„Der Freiheit reinster Sohn“. Tadeusz Kościuszko als polnischer Nationalheld

aus OWEP 3/2020  •  von Markus Krzoska

Dr. habil. Markus Krzoska ist Privatdozent an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Ende 2020 erscheint der von Paweł Zajas und ihm verfasste vierte Band einer deutsch-polnischen Verflechtungsgeschichte bei der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft in Darmstadt.

Zusammenfassung

Ausgehend von der Lebensgeschichte des polnischen Freiheitskämpfers Tadeusz Kośćiuszko (1746-1817) geht der Beitrag insbesondere auf jene biografischen Facetten ein, die später dazu beitrugen, Kośćiuszko als Nationalheld in Polen zu verehren.

Diskussion um einen Helden

Im Juni 2016 diskutierte der Sejm auf Empfehlung der Kommission für Kultur und Massenmedien über die Frage, ob man 2017 zum „Tadeusz-Kościuszko-Jahr“ ausrufen solle. Der polnische Nationalheld war zweihundert Jahre zuvor im schweizerischen Exil gestorben. Der Abgeordnete Mieszkowski hatte nichts dagegen, er wandte sich aber direkt an die Vertreter der Regierungspartei „Recht und Gerechtigkeit“: „Komplett unbewusst können Sie einen Menschen ehren, der Ideen vertreten hat, die Ihnen völlig fremd sind, einen Flüchtling, der viele Male Schutz suchte, … einen in den Schlachten um die Unabhängigkeit Amerikas berühmt gewordenen Menschen, der … den Ideen von Gleichheit, Freiheit, Toleranz und Wertschätzung des Rechts huldigte, der den größten Teil seines Soldes dafür ausgab, dunkelhäutige amerikanische Sklaven freizukaufen und ausbilden zu lassen, … der ein instabiles erotisches Leben führte, verheiratete Frauen traf, uneheliche Kinder zeugte und sogar das Bett mit Männern teilte. Sie können einen erbitterten Antiklerikalen ehren, der vielfach betont hat, dass eine vollständige Trennung von Kirche und Staat nötig ist … und der sogar Kirchenglocken für seinen Aufstand konfiszieren ließ.“1

Einige Boulevardblätter versuchten, daraus eine größere Geschichte zu machen. Das Wochenblatt „ABC“ titelte „Ist ein bekannter Abgeordneter verrückt geworden? Er behauptet, dass Tadeusz Kościuszko schwul war!“2 Der erhoffte große Skandal blieb allerdings aus. Immer wieder hatten schon andere versucht, vor allem das Thema des Sexuallebens Kościuszkos, der zeitlebens unverheiratet geblieben war, zu skandalisieren, letztlich blieb an dieser illustren Gestalt aber nichts hängen, was seinen nationalen Heiligenschein hätte gefährden können. Einmal mehr bestätigte sich die These, dass, je weniger man über eine Person Genaues weiß, desto mehr man auf sie projizieren kann, oder mit den Worten des Tübinger Historikers Dieter Langewiesche weniger salopp ausgedrückt: „Im Nationalhelden entwirft die Gesellschaft ihr Selbstbild, mit dem sie in die Geschichte blickt, um die Gegenwart aus der Vergangenheit zu rechtfertigen oder auch zu kritisieren. …Wer einen Nationalhelden erschafft, die Tugenden festlegt, die er verkörpert, für welche Vergangenheit und Ziele er steht, darf hoffen, im Deutungskampf um das Selbstverständnis der Nation zu siegen.“3

Wie wurde aber jener Tadeusz Kościuszko, dessen Namen außerhalb Polens praktisch niemand fehlerfrei aussprechen kann, zum Nationalhelden? Was hatte er Besonderes und wofür konnte er verwendet werden? Die vorläufige Antwort hierauf lautet: Viele konnten sich in ihm wiederfinden, und die Erinnerung an ihn wurde in verschiedenen politischen Systemen nie wirklich gefährlich, weil sie sich längst von der konkreten Person gelöst hatte. Zentral blieb aber die ganze Zeit über und bis heute seine Rolle als wie auch immer definierter Freiheitskämpfer, als Patron der Unterdrückten.

Auf dem Weg zum Helden

Als der kleine Tadzio 1746 auf einem Landgut im heutigen Belarus geboren wurde, befand sich das polnisch-litauische Reich bereits in einer großen Krise und in wachsender Abhängigkeit von Russland.

Im Jahr 1765 kam er in die Warschauer Kadettenschule, die zwar den hochtrabenden Namen „Ritterakademie“ führte, aber doch eher für die soldatische Grundausbildung an Leib und Seele zuständig war. Damit war sein Weg vorgezeichnet, und doch hätte es anders kommen können. Denn als er fünf Jahre später mit einem Auslandsstipendium nach Paris geschickt wurde, sollte dies seiner künstlerischen Ausbildung in Malerei dienen. Als aber der Versuch des beinahe Dreißigjährigen, mit seiner Freundin gegen den Willen ihrer Eltern durchzubrennen, scheiterte, musste er vor etwaiger Strafverfolgung ins Ausland fliehen. Zum Glück für ihn bot sich nun ein neuer Abenteuerspielplatz an: Amerika.

Obwohl wir ziemlich genau wissen, was Kościuszko in seinen acht amerikanischen Jahren getan hat und was nicht, schlug hier die Verbindung von Heldenkult und Amerikabegeisterung in Polen bei der Schaffung von Mythen gnadenlos zu. Dies hat sich im Grunde bis zum heutigen Tage nicht geändert. Fest steht, dass er zunächst und vor allem als Ingenieur für Festungsbauwerke eine gewisse Bedeutung erlangte. Dagegen war er nicht an vorderster militärischer Front tätig. Für seine Verdienste wurde er von George Washington 1783 zum Brigadegeneral ernannt, erhielt eine Pension und Land. Manche leiteten daraus ab, er sei zudem ein enger Freund des amerikanischen Revolutionsführers gewesen, ja, er habe sogar öfter mit diesem getrunken und bei einer dieser Feiern sei ihm die Idee gekommen, wie die neue amerikanische Nationalflagge aussehen solle. Demnach solle sie Sterne und Streifen enthalten, genauso wie das Wappen der Wojewodschaft Sandomierz im Südosten Polens.4 Man muss nicht betonen, dass nur eine sehr patriotische Perspektive diese Variante für glaubwürdig halten kann.

Kościuszko als Freiheitskämpfer Polens

Als Kościuszko 1784 nach Polen zurückkehrte, wartete niemand auf ihn. Er lebte auf seinem Gut von jenen politischen Prozessen weit entfernt, die König Stanisław August Poniatowski zur Einberufung des Reformlandtages von 1788 bewegten, litt unter Stimmungsschwankungen und äußerte sich zu aktuellen Fragen nur in Briefen an Bekannte. So ging es fünf Jahre lang. Als der Sejm dann aber die Einführung eines 100.000-Mann-Heeres beschloss, befand er sich plötzlich wieder mitten im Geschehen, denn es gab wenige im ganzen Land, die von Alter und militärischer Vorbildung her ähnlich geeignet gewesen waren, eine solche neue Organisationsform zu verkörpern. Am 1. Oktober 1789 fand er sich als Generalmajor auf der Ernennungsliste des Königs wieder. Danach geschah aber erst einmal … nichts. Die Kriegspläne gegen Russland mit Hilfe des neu geschlossenen Bündnisses mit Preußen ließen sich nicht in die Realität umsetzen. Stattdessen fiel das Moskauer Reich in Polen ein, und Kościuszko fand sich zwar in einer wichtigen militärischen Position in der verzweifelt kämpfenden polnischen Truppe, hatte aber keine Chance, das Schicksal zu wenden. Mehr noch, Preußen verriet schließlich seinen Partner und vereinbarte mit Russland die zweite Teilung Polen-Litauens im Jahre 1793.

Das bisher Geschilderte hätte sicher genug Stoff für ein paar nette Stories geboten, die amerikanische Phase vielleicht auch für ein überdurchschnittliches Interesse gesorgt. Was aber Kościuszko zum Nationalheld machte, waren wenige Monate des Jahres 1794: die Zeit eines mutigen, aber von vornherein komplett zum Scheitern verurteilten Aufstands gegen die russische Teilungsmacht, der seinen Namen trägt. Ist es ungewöhnlich, dass Helden durch Niederlagen gemacht werden? Es kommt wohl auf die Größe der jeweiligen Nation und die Häufigkeit der erzielten Siege an.

Dem Aufstand selbst waren Schritte diverser Akteure in verschiedenen Teilen Polens vorausgegangen, die Kościuszko zur Eile drängten. Daher ließ er sich am 24. März 1794 auf dem Krakauer Marktplatz als Anführer der Erhebung, eine Art Diktator nach römischem Vorbild, vereidigen. Während nicht wenige nun eine „polnische Revolution“ nach französischem Vorbild erwarteten, sahen ihn andere lediglich als symbolischen Feldherrn im Dienste der Interessen der großen Adelsfamilien. Beides war unzutreffend, aber für große Programme war auch keine Zeit, denn zunächst war der Militär gefragt. Der Aufstand hätte höchstens dann Chancen gehabt, wenn es nicht nur gelungen wäre, ihn ins ganze Land zu tragen, sondern auch die breite Masse der Bevölkerung zur Teilnahme zu bewegen und die Gegner Preußen und Russland zu trennen.Die Tapferkeit der Soldaten und einige taktische Kniffe ermöglichten immerhin symbolische Siege wie den von Racławice Anfang April. Hier nahm der Kościuszko-Mythos seine nächste Etappe. Militärisch war die Schlacht komplett unbedeutend, aber sie sendete nicht nur ein Startsignal in andere Regionen, vor allem nach Warschau, sondern sie begründete den Ruhm des Feldherrn, der vor allem dank zu allem entschlossener bäuerlicher Soldaten, die nur mit ihren Sensen bewaffnet waren, die Russen besiegte. Hundert Jahre später entschlossen sich polnische Honoratioren im österreichischen, aber autonomen Galizien dazu, diese Schlacht zu würdigen. Ganz dem europäischen Zeitgeist folgend, gaben sie ein Historienpanorama bestehend aus einem Rotundengemälde und einigen plastischen Elementen vor diesem in Auftrag, das der Maler Jan Styka für die Allgemeine Landesausstellung in Lemberg 1894 vollendete. Dort wurde es bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs gezeigt, dann mit der polnischen Bevölkerung und anderen Kunstschätzen nach Westen vertrieben. Vier Jahrzehnte wurde es an verschiedenen Orten gelagert, bis 1985 sein neues Museum in Wrocław fertiggestellt war, wo das Panorama von Racławice bis heute gezeigt wird.5

Neben dieser Schlacht haben zwei weitere Aspekte des Aufstands in das kollektive Gedächtnis der Polen Einzug gehalten. Kościuszko versuchte nicht nur verstärkt, Bauern und arme Schlucker vom Land als Soldaten für sich zu gewinnen, sondern ihm lag in der Tat daran, deren rechtliche Lage, also die fast ausschließliche Abhängigkeit von den jeweiligen Gutsherren, zu verbessern. In der Proklamation von Połaniec verkündete er im Mai 1794 per Dekret unter anderem die Reduzierung der Frondienste und der finanziellen Leistungen für den Herrn als wichtigen Schritt zu einer geplanten generellen Bauernbefreiung. Die praktische Wirkung war wegen der weiteren Entwicklung des Aufstands gleich null, die symbolische ist jedoch für die folgenden Jahrzehnte nicht zu unterschätzen. Kościuszko war in der Erinnerung nun der Bauernbefreier, der in Abbildungen auch gerne im einfachen Bauernkittel, der so genannten sukmana, dargestellt wurde.

Der zweite Aspekt ist das angebliche Verhalten Kościuszkos, als er im Oktober 1794 bei Maciejowice schwer verwundet von den Russen gefangengenommen wurde. Dabei soll er von seinem Pferd gesunken sein und „Finis Poloniae!“ ausgerufen haben. Obgleich sich kurz darauf tatsächlich mit der dritten Teilung Polen-Litauens der polnische Staat zwangsweise von der europäischen Landkarte verabschieden sollte, ist dieses Zitat nicht belegt und vermutlich hatte der Feldherr in diesem Moment andere Sorgen, als auf Latein zu deklamieren. Allerdings handelt es sich bei dem Ausspruch nicht um eine spätere Erfindung, sondern er ist schon für das Jahr der Schlacht etwa in der in Hamburg erscheinenden aufklärerisch-revolutionären Zeitschrift „Politisches Journal nebst Anzeige von gelehrten und andern Sachen“ belegt.6

Im Grunde war mit der Gefangennahme die politische Karriere Kościuszkos beendet. In ein Petersburger Gefängnis deportiert, wurde er zwar zwei Jahre später vom neuen russischen Kaiser Paul I. zusammen mit tausenden anderen Polen freigelassen. Bedingung dafür war aber ein Treueid auf Russland. Kościuszko ging erneut ins amerikanische Exil und ließ sich unterwegs gerne feiern, kehrte aber schon 1798 wieder nach Europa zurück und nahm für über fünfzehn Jahre in Frankreich seinen Wohnsitz. Eine wichtige Rolle spielte er hier aber nicht mehr, wohl auch, weil er Napoleon, den er zweimal persönlich traf, nicht vertraute und ihn für einen Usurpatoren hielt, der die polnischen Interessen verrate. Als dessen Herrschaft zusammenbrach, war Kościuszko nur noch eine Erinnerung an vergangene Zeit. Für die letzten beiden Jahre seines Lebens ließ er sich bei Schweizer Freunden nieder, wo er 1817 in Solothurn starb. Paradoxerweise begann nun seine letzte, posthume Karriere.

Perspektiven für den Heldenstatus

Auf seinem Weg zum Nationalhelden hatte er durchaus gleichwertige Rivalen wie Józef Poniatowski, den in Leipzig auf Seiten Napoleons gefallenen Feldherren, oder General Henryk Dąbrowski, dem die heutige Nationalhymne Polens gewidmet ist, aber im polnischen Pantheon ist zum Glück Platz für mehrere. Die Vielfalt der Interpretationen setzte nun erst richtig ein und für jeden war etwas dabei. In Galizien galt Kościuszko lange als kirchentreuer und konservativer Politiker, dem zu Ehren man einen bis heute eindrucksvollen Erdhügel in Krakau widmete, die Nationaldemokraten um 1900 verehrten ihn als militärisches Genie, der es mit Russland und Preußen gleichermaßen aufgenommen habe, und für die polnischen Kommunisten des 20. Jahrhunderts war er eine Art vorzeitiger Revolutionär, der nun doch noch die Preußen schlagen durfte.

Und wie wir zu Beginn gesehen haben, eignet sich der Kleinadlige aus dem Osten Polens heute immer noch als Projektionsfläche für politische Interessen. Das Gedenkjahr 2017 fand letztlich ohne Probleme statt. Kościuszko wurde halboffiziell zu „einem der wichtigsten Helden der Welt“ erklärt.7 Sein Herz wurde nach jahrhundertelangem Hin und Her, während es in der Nähe von Solothurn, im italienischen Varese, dann in Vesia bei Lugano, dem schweizerischen Rapperswil, im Warschauer Königsschloss, der dortigen St. Johannes-Kathedrale und im Łazienki-Palais zu finden war, zuletzt 1984 im wiedererstandenen Warschauer Schloss untergebracht.8 Der Rest des Körpers ruht bereits seit 1818 in der Leonhardskrypta auf dem Krakauer Wawelberg.

Der ewige Wanderer scheint also zur Ruhe gekommen zu sein, sein Rang als Nationalheld ist zementiert, Provokationen inbegriffen. Aber da sind ja auch noch die Nachbarn, insbesondere die Belarussen, die „ihrem“ Landsmann 1994 eine Straße in Brest widmeten und das Gut, in dem er geboren wurde, mit amerikanischen Geldern als Museum rekonstruierten. 2017 errichteten Belarussen im schweizerischen Solothurn gar ein Denkmal für den „bedeutenden Sohn Weißrusslands“.9 Diese Inschrift musste allerdings auf Protest des polnischen Außenministeriums wieder entfernt werden. Ein Jahr darauf wurde an seinem Geburtsort das erste Denkmal für Kościuszko bzw. Kas’cjuška in Belarus errichtet. Es wird spannend sein zu beobachten, wer den Helden noch so alles entdecken wird. Heiße Kandidaten hierfür sind die Litauer.


Fußnoten:


  1. Wypowiedzi na posiedzeniach Sejmu Posiedzenie nr 21 w dniu 22-06-2016 (2. dzień obrad): https://www.sejm.gov.pl/sejm8.nsf/wypowiedz.xsp? posiedzenie=21&dzien=2&wyp=120&view=3 (letzter Zugriff: 06.05.2020; Link mittlerweile inaktiv!). ↩︎

  2. http://abctygodnik.pl/artykuly/2340-znany-posel-oszalal-twierdzi-ze-tadeusz-kosciuszko-byl-gejem-zobacz-video (letzter Zugriff: 01.12.2023). ↩︎

  3. Dieter Langewiesche: Reich, Nation, Föderation: Deutschland und Europa. München 2008, S. 126 f. ↩︎

  4. https://historum.com/threads/on-the-origin-of-us-flag.91416/ (letzter Zugriff: 01.12.2023). ↩︎

  5. Romuald Nowak: Panorama Racławicka = The Racławice Panorama = Das Panorama von Racławice. Wrocław 2008. ↩︎

  6. Politisches Journal nebst Anzeige von gelehrten und andern Sachen (1794). Bd. 2, S. 1134. ↩︎

  7. Piotr Hapanowicz: Rozważny i romantyczny. W 200. rocznicę śmierci Tadeusza Kościuszki. Kraków 2017 [Klappentext]). ↩︎

  8. Maria Anacka-Łyjak: Serce Tadeusza Kościuszki. Dzieje relikwii narodowej. Warszawa 1992. ↩︎

  9. http://www.belswiss.org/de/2016/08/21/spendenaufruf-denkmal-kosciuszko/ (letzter Zugriff: 09.05.2020; Link mittlerweile inaktiv!). ↩︎