Die Covid-19-Pandemie und Mittel(ost)europa

aus OWEP 3/2021  •  von Artur Becker

Artur Becker (geb. 1968 in Polen) lebt seit 1985 in Deutschland, heute in Frankfurt (Main). Er ist Romancier, Essayist, Lyriker und Publizist. Zuletzt veröffentlichte er den Gedichtband „Bartel und Gustabalda“ (Köln 2019) und den Roman „Drang nach Osten“ (Frankfurt/Main 2019). Im Herbst 2021 erscheinen die Texte seiner Dresdner Chamisso-Poetikdozentur „Von der Kraft der Widersprüche“.

Zusammenfassung

Die Covid-19-Pandemie hat auch die Visegrád-Staaten stark getroffen. Vor allem in Polen und Ungarn verband sich die Pandemie mit einem politisch gewollten Prozess, der die Renationalisierung dieser Staaten auf verschiedenen Ebenen zum Ziel hat. Der Beitrag beleuchtet die Folgen der Pandemie in diesen Staaten und nicht zuletzt auch ihre politische Instrumentalisierung.

Rückkehr nach Europa

Was Mitteleuropa bzw. Mittel(ost)europa begrifflich heißt und wo es kulturgeschichtlich verankert ist, wissen wir spätestens seit dem aufschlussreichen Essay Un occident kidnappé oder die Tragödie Zentraleuropas des Schriftstellers Milan Kundera. Publiziert 1983 war es ein Aufschrei und ein Appell an den Westen, Ungarn, die Tschechoslowakei und Polen nicht mehr stiefmütterlich zu behandeln. Kundera schreibt: „Nach 1945 verschob sich die Grenze zwischen diesen beiden Teilen Europas um einige hundert Kilometer nach Westen, und einige Nationen, die sich immer als westlich verstanden hatten, erwachten eines schönen Tages und stellten fest, daß sie sich im Osten befanden.“

Als paradox daran ist festzuhalten: Die Rückkehr der sich 1991 in der Visegrád-Gruppe zusammengefundenen Staaten (Polen, Tschechoslowakei und Ungarn) zu ihrer Mutter Europa geschah so optimistisch und vielversprechend, wie es sich damals, während der politischen und ökonomischen Transformation, kaum jemand hätte vorstellen können. Dabei hatte es vereinzelte Kassandrarufe gegeben, dass ausgerechnet diese Länder eines Tages eine ganze andere Rückkehr vollziehen könnten, nämlich zu einem gefährlichen Rechtspopulismus und Rechtskonservatismus, der den starken Nationalstaat wieder auf den Plan rufen würde.

Denn trotz der Aufnahme in die Nato und in die Europäische Union (EU) erwachte das Gespenst des Nationalismus und des oligarchisch-nepotistischen Denkens (Viktor Orbán, Jarosław Kaczyński, Miloš Zeman) in der Visegrád-Gruppe und stellte Politologen, Soziologen, Philosophen und Schriftsteller vor die Frage, was für eine Art von Demokratie die „osteuropäischen“, „ehemaligen“ Warschauer-Pakt-Länder eigentlich anstreben würden. Wieder ein Einparteiensystem? Eine so genannte illiberale Demokratie? Oder können Polen, Ungarn, Tschechien und die Slowakei ihre sowjetischen und kommunistischen Atavismen nicht in den Griff bekommen? Sehnen sie sich wieder nach einer starken Hand?

Vor allem die Brüsseler Machtzentrale geriet bei den Nationalisten und Rechtskonservativen massiv unter Beschuss, als wäre Moskau durch Brüssel lediglich ersetzt worden und damit das zentralistisch und apodiktisch regierende Subjekt das gleiche geblieben. Wir sprechen hier aber auch vom tiefsten Misstrauen gegenüber dem Westen und nicht nur gegenüber der EU, dem demokratisch gezähmten Leviathan einer freiheitsliebenden Gemeinschaft, von der schon auch bei Karl Marx die Rede war.

Wer also verstehen will, warum bei einem großen Teil der Bevölkerung in Ungarn, Tschechien, Polen, in der Slowakei – wobei das übrigens ebenso für die Staaten des Westbalkan wie auch für Rumänien und Bulgarien zutrifft – das Misstrauen gegenüber den Regierungen und den öffentlichen Medien des Westens in den letzten Jahren immer größer geworden ist, muss bedenken, dass „die großen gemeinsamen Erfahrungen, die die Völker wieder zusammenführen“, wie es Kundera in seinem Essay schreibt, nach 1989 zwar eine institutionalisierte Form angenommen, aber bisher nicht zu einer geistigen Einheit zwischen Mittel(ost)europa und dem Westen geführt haben. Und dann kam noch das Virus aus China …

Erinnerungen an den Kalten Krieg

Der Ausbruch der Covid-19-Pandemie hat die alten Gräben zwischen Ost und West wieder aufgebrochen und das Zusammenführen der Völker erst einmal für längere Zeit verhindert. Die Schließung der Grenzen und die strenge Kontrolle der Reisenden rüttelte alte Erinnerungen an den Kalten Krieg wach, eben nicht nur im Osten.

Unvergesslich bleiben die Bilder von der Karlsbrücke in Prag, als die tschechische Regierung im Juni 2020 das Ende der Pandemie verkündet hatte und Menschen die berühmte Brücke feiernd und voller Freude belagerten. Was danach passierte, wissen wir heute alle: Bis zum 30. Juni hatte es in Tschechien 11.954 Infizierte und 349 Tote gegeben – heute, ein Jahr später, müssen wir leider mehr als 30.000 Todesfälle in Tschechien beklagen.

Auch das Tragen der Masken wurde in allen Visegrád-Ländern zu Anfang der Pandemie in breiten Schichten des Prekariats verteufelt, eben nicht nur von Verschwörungstheoretikern. Das Schüren der Ängste vor Muslimen, islamistischen Terroristen, Emigranten, in Tschechien vor Sudetendeutschen, in Polen vor Deutschen per se ist immer noch ein tragendes populistisches Element der rechtskonservativen Politik in Prag oder Warschau. Man drehte aber in den ersten Monaten der Pandemie oft den Spieß um, indem man die Covid-19-Ausbreitung bagatellisierte und als unnötige Angstmacherei abtat, der man sich nicht beugen sollte.

Was in diesem Zusammenhang wichtig ist, betrifft vor allem die Alltagsmentalität der ehemaligen Bürger des „Ostblocks“: Das Prekariat lässt sich populistisch leicht manipulieren. Es hat die Sehnsucht nach einer starken Hand und Führung, die insbesondere den Deutschen und nicht nur Brüssel zeigen müsse, dass man hier in „Osteuropa“ keine Komplexe habe – einerseits. Andererseits gibt es, was im Kontext der Sehnsucht nach einem „starken Mann“ widersprüchlich ist, eine mehr oder weniger angeborene Aversion gegen das Zentralistische. Dieses Phänomen lässt sich in allen Visegrád-Staaten beobachten, ganz nach dem Motto: Die da oben werden uns nicht diktieren, was falsch oder richtig ist. Auf ein ähnliches Phänomen stoßen wir übrigens auch in Ostdeutschland.

Wie wenig Vertrauen Orbáns Ungarn oder die Slowakei in die EU haben, zeigt auch die Bestellungspolitik im internationalen Vakzin-Geschäft: Die Schlagzeilen lauteten zu Anfang des Jahres 2021, Budapest setze auf Impfungen aus Russland und China, es vertraue der EU nicht. Der Einkauf von Sputnik V (zwei Millionen Dosen!) im März 2021 führte allerdings in der Slowakei zur Verstimmung: In Bratislava prüfte die Arzneimittelbehörde die Lieferung aus Russland und stellte fest, dass die Bestellung die Vorstellungen der Slowaken nicht erfüllte. Man habe nicht das bekommen, was man erwartet habe. Es kam zu einem Streit über den Vertrag, der in Bratislava angeblich nicht bekannt war. Die russische Seite bestand darauf, dass man den Impfstoff zurückschicken müsse. Interessanterweise ging es in diesem Vertrag um die Wirksamkeit und die Garantien: Russland fühlte sich danach nicht verpflichtet, für das Produkt und damit eine nicht korrekte Wirkung des Vakzins zu haften. Es ist eine typische Situation und erinnert an das Geschäftsgebaren der Sowjetunion, die ihren „sozialistischen Brüdern“ die Bedingungen stets diktiert hatte.

In Tschechien wurden beispielsweise seit dem Beginn der Pandemie schon vier Gesundheitsminister ausgetauscht. Jan Blatnýs musste gehen, weil er auf dem tschechischen Staatsgebiet Anfang April 2021 die Anwendung des russischen Vakzins Sputnik V verboten hatte. Seine Entscheidung begründete er damit, dass die EU keine Genehmigung für dieses Präparat erteilt habe. Präsident Zeman entschied, den Ministerposten wieder neu zu besetzen, jedoch nur deshalb, weil er die Interessen der tschechischen Bevölkerung und des Staates bedroht sah. Zeman ist ein ähnlicher Politikertypus wie Orbán oder Kaczyński. Er versteht es sehr gut, die Gesellschaft und seine politischen Feinde gewissermaßen manichäisch zu spalten.

Politik und Pandemie

Ein grundsätzliches Problem der mitteleuropäischen Länder ist die medizinische Versorgung der Bevölkerung. Dafür gibt es diverse Gründe, deren Ursachen nicht nur in der Politik und Wirtschaft, sondern auch in der sozialistischen Vergangenheit gesucht werden müssen, obwohl all die vier genannten Staaten EU-Mitglieder sind und in den neunziger Jahren eine durchaus erfolgreiche ökonomische und systempolitische Transformation durchgemacht hatten.

Der alltägliche Kampf gegen das Virus in den Krankenhäusern wie auch in verschiedenen Kliniken ist – ohne zu übertreiben – heroisch. Es mangelt an Pflegekräften, Geldmitteln, Betten auf den Intensivstationen und Medizinausrüstung. Besonders in Ungarn, nicht nur in Polen oder Tschechien, ist dieser Kampf oft sehr schwierig. Das liegt daran, dass Orbán bei der politischen und ökonomischen Durchführung seiner Ziele äußerst erfolgreich war und nach wie vor ist: Ungarn ist ein zentralistisch regierter Staat geworden, dessen finanzielles Kapital politisch instrumentalisiert wird. Das geschieht auf allen Ebenen – auf den lokalen Gemeindeebenen, wo die Selbstverwaltung keine juristische und finanzielle Unterstützung mehr bekommt, ebenso wie auf der breiten staatlichen industriellen Ebene. Dort ist durch den Zustrom von Nicht-EU-Kapital aus China, einigen arabischen Ländern und Russland die Unterstützung vieler Arbeitnehmer praktisch verschwunden, sobald sie und ihre Arbeitgeber nicht dem Geschäft mit der Fremdindustrie- und dem Fremdkapital dienen – übersetzt: den Partikularinteressen Orbáns und seiner Partei keinen Nutzen bringen. All dies führte dazu, dass viele Familien in eine ökonomische Schieflage gerieten, insbesondere nach dem Beginn der Pandemie.

Orbán und seine Anhänger kämpfen gegen ihre Gegner mit allen Mitteln – Gemeinden und lokale Institutionen, Medien und Firmen, die sich ihm und seinen Gefolgsleuten widersetzen, erhalten keine Hilfe, weder finanziell noch juristisch. Das bedeutet, dass Pandemieopfer bewusst in Kauf genommen werden, und das bedeutet auch, dass nur solche Firmen, Institutionen und Subjekte Regierungshilfe erhalten, die für „nationale Interessen“ unentbehrlich sind.

Man muss aber den globalen Kontext der Pandemie auch in diesem speziellen Fall in den Vordergrund stellen, obwohl die mitteleuropäischen Länder durch die spaltende Politik der Rechtskonservativen und Populisten in geteilten Lagern ihren Corona-Alltag bewältigen müssen. In der Slowakei stößt das russische Vakzin Sputnik V bei der Bevölkerung auf große Skepsis. Das Misstrauen gegenüber den Impfungen ist jedoch auch im Westen groß – eben nicht nur bei rechtskonservativen Wählern, Querdenkern und Leugnern, die es selbstverständlich auch in allen anderen Staaten zahlreich gibt.

Doch die Statistiken verraten schnell, wie es um das Engagement und um die Erfolge der mitteleuropäischen Regierungen im Kampf gegen die Pandemie bestellt ist. In Ungarn, das rund 9,8 Millionen Einwohner zählt, gab es seit Beginn der Pandemie bis Anfang Juni 2021 fast 30.000 Tote zu beklagen. In Deutschland, wo etwa 83 Millionen Menschen leben, „nur“ – im Vergleich zu Ungarn – rund 89.000 Covid-19-Todesopfer. Das zeigt, dass die medizinische Versorgung in Ungarn um vieles schlechter ist als in Deutschland. Aber auch dort wird darüber geklagt, dass es viele Fehler gegeben habe und vieles dringend verbessert werden müsse, um auch zukünftigen globalen Pandemien effektiver und schneller die Stirn zu bieten.

Auch in Tschechien ist die medizinische Versorgungslage noch vor Kurzem besorgniserregend gewesen. Die tschechische Regierung wandte sich Anfang März 2021 an Deutschland und Polen und bat die beiden Nachbarn um die Behandlung einiger Covid-19-Patienten.

Das größte medizinische Problem Tschechiens war der Mangel an freien Betten auf den Intensivstationen. Man verfügte lediglich über 14 Prozent freier Betten, und der Transport von Patienten entpuppte sich als zu zeitraubend. Bis zu zehnmal am Tag wurden die Patienten gefahren, und Zeit ist bei an Covid-19 schwer Erkrankten natürlich kostbar, jede Minute zählt. Zu diesem Zeitpunkt hatte Polen, das 38 Millionen Einwohner zählt, bereits sehr viele Tote zu beklagen: Ende März 2021 waren es mehr als 50.000.

Was bleibt?

Die Konklusion fällt eigentlich etwas bitter aus: Im wieder in Ost und West geteilten Europa hat das Covid-19-Virus den politischen Spaltern und Störenfrieden kaum den Wind aus den Segeln nehmen können. Hinzu kommt noch die Ungewissheit, was die Zukunft nun bringen mag. Dabei geht es nicht nur um die steigende Inflationsrate oder die Pleitewelle in der Gastronomie und Hotellerie, die europaweit zu beobachten ist. Es geht auch um unsere psychische Gesundheit, um Existenzängste, um den Verlust der Identität und der Würde.

Der slowenische Philosoph Slavoj Žižek bringt es wieder einmal auf den Punkt, was die Herausforderungen im Kampf gegen das Virus betrifft. In einem Interview für die spanische Zeitung „El País“ Anfang März 2021 gestand er: „Der deutsche Philosoph Jürgen Habermas gehört nicht zu meinen Favoriten, aber er sagte, Covid-19 sei einzigartig darin, dass wir noch nie so viel in so kurzer Zeit gelernt haben und uns gleichzeitig unserer Unwissenheit so sehr bewusst geworden sind. Die Realität ist unverständlich. Und wir müssen inmitten dieser Unbekannten handeln.“