Renaissance des Religiösen?
Zusammenfassung
In Russland war wie in allen postkommunistischen Ländern in den neunziger Jahren ein Aufschwung der Religiosität zu beobachten, wobei es von vornherein unklar war, ob dieser Trend dauerhaft anhalten und vor allem die jüngere Generation prägen würde. Die Auswertung entsprechender Umfragen führt, wie aus folgendem Beitrag hervorgeht, zu einem recht ernüchternden Befund.
I.
Wenn in den letzten Jahren vom Aufschwung des Religiösen die Rede war, dann wurde immer wieder auf die postkommunistischen Länder Osteuropas verwiesen. Auch wenn die Behauptung einer allumfassenden religiösen Renaissance in der Region den empirischen Gegebenheiten letztlich nicht standhält, lassen die meisten religionssoziologischen Studien aus den 1990er und 2000er Jahren für Russland und die meisten anderen orthodox geprägten Gesellschaften Ost- und Südosteuropas doch einen deutlichen Bedeutungsgewinn von Kirche und Religion erkennen, der sich vor allem im neu erwachten Bekenntnis zur Orthodoxie und weit verbreiteten allgemeinen Glaubensbekenntnissen widerspiegelt.1
Die Ausführungen dieses Beitrages widmen sich dem Phänomen des religiösen Aufschwungs unter dem Blickwinkel intergenerationaler Unterschiede. Gerade im Hinblick auf mögliche Entwicklungsszenarien kommt den Bekenntnissen, Haltungen und Praktiken der nachwachsenden, die zukünftige Gestalt der Gesellschaft bestimmenden Generationen eine besondere Bedeutung zu. Eine alleinige Betrachtung der jüngeren Kohorten würde hier jedoch nur begrenzte Erkenntnisse liefern; erst der Vergleich mit den Vorgängergenerationen ermöglicht eine Bewertung bestimmter Daten und Muster vor dem Hintergrund des Gesamtbildes sowie (vorsichtige) Aussagen über Prozesse religiösen Wandels.
Eine Frage, die sich im Zusammenhang mit dem Stichwort „religiöse Renaissance“ stellt, ist etwa die, ob sich die Jüngeren im Gegensatz zu ihren unmittelbaren Vorgängern, die in der säkularen bis religionsfeindlichen sowjetischen Gesellschaft aufgewachsen sind und sozialisiert wurden, den Ältesten wieder annähern. In Bezug auf die Nachhaltigkeit eines etwaigen religiösen Aufschwungs wäre es von Interesse zu erfahren, in welchen Bereichen das geschieht – ob es sich mithin „nur“ um entsprechende Bekenntnisse handelt oder sich auch in konkreten Praktiken niederschlägt.
Wenn im Folgenden Aussagen über die Religiosität der Jugend bzw. der jungen Erwachsenen2 in Russland getroffen werden, dann geschieht dies zur besseren Einordnung also immer im intergenerationalen Vergleich. Als empirische Basis dienen die Daten einer Untersuchung zur Religion und Religiosität in Russland, die vom Levada-Zentrum im Jahr 2009 durchgeführt wurde.3
II.
Begonnen werden soll der Streifzug durch die Religiosität der russischen Bevölkerung und insbesondere der jüngeren Generation mit der „traditionellen“, institutionell-kirchlich verfassten Religiosität. Beginnen wir zunächst mit einer Variablen, die sich an einen auch sonst oft erfragten Standardindikator anlehnt, der konfessionellen Identität: Da die Frage in der Levada-Studie etwas „weicher“ formuliert ist („Was ist Ihr religiöses Bekenntnis?“) als in anderen Umfragen, wo meist die konkrete Zugehörigkeit zu einer bestimmten religiösen Tradition oder Gruppierung erhoben wird, fallen die Zustimmungsraten hier naturgemäß etwas höher aus: Insgesamt 73 Prozent der Befragten bekennen sich zur Orthodoxie, 6 Prozent zum Islam, kaum mehr als 2 Prozent zu irgendeiner anderen religiösen Tradition. 6 Prozent bezeichnen sich selbst als Atheisten, weitere 11 Prozent wählten die etwas schwammig formulierte Kategorie „nichts Konkretes“.
Betrachtet man die Antworten im Kohortenverlauf, so lässt sich konstatieren, dass sich der Anteil derjenigen, die sich als orthodox bezeichnen, von den älteren zu den jüngeren Altersgruppen leicht verringert – von 79 Prozent bei den zwischen 1917 und 1935 Geborenen auf 72 Prozent bei den zwischen 1976 und 1985 Geborenen. Eine erste differenzierte Feststellung in Bezug auf die jüngste Gruppe der in der Zeit von Perestroika und Glasnost aufgewachsenen jungen Erwachsenen (1986 bis 1991 geboren) lautet, dass sie nach wie vor mehrheitlich eine konfessionelle Bindung erkennen lässt, sich hier jedoch auch keine Trendumkehr, sondern eher eine Fortführung des intergenerationalen Musters beobachten lässt: Aus dieser Gruppe bekennen sich mit 67 Prozent im Altersgruppenvergleich die wenigsten zur Orthodoxie; der Anteil derjenigen, die „nichts Konkretes“ angeben, liegt dagegen ebenso über dem Durchschnitt (14 Prozent) wie der der selbsternannten Atheisten (8 Prozent).
Dass ein wie auch immer geartetes Bekenntnis zur orthodoxen Kirche bzw. zur Orthodoxie zum kulturellen Selbstverständnis der russischen Bevölkerung zu gehören scheint, bestätigt sich auch auf einer anderen Ebene – und zwar in der außerordentlich hohen Taufrate von 79 Prozent.4 Obwohl die Taufe natürlich kein Garant für eine lebenslange Nähe zur Orthodoxie ist (so geben in der Studie immerhin auch 40 Prozent der bekennenden Atheisten an, getauft worden zu sein), stellt sie doch ein recht „manifestes“ Bindeglied zur eigenen religiösen Tradition dar. Da sie oft auch den ersten Schritt in der religiösen Sozialisation repräsentiert, lassen sich aus Befunden zur Taufe auch immer Anzeichen herauslesen, die über Veränderungen auf dem religiösen Feld, über vergangene und – wie gesagt, mit aller gebotenen Vorsicht – über zukünftige Entwicklungen Auskunft geben. Die in der Levada-Studie erhobenen Indikatoren zur Taufe ermöglichen solche Einblicke, die über die bloße Auszählung der Taufrate hinausgehen: Die Frage danach, in welchem Jahr man getauft wurde, eröffnet dabei eine Perspektive, die direkt auf zeitliche bzw. generationenspezifische Wandlungsprozesse verweist.
In Tabelle 1, die Informationen zu Taufraten und Taufalter unterschiedlicher Geburtskohorten enthält, lassen sich einige interessante Muster erkennen: Zunächst fällt auf, dass im Kohortenvergleich der Anteil derjenigen, die zum Befragungszeitpunkt, also im Jahr 2009, angaben, getauft zu sein, nicht so sehr differiert, wie man vielleicht annehmen könnte (80 bis 87 Prozent). Betrachtet man die Daten jedoch etwas genauer, dann zeigen sich durchaus interessante Muster, die in gewisser Weise die historischen Umstände widerzuspiegeln scheinen: Was in diesem Zusammenhang vor allem ins Auge fällt, ist der Anstieg der Erwachsenentaufen in den mittleren Altersgruppen sowie der Taufen im Kindes- und Jugendalter (2-6 bzw. 7-17 Jahre) in der Kohorte der zwischen 1976 und 1985 Geborenen auf insgesamt 25 Prozent: Zeitlich würden die meisten dieser Taufen in die Zeit von Glasnost und Perestroika fallen, mithin in die Periode nach der Kirchenverfolgung. Am deutlichsten wird dieser Effekt beim Anteil an Kleinkindtaufen bei den jungen Erwachsenen (42 Prozent) – ein Wert, der sogar die Rate bei der ältesten Kohorte (38 Prozent) übertrifft. Man könnte also daraus schlussfolgern, dass sich das Taufverhalten der Kohorte 1976-85 aufgrund der günstigeren gesellschaftlichen Umstände schon wieder zunehmend ins Kindesalter verlagert hat, während sich schließlich die zwischen 1985 und 1991 Geborenen wieder an das „natürliche“ Taufverhalten angenähert haben, wie es in der Kohorte, die vor den großen Kirchenverfolgungen geboren wurde, anzutreffen war. Wenn man die Gruppe der jungen Erwachsenen hier als „Trendsetter“ ansieht, dann wäre zu erwarten, dass sich das Taufverhalten der folgenden Jahrgänge in dieser Form repliziert und auf diesem im internationalen Vergleich doch verhältnismäßig hohem Level einpendelt.
Tabelle 1: Taufraten und Taufalter in unterschiedlichen Geburtskohorten
So beeindruckend sich die Zahlen in Bezug auf das Bekenntnis zur Orthodoxie und die Taufen ausnehmen: In anderen Bereichen findet die hohe Identifikation der russischen Bevölkerung mit der Orthodoxie kaum eine Entsprechung (Tabelle 2). Die aktive Teilnahme am kirchlichen Leben etwa ist äußerst schwach ausgeprägt: So geben insgesamt nur 12 Prozent der Befragten an, wenigstens einmal im Monat zur Kirche zu gehen. Die Hälfte der Befragten besucht die Kirche allenfalls sporadisch, vorzugsweise zu Ostern und an anderen hohen kirchlichen Feiertagen5; etwa 40 Prozent sagen von sich selbst, weniger als einmal im Jahr bzw. niemals zur Kirche zu gehen. Die jungen Erwachsenen der Kohorte 1986-1991 lassen hier wiederum keinen Trendwechsel erkennen, sondern stechen im Gegenteil dadurch hervor, dass sich der Anteil der regelmäßigen Kirchgänger unter ihnen mit 6 Prozent im Vergleich zu den Vorgängerkohorten noch einmal halbiert hat.
Zieht man einen weiteren Indikator hinzu, dann verstärkt sich der Eindruck, dass das Gemeindeleben weitgehend brach liegt und auch unter den Jüngeren praktisch keinen Anklang findet: Nur 1 Prozent der Befragten insgesamt bekundet, regelmäßig am Leben irgendeiner Kirchengemeinde teilzunehmen, weitere 7 Prozent tun dies zeitweilig, 92 Prozent beteiligen sich überhaupt nicht; bei den jungen Erwachsenen sind es 0 bzw. 5 und 95 Prozent.
Tabelle 2: Kirchgangshäufigkeit und Teilnahme am Gemeindeleben
III.
Wie steht es nun um die „private“ Religiosität? Im Zentrum des christlichen Glaubens steht zweifellos der Glaube an Gott. Die Levada-Studie enthält eine Frage, die den Gottesglauben sehr differenziert abfragt und die Menschen nicht nötigt, sich für ein klares „ja“ oder „nein“ zu entscheiden. Tabelle 3 vermittelt einen guten Eindruck über das breite Spektrum der Glaubensformen in der heutigen russischen Gesellschaft, enthält aber auch erneut einige Hinweise über charakteristische Altersgruppendifferenzen: Betrachtet man zunächst die Verteilung der unterschiedlichen Glaubensinhalte insgesamt, so zeigt sich, dass die traditionelle, der kirchlichen Lehre entsprechende Vorstellung von der zweifelsfreien Existenz eines Gottes nur von etwa jedem dritten Befragten vertreten wird. Ein weiteres Fünftel glaubt im Großen und Ganzen ebenfalls an Gott, zweifelt jedoch manchmal. Demgegenüber steht nur ein kleiner Anteil von knapp 6 Prozent, die dezidiert die Existenz Gottes leugnen. Das verbleibende Drittel der Befragten kann weder eindeutig als gläubig noch als ungläubig bezeichnet werden, sondern ordnet sich irgendwo zwischen diesen beiden Positionen ein.
Tabelle 3: Glaube an Gott in unterschiedlichen Geburtskohorten
Aufschlussreich sind nun wiederum die Differenzen zwischen den einzelnen Geburtskohorten, wie sie schon in weiter vorn bei den Taufen unterschieden wurden: In der ältesten Kohorte der zwischen 1917 und 1935 Geborenen bekundet noch eine absolute Mehrheit von 54 Prozent, ohne Zweifel an Gott zu glauben; der Anteil derjenigen, die dies mit nur gelegentlichen Zweifeln tun, ist hier mit 28 Prozent ebenfalls überdurchschnittlich hoch. In den nachfolgenden Geburtsjahrgängen nimmt der Anteil der Gottgläubigen tendenziell deutlich ab. In der Altersgruppe der jungen Erwachsenen beträgt er gerade noch 48 Prozent, wenn man beide Kategorien zusammenzieht. Die Gruppe der Zweifler und Unentschlossenen, mit insgesamt etwa 13 Prozent in der ältesten Kohorte ebenfalls viel kleiner als in den anderen Altersgruppen, nimmt dagegen von den älteren zu den jüngeren Geburtskohorten hin sukzessive zu und ist bei den jungen Erwachsenen der Gruppe der an Gott Glaubenden zahlenmäßig ebenbürtig (46 Prozent). Die Zahl derjenigen, die den Glauben an Gott entschieden ablehnen, unterscheidet sich dann aber zwischen den Kohorten interessanterweise kaum und bewegt sich in den einzelnen Altersgruppen zwischen 4 und 8 Prozent. Alles in allem scheint sich auch für Russland ein Trend abzuzeichnen, der sich seit Jahren schon in Westeuropa ablesen lässt – dass sich nämlich im Zuge der Generationenabfolge der Anteil der Zweifler sowie derjenigen, die nicht an einen konkreten Gott, sondern an ein unbestimmtes höheres Wesen glauben, auf Kosten der unzweifelhaft an Gott Glaubenden sukzessive erhöht.
IV.
Was lässt sich aus den zugegebenermaßen bestenfalls schnappschussartigen Darstellungen schlussfolgern? Festzuhalten bleibt, dass die Haltung der russischen Bevölkerung zu ihrer Kirche und zur Religion auch vor allem im europäischen Vergleich durchaus in gewisser Weise eine besondere ist. Das Bild, das die Anhängerschaft der Orthodoxie in Russland abgibt, fällt dabei jedoch ambivalent aus: Einerseits stellt die Orthodoxie für die große Mehrheit der Bevölkerung zweifellos einen zentralen Grundpfeiler in ihrem kulturellen und nationalen Selbstverständnis dar. Andererseits jedoch sind die Menschen kaum bereit, sich aktiv in die Kirche bzw. in die Gemeinde einzubringen; die Glaubensvorstellungen sind oft diffus, kirchlich-religiöse Praktiken sind nicht sehr verbreitet.
Betrachtet man die Haltungen und Praktiken der Jüngeren in dem Sinne, dass sie die mögliche Zukunft der Religion anzeigen, dann ist ein weiterer Aufschwung kaum zu erwarten. Abgesehen vom bloßen Bekenntnis der Zugehörigkeit lassen sich in der Generation, die nach dem Kommunismus, d. h. in Zeiten religiöser Freiheit aufgewachsen ist, zumindest bisher kaum Anzeichen einer tieferen Verankerung in der Orthodoxie erkennen.
Fußnoten:
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Vgl. Olaf Müller: Kirchlichkeit und Religiosität in Ostmittel- und Osteuropa. Entwicklungen – Muster – Bestimmungsgründe. Wiesbaden 2013. ↩︎
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Da die hier verwendete Datenbasis einer allgemeinen Bevölkerungsumfrage entstammt (s. u.), in der das Mindestalter der Befragten (wie in den meisten vorliegenden Umfragen zu diesem Thema) 18 Jahre beträgt, sind hier streng genommen keine Aussagen über „die Jugend“ möglich. Die im Folgenden im Fokus stehende jüngste Altersgruppe der „jungen Erwachsenen“, die der avisierten Gruppe der Jugendlichen noch am nächsten kommt, ist die der Jahrgänge 1986 bis 1991, die zum Befragungszeitpunkt zwischen 18 und 23 Jahre alt war. ↩︎
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Levada-Zentrum: Religion und Religiosität in Russland. Datensatz. Moskau 2009. Vgl. dazu auch Nadeschda Beljakowa: Religiöses Leben im heutigen Russland – Ideal und Wirklichkeit. In: OST-WEST. Europäische Perspektiven 11 (2010), H.1, S. 54-63 (der gedruckten Ausgabe). ↩︎
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Diese Prozentzahl stellt die Taufrate im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung dar. Die höhere Taufrate von 85 Prozent in Tabelle 1 ergibt sich aus der Tatsache, dass dort Muslime, Juden und Buddhisten nicht eingerechnet sind. ↩︎
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Jeweils etwa die Hälfte der Befragten gibt an, an solchen Tagen zumindest manchmal den Gottesdienst zu besuchen. ↩︎