Atomkraft ist eine Klimaschutztechnologie
Zusammenfassung
Andere Industrieländer wie Frankreich oder Schweden stoßen dank ihres Energiemixes aus Kernenergie und erneuerbaren Energien einen Bruchteil der deutschen Pro-Kopf-Kohlendioxidemissionen aus. Ein solcher Mix wäre auch für Deutschland richtig, argumentiert die Technikhistorikerin Anna Veronika Wendland in ihrem Plädoyer für die Kernkraft und gegen den deutschen Atomausstieg.
Am 7. Februar 2021 wurden die Deutschen Weltmeister. Allerdings fand dieses Ereignis weitgehend unbeachtet von der Öffentlichkeit statt, denn der Titel, der da vergeben wurde, bezog sich auf die CO2-arme Stromerzeugung. Weltmeister wurde das Atomkraftwerk Grohnde im Weserbergland. Seine Gesamtstromerzeugung erreichte an diesem Tag den Weltrekord von 400 Terawattstunden, das entspricht dem Stromverbrauch aller Haushalte Deutschlands über dreieinhalb Jahre hinweg. Gleichzeitig sparte Grohnde insgesamt 400 Millionen Tonnen CO2 ein – und half so, einige tausend vorzeitige Todesfälle infolge Luftverschmutzung durch Stickoxide und Feinstaub zu verhindern. All diese Stoffe wären in die Atmosphäre gelangt, wäre anstelle Grohndes ein Kohlekraftwerksblock derselben Leistung errichtet worden. Weltweit hat die Kernenergie rund 1,84 Millionen Luftverschmutzungs-Tote verhindert und 64 Gigatonnen CO2-Äquivalent an Treibhausgasen eingespart.
Doch am 31. Dezember 2021 wird Grohnde, der Klimaweltmeister, im Zuge des deutschen Atomausstiegs stillgelegt. 2022 werden die letzten KKW vom Netz gehen, allerdings zu hohen Klimakosten: Wir werden so um ein Einsparpotenzial von gut zehn Prozent des CO2-Gesamtausstoßes gebracht.
Atomkraft ist eine komplementäre Lösung
Kernenergie hat laut Weltklimarat IPCC im Mittel eine CO2-Bilanz wie die Windkraft, 12 g CO2-Äquivalent pro Kilowattstunde. Sie kann also mit Fug und Recht als Klimaschutztechnologie bezeichnet werden und wird vom IPCC auch so behandelt. Die vielversprechendsten Szenarien des IPCC zur Verlangsamung der Erderwärmung schließen Kernenergie ein. Kernkraftwerke sind zudem hoch zuverlässig: Die deutschen Anlagen führen auch bei der Verfügbarkeit mit Lastfaktoren zwischen 80 und 95 Prozent die Weltstatistiken an. Zum Vergleich: Die deutsche Windkraft liegt bei durchschnittlich 30 Prozent, die Photovoltaik bei rund 10 Prozent, das heißt nur diesen Anteil an Jahresstunden laufen die Anlagen auf ihrer Nennleistung.
Da die deutsche Energiewende vor allem auf diesen beiden tageszeit- und wetterabhängigen Erzeugern aufbaut, ergibt sich mit einem steigenden Anteil an erneuerbaren Energien (EE) im Netz immer auch ein Speicherproblem. Gibt es keine Kurz- und Langzeitspeicher, um Überschüsse für trübe Flautetage aufzuheben, muss ein Schattenkraftwerkspark die Absicherung übernehmen. Wir könnten den Strom aus Kernkraftwerken also wirklich brauchen, zumal in Zukunft auch Mobilität und Wärmemarkt mit CO2-arm erzeugtem Strom versorgt werden sollen, was den Stromverbrauch auf das mindestens Dreifache steigen lässt. Heutige Kernkraftwerke sind lastfolgefähig, gleichen also schon jetzt EE-generierte Schwankungen des Netzes aus. In einem von EE geprägten Netz könnten sie auch Volllast fahren und neben dem Landesnetz zusätzlich einen Elektrolysepark zur Wasserstoffgewinnung versorgen.
Schlechte Alternativen
Doch wer die Atomkraft nicht will, Speicher nicht hat und aus der Kohle aussteigen soll, der wird in Zukunft einen erdgasgefeuerten Schattenkraftwerkspark bekommen. Das ist nicht nur teuer, sondern auch klimaschädlich: Erdgaskraftwerke in Teillast haben relativ hohe spezifische CO2-Emissionen; bei Gewinnung und Transportkette des Erdgases gelangt das stark klimawirksame Methan in die Atmosphäre.
Heute kommt die Kernenergie noch für gut zwölf Prozent der deutschen Stromerzeugung auf; die Photovoltaik brauchte 20 Jahre und viele Milliarden an Fördermitteln, um diesen Anteil zu erreichen. Deutschland, das um 2000 noch ein Drittel seines Stroms mit Kernenergie erzeugte, hat also zu großen Teilen wieder eingerissen, was es mit dem Ausbau der EE an klimafreundlicher Stromerzeugung aufbaute. Unter anderem aus diesem Grunde erreicht es seine Klimaziele nicht. Statt die Kernenergie zu verabschieden, hätten wir viel schneller aus der Kohleverstromung aussteigen müssen, die uns nun bis 2038 erhalten bleibt.
Andere Industrieländer wie Frankreich oder Schweden stoßen dank ihres Energiemixes aus Kernenergie und EE einen Bruchteil der deutschen Pro-Kopf-Kohlendioxidemissionen aus. Ein solcher Mix wäre auch das Beste für unser Land, denn er würde den Ausbau der EE absichern, ohne aber gleichzeitig zu viel Druck auf die Natur- und Kulturlandschaften auszuüben, in denen die geplanten Windkraftkapazitäten errichtet werden sollen. Denn Kernenergie bringt einen weiteren Vorteil mit sich: Sie ist dank ihrer Energiedichte extrem platzsparend unterzubringen und greift, anders als Windkraft und vor allem Biomasse-Energie, kaum zum Schaden der Biodiversität in Ökosysteme ein.
Die Argumente der Gegner
Doch meldet sich auch die Anti-Atom-Bewegung in der Klimadebatte zu Wort, weil sie eine Renaissance der Kernenergie unter einem globalen Klimaschutzregime befürchtet. Atomgegner führen an, Kernenergie sei zu teuer, zu gefährlich und zu langsam, um eine legitime Klimaschutztechnologie sein zu können.
Tatsächlich haben KKW-Neubauten weit höhere Errichtungskosten als etwa Windkraft oder Photovoltaik, doch sobald man Energiesysteme mit den EE-typischen Kosten für Netzstabilisierung, Backup und Speicher betrachtet und die kurzen Lebensdauern der EE-Anlagen betrachtet, schmilzt der Preisvorsprung der EE dahin. Dasselbe gilt für die Geschwindigkeit der CO2-Einsparung; auch hier entscheidet nicht die Bauzeit der Einzelanlagen, sondern die des Gesamtsystems.
Selbst unter Berücksichtigung der Opfer von Atomunfällen wie in Tschernobyl (Ukraine) und Fukushima (Japan) liegen die globalen Opferzahlen der Kernenergie pro MWh auf Höhe der Windkraft oder Photovoltaik. Dies deckt sich zwar nicht mit der Risikowahrnehmung von Atomgegnern, aber mit der statistischen Evidenz. Genauso verhält es sich mit Behauptungen, Niedrigstrahlung aus KKW-Normalbetrieb erzeuge Krebs in der umgebenden Bevölkerung; diesbezügliche Publikationen sind sämtlich widerlegt worden.
Hätte eine Anlage wie das KKW Grohnde im japanischen Fukushima gestanden, wäre der Unfall mit hoher Wahrscheinlichkeit gar nicht geschehen. Deutsche Anlagen müssen für das 10.000jährige maximale Flutereignis ausgelegt sein, Fukushima war nur für das 100jährige Ereignis ausgelegt. Aus diesem Grunde gingen Groß-Tsunamis wider besseres historisches Wissen gar nicht in die Anlagenauslegung ein. Vitale Funktionen wie Notstromaggregate und Schaltanlagen wurden in nicht flutsicheren Kellergeschossen untergebracht, was der Anlage am 11. März 2011 dann auch zum Verhängnis wurde. Grohnde hingegen verfügt über doppelt ausgelegte Notstromsysteme in flutsicheren Gebäuden, Wasserstoff-Rekombinatoren und eine gefilterte Druckentlastung, das heißt selbst im Falle einer Kernschmelze wäre es hier nicht zu Wasserstoffexplosionen und radioaktiver Freisetzung gekommen.
Der Uranabbau, der häufig mit Menschenrechtsverletzungen und Umweltzerstörungen in Verbindung gebracht wird, teilt dieses Problem mit den extraktiven Industrien für Lithium, Cobalt und seltenen Erden, den Grundstoffen der EE-Industrie. Hier kann prinzipiell nur ein Lieferkettengesetz helfen: Uran kann auch in Kanada und Australien beschafft werden, wo Arbeitsschutz- und Umweltstandards hoch sind. Die Lösung des Atommüllproblems ist derzeit auf vielversprechendem Wege: Finnland baut ein Endlager, Schweden hat bereits die Standortwahl abgeschlossen, und selbst in Deutschland hat mit dem Endlagerkonsens nun endlich der Findungsprozess eingesetzt.
In der Fossilfalle
Die apodiktischen Behauptungen antinuklearer Parteien und Bewegungen über die monströs teure und gefährliche Kernenergie sind also nicht stichhaltig. Im Gegenteil: Gerade Atomkraftgegner haben über Jahrzehnte die weit höheren Risiken und Opfer der Kohleverbrennung ignoriert und sie als „kleineres Übel“ akzeptiert. Nach Fukushima wurden im Bericht der Ethikkommission zum deutschen Atomausstieg „moderne“ Kohlekraftwerke und Gaskraft als im Vergleich zur Kernenergie ethischere Alternative bewertet.
Unsere andauernde Abhängigkeit von den fossilen Brennstoffen geht also nicht nur auf das Konto von Politik und Industrie, sondern ist auch der deutschen Ökobewegung anzulasten. Deutschland hat den falschen Weg gewählt, indem es die Klimaschutztechnologie Atomkraft verdammte. Absehbar kann derzeit nur eine kluge und komplementäre Kernenergienutzung Industriestaaten wirkungsvoll so umsteuern, dass die Wirtschaft weniger Kohlenstoff umsetzt.1 __________________________________________________________________________________--