Alexander Newski – Russlands unsterblicher Held

Prof. Dr. Frithjof Benjamin Schenk ist Professor für Osteuropäische Geschichte an der Universität Basel. Er hat sich in seiner Dissertation mit der langen Erinnerungsgeschichte Alexander Newskis befasst. Aktuell forscht er zur Geschichte geografischer Mobilität und zu autobiografischem Schreiben von Frauen in Russland in der späten Zarenzeit.

Zusammenfassung

Im Jahr 2008 wählte das russische Fernsehpublikum Alexander Newski zur wichtigsten Figur der Geschichte Russlands. Wer war dieser sagenumwobene Held von der Newa, der als Fürst von Nowgorod im 13. Jahrhundert mehrere legendäre Schlachten gewann? Wie verlief seine Karriere an die Spitze des russischen Heldenpantheons? Wie lässt sich die Popularität des Fürsten im heutigen Russland erklären? Frithjof Benjamin Schenk sucht in seinem Beitrag nach Antworten auf diese Fragen.

Im Jahr 2021 soll in Russland im großen Stil der 800. Geburtstag eines Mannes gefeiert werden, den viele Russen als Nationalheld verehren und den manche sogar als bedeutendste Persönlichkeit der eigenen Geschichte betrachten: Alexander Newski, Fürst von Nowgorod und Großfürst von Wladimir, der 1240 und 1242 Schlachten gegen Schweden und den Deutschen Orden gewann und den die Russische Orthodoxe Kirche (ROK) als Heiligen verehrt. Bereits am 23. Juni 2014 unterschrieb Präsident Wladimir Putin einen Erlass, in dem er die russische Regierung mit der Planung des Jubiläums im Jahr 2021 beauftragte. Ziel der Feierlichkeiten sei die „Bewahrung des militär-historischen und kulturellen Erbes und die Festigung der Einheit des russischen [rossijskij] Volkes.“ Im Mai 2017 verabschiedete das Organisationskomitee unter der Leitung des damaligen Kulturministers Wladimir Medinski einen Plan für die Gestaltung des runden Geburtstages, der 132 Punkte umfasst und für dessen Umsetzung neben dem Verteidigungs-, dem Außen- und dem Kulturministerium die Regionalverwaltungen von Moskau, St. Petersburg, Jaroslawl, Nowgorod, Pskow und Wladimir, die Russische Akademie der Wissenschaften, die staatliche Archivverwaltung und die Organisation für Kulturarbeit im Ausland (Rossotrudnitschestwo) verantwortlich sind. Geplant sind neben Ausstellungen, Konferenzen, Konzerten, Theater- und Filmvorführungen, Malwettbewerben für Kinder, historischen Re-enactments und der Restaurierung von Kirchen der Bau eines neuen Museums am Ufer des Peipus-Sees sowie die Errichtung eines neuen Newski-Denkmals in Nischni Nowgorod.

Entwurf des neuen Denkmals für Alexander Newski in Nischni Nowgorod1

Auch innerhalb der ROK laufen die Geburtstagsvorbereitungen auf Hochtouren. Hier werden die Planungen von keinem geringeren als Patriarch Kirill geleitet. Die Erinnerung an Alexander Newski, das machen die Aktivitäten zu seinen 800. Geburtstag deutlich, erlebt im heutigen Russland eine erstaunliche Konjunktur. Wie lässt sich die Popularität eines Menschen erklären, der vor knapp achthundert Jahren gelebt hat und von dem wir aus historischen Quellen nur wenig Verlässliches wissen?

Wer war Alexander Newski?

Alexander Jaroslawitsch, der nach seinem Sieg über die Schweden in der Schlacht an der Newa im Jahr 1240 den Beinamen „Newski“ erhielt, wurde im Jahr 1220 (oder 1221) als Sohn des Rjurikiden-Fürsten Jaroslaw Wsewolodowitsch (1191-1246) geboren. Alexanders Geburtsjahr fällt in eine Zeit, die von Historikern als „Zeit der Teilfürstentümer (Udelnaja Rus)“ bezeichnet wird. Der Glanz des Kiewer Reiches war in diesen Jahren bereits verblasst. Teilfürsten rangen um dessen Erbe und um den Führungsanspruch innerhalb des „russischen Landes (russkaja semlja)“. Im Streit um den Großfürsten- und Metropolitensitz setzte sich zunächst das Fürstentum Wladimir-Susdal gegen konkurrierende Ansprüche durch. Als Großfürst von Wladimir-Susdal stieg Alexanders Vater Jaroslaw im Jahr 1238 zum formal mächtigsten Fürsten des russischen Landes auf. Seit 1215 hatte Jaroslaw Wsewolodowitsch bereits mehrfach auch das Amt des Wahlfürsten von Nowgorod bekleidet, jener reichen Stadtrepublik im nördlichen Russland, die innerhalb der russkaja semlja eine eigene oligarchisch-demokratische Verfassungstradition entwickelt hatte. Seit dem 12. Jahrhundert pflegten die Mächtigen von Nowgorod den eigenen Fürsten durch eine städtische Volksversammlung (wetsche) wählen zu lassen und diesen in einem Vertrag auf die Respektierung der „völligen Nowgoroder Freiheit“ zu verpflichten. Jaroslaw ließ sich als Wahlfürst gelegentlich auch von seinen Söhnen vertreten. Im Jahr 1236 setzte er seinen fünfzehnjährigen Sohn Alexander als Statthalter in der Stadtrepublik ein.

Die Regentschaft Alexander Jaroslawitschs als Fürst von Nowgorod fiel in eine außenpolitisch turbulente Zeit. In den Jahren 1237 bis 1240 unterwarfen die Mongolen bis auf Nowgorod alle russischen Teilfürstentümer unter ihre Tributherrschaft. Warum Nowgorod zunächst das Schicksal der Eroberung erspart blieb, ist in der Forschung umstritten. Möglicherweise wurden die Krieger vom einsetzenden Tauwetter gehindert, weiter nach Norden vorzustoßen. Akute Gefahr drohte der Handelsrepublik in diesen Jahren weniger von Seiten der Mongolen als von den katholischen Nachbarn im Norden und Westen. Im Sommer 1240 stießen Verbände des schwedischen Königs Erik Erikson auf Nowgoroder Herrschaftsgebiet vor. Im Mündungsdelta der Newa, dort, wo Peter der Große Jahrhunderte später die Stadt St. Petersburg gründen sollte, wurde das schwedische Heer jedoch am 15. Juli 1240 von einem Aufgebot unter der Führung Alexander Jaroslawitschs in die Flucht geschlagen.

Ungeklärt ist die Frage, ob der schwedische König mit seinem Angriff den Aufforderungen Papst Gregors IX. (1227-1241) gefolgt war, der mehrfach zu Kreuzzügen gegen die heidnischen und schismatischen Völker im nördlichen und nordöstlichen Europa aufgerufen hatte. Für die These eines koordinierten päpstlichen Angriffsplans gegen die orthodoxen Christen von Nowgorod scheint zu sprechen, dass man in Rom Kunde von der Schwächung der russischen Fürstentümer durch den Angriff der Mongolen hatte und dass kurz nach dem schwedischen Vorstoß im Jahr 1240 mit dem Deutschen Orden eine weitere katholische Streitmacht versuchte, die eigene Macht auf Kosten Nowgorods auszudehnen. Kritiker der These von der westlichen Verschwörung führen ins Feld, dass das katholische Lager in diesen Jahren tief zerstritten gewesen sei und dass sich weder Schweden noch der Deutsche Orden zu Erfüllungsgehilfen päpstlicher Machtphantasien machen lassen wollten.

Bereits im September 1240 stießen Ritter des seit 1237 mit dem Livländischen Schwertritterorden vereinigten Ordo Teutonicus auf russisches Gebiet vor. Gemeinsam mit Verbänden des Bischofs von Dorpat sowie estnischen Vasallen des dänischen Königs eroberte die Bruderschaft zunächst die Grenzfestung Isborsk und nahm wenig später die Stadt Pskow ein. Als Anfang 1241 die ersten Ritter vor den Toren Nowgorods gesichtet wurden, suchte die Stadt bei Großfürst Jaroslaw Wsewolodowitsch um militärische Hilfe an. Fürst Alexander weilte zu dieser Zeit nicht in der Stadt, weil es nach seinem Sieg über die Schweden zum Zerwürfnis zwischen ihm und den Nowgoroder Oligarchen gekommen war. Angesichts der erneuten Bedrohung der Stadtrepublik ließ er sich jedoch zur Rückkehr bewegen und zog gemeinsam mit seinem Bruder und einem Nowgoroder Aufgebot gegen den Ritterorden ins Feld. Am 5. April 1242 kam es auf dem zugefrorenen Peipus-See zum entscheidenden Sieg Alexander Newskis über die Ordensritter. Was sich genau in dieser legendären Schlacht auf dem Eis zugetragen hat, entzieht sich leider unserer Kenntnis. Bereits auf die Frage nach dem Ausmaß der Auseinandersetzung erhält man aus den Quellen widersprüchliche Antworten. Während die Livländische Reimchronik von zwanzig gefallenen und sechs gefangenen Ordensrittern berichtet, beziffert die Erste Nowgoroder Chronik die Verluste des Feindes auf vierhundert Tote und fünfzig Gefangene. In der sowjetischen Historiografie wurde meist darauf hingewiesen, dass mit dem russischen Sieg von 1242 der Verlauf der livländisch-russischen bzw. lateinisch-orthodoxen Grenze des Mittelalters festgelegt worden sei. Tatsächlich kam es in dieser Region jedoch auch in den Folgejahren immer wieder zu Grenzkonflikten.

Nach seinem Sieg über den Deutschen Orden konnte der Held von der Newa seine Machtposition in Nowgorod offensichtlich weiter ausbauen. Selbstbewusst wies er im Jahr 1248 das Angebot von Papst Innozenz IV. (1243-1254) zurück, sich zum „Illustris Rex Novogardi“ krönen zu lassen. Seine standhafte Weigerung, sich durch solch verlockende Angebote ins katholische Lager ziehen zu lassen, rechnet ihm die ROK bis heute hoch an. Seither gilt Alexander nicht nur als Verteidiger des russischen Landes, sondern auch des orthodoxen Glaubens.

Nach dem Tod seines Vaters wurde Alexander im Jahr 1248 vom Großchan der Goldenen Horde mit der Herrschaft über „Kiew und das ganze russische Land“ betraut, während sein Bruder Andrei die Nachfolge als Großfürst von Wladimir antreten durfte. Vier Jahre später rückte Alexander selbst zum Großfürsten auf. Nicht nur Alexander profitierte von dem neuen Herrschertitel, den er 1252 in Sarai, dem Sitz der Goldenen Horde, erhielt. Auch den Mongolen war der mächtige Fürst von Nowgorod von großem Nutzen, schließlich gelang es ihm 1259 mit massivem militärischem Druck, die Tributpflicht der Mongolen auch in der reichen Handelsrepublik durchzusetzen.

Alexander Jaroslawitsch starb am 14. November 1263 in Gorodez an der Wolga auf dem Rückweg von der Goldenen Horde nach Wladimir. In Sarai hatte er sich den Chroniken zufolge darum bemüht, die Mongolen von Strafexpeditionen gegen rebellische Städte des russischen Landes abzuhalten. Kurz vor seinem Tod legte der Fürst nach damaliger Sitte das Mönchsgelübde ab, weshalb er auf den ältesten Heiligenbildern seiner Person aus dem 16. Jahrhundert im Habit eines orthodoxen Mönches zu sehen ist. In einem Grab im Mariä-Geburts-Kloster von Wladimir fand Alexander als Mönch Alexi am 23. November 1263 vorerst seine letzte Ruhe.

Stationen einer Karriere im russischen kulturellen Gedächtnis

Die Karriere Alexander Newskis zu einem der wichtigsten russischen Nationalhelden war Ende des 13. Jahrhunderts noch nicht absehbar. Zunächst wurde die Erinnerung an seine Person von den Mönchen des Mariä-Geburts-Klosters in Wladimir gepflegt, in dessen Mauern sich sein Grab befand und wo Ende des 13. Jahrhunderts vermutlich auch die Urfassung seiner Heiligen-Vita entstand. In diesem Text, der in den folgenden Jahrhunderten vielfach kopiert, erweitert und umgeschrieben wurde, tritt uns Alexander als heiliger und rechtgläubiger Herrscher entgegen, der sich besondere Verdienste um den Schutz des russischen Landes und orthodoxen Glaubens erworben hatte. Anfangs war er ein klassischer Lokalheiliger, der vor allem am Ort seines Grabes, später auch in Nowgorod, als Schutzpatron verehrt wurde. Seine offizielle Kanonisierung durch die ROK erfolgte erst im Jahr 1547 unter der Regentschaft von Zar Iwan IV. (dem „Schrecklichen“). Alexander Newski wurde in dieser Zeit als großer Wundertäter und als Schirmherr des russischen Landes bzw. himmlischer Helfer der Zaren im Kampf gegen äußere Feinde verehrt.

Eine deutliche Zäsur in der Erinnerungsgeschichte Alexander Newskis markiert die Regierungszeit Peters des Großen (1682-1725). Der erste russländische Imperator ließ die Gebeine des Fürsten 1723/24 von Wladimir in die neu gegründete Residenzstadt St. Petersburg verlegen, gründete dort ein prächtiges Alexander-Newski-Kloster und erkor den Heiligen zum Schutzpatron der neuen Hauptstadt und des ganzen Reiches. Es waren vor allem die Verdienste Alexanders im Kampf gegen die Schweden, die Peter I. bewogen, den Helden von der Newa symbolisch derart aufzuwerten. Nach seinem eigenen Triumph über König Karl XII. im Großen Nordischen Krieg beabsichtigte Peter, seinen eigenen Ruhm mit dem seines Vorfahren zu verschmelzen und dadurch zu vergrößern. Peter befahl den, Festtag des Heiligen im orthodoxen Kirchenkalender vom 23. November auf den 30. August, d. h. auf jenen Tag zu verlegen, an dem er selbst 1721 den Friedensvertrag mit Schweden unterzeichnet hatte. Am neuen Feiertag sollte von nun an sowohl an Peters Sieg im Nordischen Krieg als auch an die translatio der Reliquien Alexanders nach St. Petersburg erinnert werden. Zudem befahl der Imperator, der Heilige dürfe in Zukunft auf Ikonen nicht mehr als weltabgewandter Mönch, sondern nur noch im fürstlichen Ornat, das heißt als würdiger Urahn des allrussländischen Kaisers dargestellt werden.

Der heilige Fürst wurde in dieser Zeit vor allem aufgrund seiner Verdienste im Kampf gegen die Schweden, wegen seiner antikatholischen Haltung und seiner umsichtigen Mongolenpolitik verehrt. Es dauerte bis zum Ersten Weltkrieg, bis sich in Russland erste Versuche beobachten lassen, den Heiligen für die patriotische Mobilisierung gegen den deutschen Feind zu instrumentalisieren. Während des Krieges schmückte Alexander Newski als Reiterfigur patriotische Postkarten und Volksbilderbögen (lubki). Diese Beispiele antideutscher Propaganda können jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Instrumentalisierung des mittelalterlichen Fürsten in den Jahren 1914-1917 noch bei weitem schwächer war als während des Großen Vaterländischen Krieges (1941-1945).

Nach der Machtübernahme durch die Bolschewiki im Jahre 1917 brach für den heiligen Alexander in Russland zunächst eine Zeit der Verdrängung und des Vergessens an. Wie andere Herrscher der vorrevolutionären Zeit wurde er aus den Geschichtsbüchern des neuen, sozialistischen Russlands verbannt. Dass Alexander Newski nicht ganz aus dem russischen kulturellen Gedächtnis verschwand, sondern zu einer der wichtigsten historischen Identifikationsfiguren des sowjetischen Heldenpantheons aufsteigen konnte, verdankt er einer radikalen ideologischen Wende Mitte der 1930er Jahre und der Proklamation des Sowjetpatriotismus zum neuen Mittel der Mobilisierung der eigenen Bevölkerung. Die sowjetische Propaganda feierte ihn als genialen Feldherrn und militärischen Strategen und hob seine Fähigkeiten als strenger politischer Führer hervor. Dabei projizierte sie nicht nur wesentliche ideologische Muster des Personenkultes um Stalin in die Vergangenheit, sondern legte dem Helden aus dem 13. Jahrhundert bisweilen auch Worte des großen „Führers der Völker“ in den Mund. So basiert die Schlussrede Alexander Newskis aus dem gleichnamigen Historienfilm von Sergei Eisenstein aus dem Jahr 1938 zum Beispiel in Passagen auf einer Rede Josef Stalins auf dem XVII. Parteitag der Bolschewiki.

Nach dem deutschen Überfall auf die UdSSR im Sommer 1941 wurde Alexander Newski zu einem der wichtigsten historischen Vorbilder des antifaschistischen Abwehrkampfes aufgebaut. Josef Stalin beschwor in seiner berühmten Rede auf dem Roten Platz am 7. November 1941, die Rotarmisten sollten sich in ihrem Kampf vom Geiste Alexander Newskis leiten lassen. Seit 1942 wurden besonders tapfere Befehlshaber der Roten Armee mit dem sowjetischen Alexander-Newski-Orden ausgezeichnet. Die Botschaft des Newski-Kultes der Kriegsjahre war eindeutig: Wie Alexander Newski 1242 den Deutschen Orden, wird das sowjetische Volk die faschistischen Aggressoren in die Flucht schlagen. „Wer mit dem Schwert zu uns kommt, wird durch das Schwert fallen!“ – so lautete die Devise, die Alexander Newski in Eisensteins Historienfilm den Nachbarn des russischen Landes zugerufen hatte.

Auch nach dem „Großen Vaterländischen Krieg“ wurde in der UdSSR an Alexander Newski als militärischer und politischer Führer erinnert, dessen Verdienste in erster Linie in der erfolgreichen Abwehr westlicher Mächte gegen die mittelalterliche Rus gesehen wurden. Die Siege des Nowgoroder Fürsten von 1240 und 1242 zählten zu den wichtigsten historischen Daten der eigenen Geschichte, die jedes sowjetische Schulkind kennen sollte. Die Rückbesinnung an die historischen Verdienste Alexanders erfolgte stets in engen, von staatlicher Seite vorgegebenen Bahnen und entsprach bis 1985 im wesentlichen jenen sowjetpatriotischen Mustern, die sich in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre herausgebildet hatten.

Mit der Wahl Michail Gorbatschows zum neuen Generalsekretär der KPdSU im Jahr 1985 und der von ihm eingeläuteten Phase von Perestrojka und Glasnost erlebte die Erinnerung an Alexander Newski eine neue Phase der Pluralisierung. Im Sommer 1989 konnte die ROK die Rückführung der Reliquien des Heiligen in das ihm geweihte Kloster in St. Petersburg feiern, womit die Resakralisierung der Erinnerung an den Fürsten aus dem 13. Jahrhundert in Russland eingeläutet wurde. Bei der Verwaltung des Erbes des heiligen Alexander spricht die orthodoxe Kirche heute wieder ein gewichtiges Wort mit.

Die Erinnerung an Alexander Newski im heutigen Russland

Seit dem Zerfall der Sowjetunion im Jahr 1991 lässt sich in Russland ein wahrer Boom der Erinnerung an den Heerführer aus dem 13. Jahrhundert beobachten. In zahlreichen Städten wurden dem Fürsten neue Denkmäler errichtet, der russische Buchmarkt erlebte eine regelrechte Flut neuer und wiederaufgelegter Publikationen über den Helden von der Newa, 2008 kam der Blockbuster „Alexander. Schlacht an der Newa“ in die russischen Kinos, in der Newski dem Publikum als ein mittelalterlicher Silvester Stallone vorgestellt wird. Im gleichen Jahr wurde der Held aus dem 13. Jahrhundert vom Publikum einer russischen TV-Show zur wichtigsten Persönlichkeit der russischen Geschichte gekürt.

Vor allem staatliche und kirchliche Stellen pflegen das Erbe Alexander Newskis im heutigen Russland. Im Dezember 2010 verlieh der russische Präsident erstmals den staatlichen Alexander-Newski-Verdienstorden der Russischen Föderation, der an die Tradition gleichnamiger Auszeichnungen aus dem Zarenreich und der UdSSR anknüpft. Bereits 2007 feierte der russische Außenminister Sergei Lawrow den Helden aus dem 13. Jahrhundert als Begründer einer flexiblen russischen Außenpolitik, die für Allianzen mit unterschiedlichen Partnern in „West“ und „Ost“ offen sein müsse.

Im heutigen Russland eignet sich Alexander Newski aus mehreren Gründen als nationale Identifikationsfigur. Er ist erstens eine historische Persönlichkeit aus der vorrevolutionären Zeit, die nach dem Zerfall der sowjetischen Geschichtsdoktrin in einem z. T. verklärenden Licht gesehen wird. Zweitens war Newski seit den späten 1930er Jahren auch eine positiv besetzte Figur des sowjetischen Heldenpantheons, weshalb heute in Russland Vertreter jeder Generation mit seinem Namen etwas anzufangen wissen. Drittens symbolisiert der Held Stärke und Standhaftigkeit Russlands gegenüber Feinden aus dem Westen. In einer Zeit, in der sich das Land einer vermeintlichen Einkreisung durch den „Westen“ gegenübersieht, sich dezidiert von politischen Leitbildern des Okzidents abwendet und auf eine eigene zivilisatorische Entwicklung pocht, eignet sich der Nowgoroder Fürst hervorragend als „neue“ nationale Heldenfigur. Viertens lässt sich Newskis Biografie hervorragend in die Erzählung über die ruhmreichen Kapitel der russischen Militärgeschichte einfügen, die seit den frühen 2000er Jahren ein wichtiges Fundament der patriotischen Erziehung der Jugend bildet.

Mit kritischen Tönen wird heute in Russland nur noch an wenigen Orten an Alexander Newski erinnert. Dem Hurra-patriotischen Mainstream widersetzt sich beispielsweise eine Ausstellung im „Jelzin-Zentrum“ in der Millionenstadt Jekaterinburg, in dem die Geschichte Russlands als die eines Landes erzählt wird, das nach Freiheit strebt. In einem aufwändig gestalteten Zeichentrickfilm über die Geschichte Russlands im Schnelldurchlauf tritt auch Newski auf, jedoch nicht als Sieger über Feinde aus dem Westen, als Beschützer der Orthodoxie oder als geschickter Diplomat. Erwähnung findet nur, dass Newski als Wahlfürst von Nowgorod mehrmals von den demokratisch gewählten Institutionen der Handelsrepublik seines Amtes enthoben wurde und sich der Fürst dem Streben seiner Untertanen nach Freiheit und Selbstbestimmung immer wieder beugen musste. Es bleibt abzuwarten, wie lange sich diese unorthodoxe Lesart des Helden von der Newa im heutigen Russland halten kann.


Literaturhinweise:

  • Frithjof Benjamin Schenk: Aleksandr Nevskij: Heiliger – Fürst – Nationalheld. Eine Erinnerungsfigur im russischen kulturellen Gedächtnis (1263-2000). Köln 2004.
  • Mariëlle Wijermars: Memory Politics in Contemporary Russia: Television, Cinema and the State. London 2018.

Fußnote:


  1. Quelle: https://nizhny800.ru/assets/photovid/AN.pdf (Abbildung auf der Website zum Thema „800 Jahre Nischni Nowgorod). ↩︎