziemlich glaubwürdig, denn sein Lebensweg ist eine schlichte Illustration dieser Überzeugung. Als er nach dem Krieg zuhause in Sachsen ankam, sah er schnell ein, dass es mit der DDR nichts wird. Er ist dann allein, ohne die Familie, über die Grenze in den Westen geflüchtet, wurde zuerst in einem Sammellager für jugendliche Flüchtlinge aufgenommen und bekam dann seinen ersten Job als Gehilfe im Lager eines Kaufhauses. Seither musste er, so erzählte er, hart arbeiten und immer bereit sein, sich den Bedingungen der Firma anzupassen. Tatsache ist, dass er in der Branche blieb, bis er als Chef einer Supermarktkette in Rente gegangen ist. Wir, entfernte Verwandte in der sozialistischen Tschechoslowakei, kannten ihn dann immer nur als den „sagenhaften Kurt im weißen Mercedes“. Ohne über ihn urteilen zu wollen – denn ich schätze Kurt für viele persönliche Sachen sehr –, half er mir, das Deutschland der fünfziger und sechziger Jahre zu verstehen. Diese rücksichtslose Aufbauleistung, die um so intensiver war, um so weniger man nach links, rechts oder nach hinten geschaut hat, schien mir um so mehr faszinierend, als ich darin eine Parallele zur Stimmung der tschechischen Gesellschaft nach 1989, in die ich nach und nach hineinwuchs, erkannte.

Man hätte erwartet, dass die Deutschen in den fünfziger Jahren vor allem Reue und Demut gelebt hätten – ich war aber erstaunt zu erfahren, dass der Nationalsozialismus kein Thema war. Fast das Gegenteil trifft zu: Die erste Phase einer Aufarbeitung muss wohl Vergessen sein. Wie sehr mich das an Tschechien bis vor Kurzem erinnert! Ohne damit einen Vergleich zwischen deutschem Nationalsozialismus und tschechischem Kommunismus ziehen zu wollen, die Einsicht in die mentale Dynamik einer Gesellschaft nach einer Befreiung ist zweifelsohne übertragbar. Diese Einsicht machte das Phänomen der deutschen Aufarbeitung des Nationalsozialismus, die uns bei der Tätigkeit von „Antikomplex“ als glänzendes Vorbild vorschwebte, viel plastischer und auch greifbarer. Das ist kein Schlechtreden dieser deutschen Leistung, sondern ermöglicht es uns, die eigenen Bemühungen um kritische Geschichtsaufarbeitung in Tschechien mit etwas mehr Weitblick zu sehen, und hilft uns, manche Verzweiflung zu überwinden.

Es würde den Rahmen dieses Textes sprengen, wenn ich versuchen würde, alle wichtigen Begegnungen mit Deutschland und alle seine Gesichter aufzuzeichnen. Ich dürfte dabei nicht meine aktuellen Freunde und Arbeitskollegen vergessen, mit denen ich meine täglichen Sorgen teile, vergessen dürfte ich nicht meine lieben ehemaligen Landsleute, die vertriebenen Deutschen aus Böhmen, Mähren und Schlesien, die mich stets bewegen, mein eigenes Land mit frischen Augen zu sehen. Nur erwähnt sein mögen hier auch Persönlichkeiten, denen ich nie direkt begegnen konnte, die für mich dennoch neue Welten eröffnet haben und gleichwohl auch neue Deutschland-Welten – unzählige Künstler und Persönlichkeiten. Damit die Liste nicht peinlich lang wird, gebe ich an dieser Stelle nur den ganz aktuell erlebten Thomas Mann an, dessen Roman „Doktor Faustus“ ich gerade zuende lese.

Die schwierige Fülle an Deutschlandbildern lässt sich nicht zuletzt an meinem beliebten Spiel „Wo mag ich es in Deutschland am liebsten“ zeigen. Ich bin dabei immer wieder zerrissen zwischen Süddeutschland, Norddeutschland und Ostdeutschland. Jede Region ist anders, überall kann ich mich wohlfühlen, aber es findet sich immer etwas, was nicht ganz stimmig ist. Im Süden liebe ich den Bodensee, das Allgäu, Oberbayern, Schwaben und natürlich die Alpen. Die Idylle dort unten ist manchmal fast nicht auszuhalten, andererseits bewundere ich irgendwie doch die ländlichen Gemeinschaften, die dort gewachsen sind. Eine ähnlich romantische Prägung hat auch meine Beziehung zum Norden Deutschlands. Ich komme viel weniger dorthin als woanders, jedoch zieht mich das kalte deutsche Meer der Ostsee oder der Nordsee immer wieder an. Frischer Wind, keine große Hitze, ein niedliches Häuschen mit Strohdach, kurze Spaziergänge mit weitem Blick über die Dünen und viel Lesen – das ist mein Norddeutschland. Viel intensiver als im Norden bin ich in den neuen Bundesländern herumgekommen. Daher ist die Beziehung zu dieser Region auch wohl am meisten differenziert. Nach der Revolution 1989 hat man bei uns in Tschechien einfach nur gestaunt, wie schnell der Aufbau im Osten Deutschlands ging. Da konnten wir überhaupt nicht mithalten. Der „Aufbau Ost“ war nicht fehlerfrei, aber irgendwie musste man dort nicht jeden noch so dummen Fehler machen, wie es bei uns geschehen ist.

Eigentlich hatte ich in diesem Text vor, auch mit manch einer deutschen Unannehmlichkeit abzurechnen, die mir so oft durch den Kopf geht. Nun, dazu komme ich nicht mehr wirklich. Beiseite lasse ich die manchmal in äußerste Arroganz ausgeartete Bürokratie. Im Sinne habe ich seit Jahren vor allem die Sächsische Aufbaubank, deren Aufgabe es theoretisch ist, sächsisch-tschechische Projekte zu verwalten. Tatsächlich besteht ihre Aufgabe wohl eher in einer Erschwerung jeglicher Arbeit. So richtig kann ich auch nicht meine Verwunderung über den beinahe kultischen Stellenwert des Autos ausdrücken, der manchmal ärgerliche Züge annimmt. Deutsche Autobahnen sind wunderbar, aber warum leistet sich so ein hochkultiviertes Land wie Deutschland kein Tempolimit? Als würde es ein Stück wilden Westen mitten im guten alten Europa geben!

Es gibt einfach vieles, dass in meinem lebenslangen Respekt für Deutschland immer wieder für etwas Aufregung sorgt. Gerade in gut gewachsene Beziehungen – und als solche betrachte ich eben auch meine Beziehung zu Deutschland – gehört auch einiges an Kritik. Wirklich gute Beziehungen leben doch davon. Dass ich diese Erkenntnis für eine Selbstverständlichkeit halte, verdanke ich wohl auch meinen deutschen Begegnungen. Wo denn sonst erlebt man, dass man selbst unter besten Freunden oder Kollegen so plötzlich und so rücksichtslos kritisch werden kann? So gesehen habe ich auch keine Angst, dass es mit meiner Beziehung zu Deutschland irgendwann schief gehen könnte. Wir kommen schon gut zurecht, auch wenn mir immer wieder manches oder auch sehr vieles nicht gefallen wird.