Strategien gegen Menschenhandel in Mittel- und Südosteuropa seit 2004

Eine Zwischenbilanz
aus OWEP 2/2015  •  von Bärbel Heide Uhl

Dr. Bärbel Heide Uhl ist Politikwissenschaftlerin, Autorin und Herausgeberin wissenschaftlicher und praxisorientierter Publikationen zu den Themen Menschenhandel, Sicherheitspolitik und Datenschutz. Sie arbeitete als Politikberaterin für die OSZE, die EU und den Europarat und war 2007-2001 Versitzende der EU-ExpertInnengruppe zur Bekämpfung von Menschenhandel. Ihr derzeitiger Arbeitsschwerpunkt sind globale Datenpolitiken.

Zusammenfassung

Zur Bekämpfung des Menschenhandels hat es in den letzten Jahren eine Reihe internationaler Vereinbarungen gegeben, die die grenzüberschreitende Zusammenarbeit der verschiedenen mitwirkenden Behörden koordinieren und darüber hinaus sowohl die Verfolgung der Täter als auch den Schutz der „gehandelten“ Menschen verbessern sollen. Der Beitrag vermittelt einen Überblick über diese Abkommen und wirft einen kritischen Blick auf die Institutionalisierung und Spezialisierung von Menschenhandelspolitiken in Europa.


Der Beitrag beruht auf einem Vortrag, den die Autorin auf der von Renovabis und der Hanns-Seidel-Stiftung organisierten Konferenz „Stopp dem Frauenhandel! Brennpunkt Osteuropa“ am 17.10.2014 in München gehalten hat (vgl. dazu auch http://www.gegen-frauenhandel.de/fachtagungen/fachtagung-2014).

Einleitung

Der bulgarische Filmregisseur und Drehbuchautor Stephan Komandarev erzählt in seinem aktuellen Film „Judgement – Grenze der Hoffnung“ (2014) die Geschichte von Mityo, einem ehemaligen Grenzsoldaten der bulgarischen Volksarmee, der sich aufgrund seiner miserablen finanziellen Situation anheuern lässt, Flüchtlinge aus Syrien und anderen Regionen gegen Bezahlung über die türkisch-bulgarische Grenze in das EU-Mitgliedsland Bulgarien zu schleusen. Eine Ironie dieser Erzählung liegt in der Tatsache, dass Mityo als noch aktiver Grenzsoldat in den Zeiten der Ordnung des Warschauer Pakts eben diese bulgarisch-türkische Grenze von der anderen Seite her kontrolliert hatte. Er schoss u. a. auf BürgerInnen aus der DDR, die aus dem totalitären Herrschaftsregime mit sozialistischem Anstrich in Richtung der für sie freien Türkei zu fliehen versuchten.1

Diese Darstellung von Grenzüberschreitungen, bei denen Menschen bei der Übertretung innerhalb weniger Jahre mal von der einen, dann von der anderen Seite her ihr Leben riskieren, kann uns als eine Parabel vor Augen führen, wie kurzfristig und nicht-durchdacht die politische und wirtschaftliche Einteilung von Europa in „Ost“ und „West“ ist. Migrationen werden häufig mit Menschenhandel gleichgesetzt und nicht nur in Westeuropa im öffentlichen Diskurs als „erzwungene Armutszuwanderung“ beschrieben oder im Falle von Menschenhandel zur sexuellen Ausbeutung als „Armutsprostitution“ gekennzeichnet. Diese Darstellung ist aus mehreren Gründen problematisch: Zum einen erschwert eine allzu leichtfertige Gleichsetzung von Migration, Prostitution und Menschenhandel die individuelle Dokumentation von Gewalterfahrung, Missbrauch und Ausbeutung durch die einzelnen Verbrechensopfer, zum anderen wird ausgeblendet, dass EU-Mitgliedsstaaten im geografischen Südosteuropa wie Bulgarien und Rumänien auch als Zielländer für (Arbeits)-MigrantInnen fungieren.

Darüber hinaus wird Migration dadurch in Europa ausschließlich auf ein Phänomen reduziert, das der Logik des wirtschaftlichen Gefälles folgt. (Im)Migration hatte und hat immer noch für die vielfältige und multi-linguale europäische Geschichte über Jahrhunderte hinweg einen identitätsstiftenden Charakter, der nicht nur einzelnen MigrantInnen und ihren Familien, sondern auch Regionen wirtschaftliche und kulturelle Prosperität brachte.

Es scheint, dass zurzeit durch den Krieg in der Ukraine eine eigentümliche Rhetorik vorherrscht, die die europäische Ordnung des Kalten Krieges und des Eisernen Vorhangs zu restaurieren versucht. Diese Sichtweise ist nicht nur fatal für das demokratische und zivilgesellschaftliche Bestreben in den europäischen Transformationsgesellschaften, sondern würde auch für die nachstehende Erörterung der Politiken gegen Menschenhandel zu kurz greifen, denn im Folgenden gehe ich von der Prämisse aus, dass Maßnahmen gegen Menschenhandel nicht nur von West- nach Osteuropa übertragen, sondern dass Politiken gleichzeitig oder auch zeitlich verschoben in verschiedenen europäischen Regionen durch souveräne Staaten und autonome Zivilgesellschaften ausgestaltet wurden.

Die Institutionalisierung der Bekämpfung von Menschenhandel in der EU

Die Bekämpfung von Menschenhandel stellt einen Komplex von verschiedenen Politikfeldern und Regierungstechnologien dar, die in den letzten zehn Jahren vor allem durch Verrechtlichung und Institutionalisierung geprägt wurden.2

Das Abschlussdokument der Pekinger Aktionsplattform 1995 kategorisierte „Frauenhandel“ als Form von Gewalt gegen Frauen und benannte ausschließlich Zwangs- und Ausbeutungsformen, enthielt sich jedoch jeglicher Opferbeschreibungen.

Die Haager EU-Ministererklärung von 1997, welche als eines der ersten hochrangigen europäischen Anti-Menschenhandelsdokumente gilt, führt den Opferschutz lediglich als Unterkapitel in der Textstruktur der Strafverfolgung auf und verzichtet auf Opferzuschreibungen. Man ging davon aus, dass die Opfer des Verbrechens Menschenhandel – ähnlich wie Vergewaltigungsopfer und Betroffene von häuslicher Gewalt – in eigener Handlungsvollmacht Opferschutz-Strukturen aufsuchen würden.

Spätestens mit der Zeichnung der „UN-Konvention zur Bekämpfung transnationaler organisierter Kriminalität“ (15. November 2000) und deren Zusatzprotokoll zur Verhütung von Menschenhandel – die als „Palermo-Protokoll“ die erste internationale rechtsverbindliche Definition des Straftatbestands Menschenhandel enthält –, wurde Opferschutz, obwohl nicht rechtsverbindlich, so doch semantisch als eigenständiges Politikfeld weltweit legitimiert. Menschenhandel in Europa hat sich seit der Verabschiedung der UN-Konvention gegen transnationale organisierte Verbrechen im Jahr 2000 als Politikfeld zunehmend institutionalisiert und spezialisiert. Neben europäischen Gesetzestexten wie der EU-Richtlinie 2011/36/EU zur Verhütung und Bekämpfung des Menschenhandels und zum Schutz seiner Opfer (2011)3 und der Europaratskonvention zur Bekämpfung von Menschenhandel (2005) wurden im letzten Jahrzehnt auf europäischer Ebene auch ExpertInnen-Gruppen, Monitoring-Mechanismen und Berichterstattungsstellen eingerichtet.4

Obwohl die Politiken zur Bekämpfung von Menschenhandel als gemeinschaftlicher Besitzstand (der sogenannte EU-Acquis) Teil der EU-Beitrittsverhandlungsmasse waren für die jeweiligen Länder in Mittel- und Osteuropa, sind die Umsetzungen des Acquis in den EU-Mitgliedsstaaten jedoch sehr unterschiedlich. Als Beispiel möchte ich die innerstaatlichen Weiterleitungs- und Koordinierungsmechanismen, die „National Referral Mechanisms“ (NRM) anführen.5 Das Konzept der NRM wurde 2004 durch die OSZE entwickelt und 2005 durch den EU-Aktionsplan für die Umsetzung in den EU-Mitgliedsstaaten empfohlen.6 Sie beinhalten eine Anleitung für eine multi-disziplinäre und cross-sektorale Koordinierungsstruktur, die die verschiedenen relevanten Ministerien, Polizei und Zivilgesellschaft zwecks regelmäßiger Absprachen und gemeinsamem Vorgehen gegen Menschenhandel zusammen bringt. Darüber hinaus definiert das Konzept der NRM Kooperationsabkommen zwischen Strafverfolgungsbehörden und NGO-Fachberatungsstellen, um den unbürokratischen Zugang von betroffenen Menschen zu Beratung und Recht zu gewährleisten.

In einigen EU-Mitgliedsstaaten, wie z. B. in Deutschland und Österreich, findet sich die NRM-Struktur als dezentrale Multi-Stakeholder-Struktur wieder, während in den EU-Mitgliedsstaaten Rumänien und Bulgarien die Koordinierung als eigener Arbeitsstab im Innenministerium (Rumänien) oder auf der Ebene des Regierungskabinetts angesiedelt ist (Bulgarien).7

Die Vorteile der Institutionalisierungen und Verrechtlichungen von Politiken gegen Menschenhandel scheinen auf der Hand zu liegen: So ermöglichen Joint Investigation Teams (JITs) den Strafverfolgungsbehörden aus Ziel- und Herkunftsländern, koordiniert von EUROPOL, die Durchführung gemeinsamer Ermittlungen.8 Opfer von Menschenhandel können durch Kooperationsabkommen, Identifizierungsinstrumente und geschulte Sicherheitsbehörden Zugang zu Beratung und Rechtsinstrumenten erlangen und stehen – sofern es sich um EU-BürgerInnen handelt –nicht mehr wie in den neunziger Jahren in Gefahr, mit sofortiger Wirkung in das Herkunftsland abgeschoben zu werden. Auch wenn die Anerkennung ihrer Freizügigkeit, und verbunden damit die Ermöglichung des Zugangs zu finanzieller Unterstützung, ein schwieriges Unterfangen bleibt, ist jedoch die Möglichkeit durch die EU-Erweiterung grundsätzlich gegeben.

Menschenhandel und Menschenrechte

Es gibt jedoch auch eine andere, eine menschenrechtliche Lesart zur europäischen Institutionalisierung der Menschenhandelspolitiken. Die Verankerung von Opferdefinitionen und -schutzmaßnahmen als integraler Teil einer strafrechtlichen Definition – und nicht als eigenständiges Menschenrechtsinstrument – fördert analoges Verwaltungshandeln der Behörden: Opfer – nicht nur Täter – müssen nun identifiziert werden, um der Umsetzung gerecht zu werden. Dadurch wird der gehandelte Mensch zum Risikosubjekt erklärt, wenn er oder sie durch die Behörden als Opfer identifiziert wurde. Er wird interviewt, Informationen über ihn und seine personenbezogenen Daten werden registriert und eventuell an andere kompetente Behörden im Ziel- und/oder Herkunftsland weitergeleitet.9

Menschenhandel lässt sich jedoch nicht durch die Registrierung vermuteter Opfer bekämpfen, sondern lediglich und ausschließlich durch deren Ermutigung und Stärkung ihrer Handlungsvollmacht, um sich Hilfe zu holen, das Verbrechen anzuzeigen, Rechte auf Entschädigung durchzusetzen und ein möglichst angstfreies Leben zu führen. Dazu gehört, dass ehemalige Opfer von Menschenhandel in ihrem neuen, gewaltfreien Leben nicht stigmatisiert werden.

Die ursprüngliche Idee der Menschenrechte war die einer dem Staat und dessen Gesetzen übergeordneten Instanz des Sprechens. Das Leiden von Individuen konnte durch die Menschenrechte (aus)sprechbar werden. Sie stellten einen allgemein akzeptierten Katalog dar, durch den der Mensch – gerade als Nicht-StaatsbürgerIn und daher nicht im Genuss von staatsbürgerlichen Rechten stehend – seine/ihre Zugehörigkeit zur politischen Gemeinschaft der „Menschheit“ ausdrücken und einklagen kann: „Menschenrechte sind gegen die Gewalt des Definierens angelegt; sie werden eingesetzt, um das strenge Recht zu überschreiten. Mit ihrer eigenen Verrechtlichung geht also die Souveränitätsfunktion verloren, die sie als Instanz über allen Gesetzen innehat.“10


Literaturhinweise:


Fußnoten:


  1. Siehe Informationen zu dem Film unter http://www.farbfilm-verleih.de/filme/judgment/?context=cinema↩︎

  2. Eine detaillierte Analyse von Anti-Trafficking Politiken zwischen 1995 und 2009 und die Entstehung des „gehandelten Menschen“ als rechtlich-ontologische Identität findet sich in Bärbel Heide Uhl: Die Sicherheit der Menschenrechte. Bekämpfung des Menschenhandels zwischen Sicherheitspolitik und Menschenrechtsschutz. Bielefeld 2014. ↩︎

  3. Auszüge der Richtlinie sind in diesem Heft abgedruckt (S. 148-152 der gedruckten Ausgabe). ↩︎

  4. So etwa durch die OSZE und den Europarat („Group of Experts on Action against Trafficking in Human Beings“, kurz GRETA). ↩︎

  5. OSZE/ODIHR: National Referral Mechanism. Joining the Efforts to Protect the Rights of Trafficked Persons. A Practical Handbook. Warschau 2004. (ODIHR ist die englische Abkürzung für das OSZE-Büro für Demokratische Institutionen und Menschenrechte in Warschau.) ↩︎

  6. EU plan on best practices, standards and procedures for combating and preventing trafficking in human beings. OJ C 311/1, 09.12.2005. ↩︎

  7. Zu Rumänien: Agency against Trafficking in Persons, http://www.anitp.mai.gov.ro/; zu Bulgarien: National Commission for Combating Trafficking in Human Beings, http://antitraffic.government.bg/en/↩︎

  8. Vgl. https://www.europol.europa.eu/content/page/joint-investigation-teams-989↩︎

  9. Siehe zu grenzübergreifenden Identifizierungsinstrumenten und Datenweiterleitung die Studie datACT: Herausforderungen des Datenschutzes in der Politik gegen Menschenhandel. Ein Praxisleitfaden. Berlin 2015, S. 86 (vollständige Angaben unter „Literaturhinweise“). ↩︎

  10. Cornelia Vismann: Instanz des Sprechens – Instrument der Politik. In: Christoph Menke, Francesca Raimondi (Hrsg.): Die Revolution der Menschenrechte. Grundlegende Texte zu einem neuen Begriff des Politischen. Berlin 2011, S. 161-185, hier S. 181. ↩︎