Auch im Klimawandel ist Atomkraft die falsche Technologie
Zusammenfassung
Selbst im Kampf gegen den Klimawandel ist die Atomkraft keine Lösung, findet die ukrainische Umweltaktivistin Iryna Holovko: zu langsam, zu risikoreich und zu teuer. Sie setzt stattdessen auf den Erfolg erneuerbarer Energien und das wachsende Vertrauen in diese Technologien.
Die globale Klimakrise macht es für die Menschheit überlebenswichtig, die Weltwirtschaft so umzusteuern, dass möglichst wenig Kohlenstoff umgesetzt wird. Mehr noch, wir müssen diese ehrgeizige Aufgabe der „Dekarbonisierung“ schnell, sicher und wirtschaftlich bewältigen, denn wir haben weder Zeit noch Geld zu verlieren. Bei all diesen drei Wegen – Schnelligkeit, Sicherheit und Wirtschaftlichkeit – ist Atomkraft jedoch keine Option.
Bei unserem Bestreben, uns aus der Klimakrise zu retten, wollen wir keine neuen Risiken für Natur und Mensch eingehen oder bestehende verschärfen. Aus dieser Perspektive sind nicht alle kohlenstoffärmeren Möglichkeiten der Stromerzeugung gleich. Einige von ihnen sind weniger „umweltfreundlich“ und bringen viele negative und unnötige Probleme mit sich, bei denen es klüger wäre, sie zu vermeiden.
Risiken im Normalbetrieb von Atomkraftwerken
Die Produktion von Elektrizität in Atomkraftwerken (AKW) ist von Natur aus mit intensiver, langanhaltender Radioaktivität und den damit verbundenen Risiken für die menschliche Gesundheit verbunden. Der Abbau und die Anreicherung von Uranerz erzeugen große Mengen an radioaktivem Abfall, sowohl fest als auch flüssig, durch den große Gebiete radioaktiv verseucht werden. Das Verbrennen von Kernbrennstoff in den Reaktoren erzeugt radioaktive Emissionen, die bei regulärem Betrieb in die Atmosphäre abgegeben werden. Mehrere Studien haben einen direkten Zusammenhang zwischen dem Bau und Betrieb von Atomkraftwerken und dem Risiko von Leukämie und anderen Krebsarten bei Kindern gezeigt, die in der Nähe wohnen.
Verbrauchte Brennelemente werden zu hochradioaktivem Abfall, der um ein Vielfaches gefährlicher ist als frischer Brennstoff oder Uranerz. Es hat sich für die Atomindustrie als extrem schwierig erwiesen, eine Lösung für die langfristige Entsorgung dieses Abfalls zu finden – niemand will eine Atommülldeponie in seinem Hinterhof. Zudem ist es schwierig, eine geeignete geologische Struktur zu finden und eine Technologie zu entwickeln, die eine sichere Isolierung des hochradioaktiven Abfalls für Millionen von Jahren garantiert. In einigen Ländern wie Deutschland, den USA, Schweden und Großbritannien läuft die Suche nach einem geeigneten Standort und einer passenden Technologie schon seit Jahrzehnten ohne Erfolg. Finnland ist das einzige Land, in dem der Bau eines Langzeitlagers kurz vor dem Abschluss steht, aber es bleibt abzuwarten, wie erfolgreich das ausgeht.
Schließlich reicht es nicht aus, Atomreaktoren nach dem Ende ihrer Lebensdauer einfach abzuschalten. Der Stilllegungsprozess ist teuer und zeitaufwändig, da er den Abbau und die Entsorgung der verstrahlten Anlagen beinhaltet. Lediglich 19 von 173 abgeschalteten Kernkraftwerken wurden bisher vollständig abgebaut. Länder wie Großbritannien oder Frankreich haben nicht einmal einen ihrer stillgelegten Reaktoren beseitigt.
Die Risiken von schweren Unfällen
Hinzu kommt die Gefahr von schweren Unfällen mit katastrophalen Folgen. Nach unterschiedlichen Schätzungen sind zwischen 4.000 und 985.000 Menschen an Krebserkrankungen als Folge der Tschernobyl-Katastrophe im Jahr 1986 gestorben oder werden noch sterben. Etwa 336.000 Menschen1 wurden gezwungen, Tschernobyl-Flüchtlinge zu werden („Tschernobultsy" in der Diktion der sowjetischen Bürokratie). Noch heute, 35 Jahre danach, werden in Kyjiw und anderen Städten der Ukraine, aber auch im stark betroffenen Nachbarland Belarus in so genannten „Tschernobyl-Krankenhäusern“ immer noch Kinder behandelt, die viele Jahre nach dem Unfall in den Familien der Verstrahlten geboren wurden – Liquidatoren, Evakuierte und solche, die weiterhin in verstrahlten Gebieten leben.
Schwere Atomunfälle passieren häufiger, als man gemeinhin annimmt. Die deutsche Max-Planck-Gesellschaft ermittelte 2012, dass sich Unfälle wie in Fukushima alle zehn bis zwanzig Jahre ereignen könnten, 200mal häufiger als bisher vermutet. Bis 2011 ereigneten sich weltweit bereits elf schwere Unfälle in Atomreaktoren (mit Kernschmelze und/oder Zerstörung des Reaktors) und fünf große Unfälle mit Freisetzung von Radioaktivität in anderen kerntechnischen Anlagen; der berühmteste war 1957 der Unfall im Majak-Atomkomplex in Russland. Diese schweren Unfälle geschahen nicht nur auf dem Gebiet der früheren Sowjetunion, sondern auch in den USA (AKW Enrico Fermi 1969, Three Mile Island 1975), Frankreich (AKW Saint-Laurent 1969) und Japan (AKW Fukushima 2011).
Wachsende Gefahren und Risiken
Die Risiken von Atomunfällen steigen auch mit dem Alter der Reaktoren und mit der zunehmenden Anzahl von Reaktoren/Jahr. Je mehr Reaktoren es gibt und je länger sie laufen, desto höher ist die Gefahr eines weiteren schweren Unfalls mit verheerenden Folgen. Es ist unmöglich, alle möglichen Probleme auszuschließen, da jeder neue Unfall eine weitere Sicherheitslücke aufzeigt. Nach Tschernobyl haben wir gelernt, dass Reaktoren des Typs RBMK nicht sicher sind, also haben wir begonnen, sie zu schließen – in Russland sind sie jedoch noch in Betrieb. Nach Fukushima haben wir gelernt, besser keine AKW in erdbebengefährdeten Gebieten zu bauen (dennoch laufen an solchen Orten immer noch Reaktoren) und für funktionierende Notkühlsysteme zu sorgen (dennoch gibt es im AKW Saporischschja in der Ukraine, dem größten in Europa, seit Jahren keine funktionierenden Notstromdieselgeneratoren). Ist es notwendig, bis zum nächsten Unfall zu warten?
Wir müssen die höchstmögliche Treibhausgasreduktion pro Dollar und pro Jahr erreichen, wenn Geld und Zeit begrenzt sind. Atomenergie ist eine der teuersten der kohlenstoffarmen Optionen. Es ist so, als würde man vorschlagen, hungernde Menschen mit Kuchen zu ernähren. Kuchen ist zwar ein Nahrungsmittel, aber wie viele Menschen könnte man tatsächlich mehr retten, wenn man alle verfügbaren Ressourcen dafür ausgeben würde, ihnen Brot statt Kuchen zu geben?
Im Jahr 2018 betrugen die Kosten für eine Megawattstunde Strom aus einem potenziellen neuen AKW in den USA 112-189 US-Dollar, während sich die Kosten für Photovoltaikanlagen auf 36-46 US-Dollar und für Windkraft auf 29-56 US-Dollar beliefen. Auch die Kostentrends sprechen gegen die Atomenergie: Zwischen 2009 und 2018 sind die Kosten für Photovoltaikanlagen um 88 Prozent und für die Nutzung von Windenergie um 69 Prozent gesunken, während die für Atomenergie um 23 Prozent gestiegen sind2, was sie zur teuersten Stromerzeugungstechnologie macht – im Vergleich zu Kohle, Gas, Wind und Solarenergie.
Vertrauen in erneuerbare Energien
Inzwischen ziehen Projekte für erneuerbare Energien jährlich Hunderte von Milliarden Euro an privaten Investitionen an, was das Vertrauen des Finanzsektors in diese Technologien unterstreicht. Erneuerbare Energien können schnell und in großem Umfang Strom liefern. Seit dem Jahr 2000 stieg die weltweit durch Windenergie erzeugte Kapazität um 547 Gigawatt (GW) und die Solarkapazität um 487 GW. Bei der Atomenergie kamen nur 15 GW (netto) hinzu, und dies fast ausschließlich in Ländern mit einem politischen oder militärischen Interesse an den Nuklearprojekten wie China, Russland oder den Vereinigen Arabischen Emiraten.
Hohe Risiken und hohe Kosten allein würden ausreichen, um die Atomenergie als Option zu verwerfen. Darüber hinaus gibt es jedoch noch ein weiteres Argument: Es ist einfach nicht möglich, genügend Reaktoren zu bauen, um die bestehenden zu ersetzen, die bis 2050 in Europa das Ende ihrer Lebensdauer erreichen werden. Die durchschnittliche Bauzeit für einen Kernreaktor betrug im letzten Jahrzehnt weltweit zehn Jahre. Jedes Jahr gingen zwischen drei und zehn Reaktoren ans Netz. Bis zum Jahr 2050 müsste die Industrie 297 Reaktoren bauen, nur um die alternden Reaktoren zu ersetzen, was zehn Reaktoren im Jahr entspräche. Aufgrund vieler von der Industrie und den Aufsichtsbehörden zugegebener Nachteile wie Engpässe in den Produktionsketten von Schlüsselausrüstungen, Betrügereien, Produktion von minderwertigen Ausrüstungen oder Mangel an qualifiziertem Personal aufgrund von Pensionierungen ist es schwer vorstellbar, dass die Nuklearindustrie in der EU es schafft, schnell mit dem Bau von zehn oder mehr Reaktoren im Jahr zu beginnen.
Heute liefert die Atomenergie nur noch 10,3 Prozent3 der weltweiten Stromversorgung, wobei ihr Anteil von ihrem Höchststand (17,6 Prozent) im Jahr 1996 stetig sinkt. Die horrenden Kosten dieser Technologie, die damit verbundenen Umweltgefahren und das langsame Bautempo machen die Kernenergie zu einem unzuverlässigen Verbündeten im Kampf gegen den Klimawandel.
Aus dem Englischen übersetzt von Thomas Hartl.