Die Klima-Agenda in Russland: Gesellschaft, Politik, Medien

aus OWEP 2/2021  •  von Angelina Dawydowa

Angelina Dawydowa ist Expertin auf dem Gebiet der internationalen und der russischen Klima- und Ökologie-Politik, der gesellschaftlichen Bewegungen, der Zivilgesellschaft und der Medien. Sie ist Direktorin der NGO „Büro für ökologische Information“ (Deutsch-russisches Büro für Umweltinformation) und hat sich als bekannte ökologisch ausgerichtete Journalistin auf das Thema „Klimawandel“ spezialisiert. Dawydowa schreibt regelmäßig für russische und internationale Medien und lehrt an der St. Petersburger Universität, der Europäischen Universität in St. Petersburg und der Architekturschule MARSCH.

Zusammenfassung

Das Thema des Klimawandels, das lange Zeit keine wesentliche Rolle für die russische Gesellschaft spielte, wird jetzt immer wichtiger. Dafür gibt es sowohl globale als auch innerrussische Gründe, denen die Umweltjournalistin Angelina Dawydowa nachgeht.

Die Waldbrände von 2019, die Stürme und andere gefährliche Wettererscheinungen, die Überschwemmungen in einigen Regionen Russlands und die Dürren anderswo, das Schmelzen der Arktis, das Auftauen des Permafrostes – das ist nur eine unvollständige Aufzählung von Folgen des Klimawandels in Russland, die bereits zu beobachten sind.

So wurde Anfang 2021 von einem Massensterben der Rentiere auf der Jamal-Halbinsel im Winter berichtet, wo es eines der weltgrößten Vorkommen dieser Tiere gibt.1 Ursachen waren das instabile Wetter, als starke Fröste sich mit Tauwetter abwechselten, der Schnee die Eiskruste dick (bis zu 10 cm) bedeckte und viele Tiere sich nicht bis zur Rentierflechte, ihrer Nahrungsgrundlage, durchschlagen konnten. In schwierigen Situationen befanden sich auch die Familien der Rentierzüchter, die von den Rentieren leben. Zwar wird über der Tundra Mischfutter ausgestreut und Geld an die Familien der Rentierzüchter ausgezahlt2, doch ist es offensichtlich, dass die Probleme komplexer und langfristiger sind und eine neue Realität entsteht, für die Population der Rentiere, für die Bewohner der Region, für ganz Jamal und für die Russische Föderation.

Die arktischen Regionen Russlands sind ein Teil der Welt, in dem der Klimawandel am schnellsten fortschreitet und schon jetzt spürbar ist – nach Einschätzung russischer und internationaler Meteorologen um 2,5 mal schneller als anderswo. Als es im Sommer 2020 zu Temperaturrekorden kam, wurde im Juni in der Stadt Werchojansk jenseits des Polarkreises, im nördlichsten Teil Jakutiens, eine Lufttemperatur von 38 Grad Celsius registriert. Die Weltorganisation der Meteorologen erklärte inzwischen, dass es sich hierbei um einen neuen Temperaturrekord in der Arktis handelt.3

Wenn noch vor zehn bis 15 Jahren das Thema des Klimawandels für Russland keine Bedeutung zu haben schien, so verändert sich jetzt die Situation. Dafür gibt es einige Gründe.

„Fridays for Future“ – auch in Russland

Eine erste wichtige Ursache besteht in den globalen Trends. So wie man in der Welt über den Klimawandel spricht, Medien und Filme darüber berichten, beeinflusst er fraglos auch die russische Gesellschaft. Das ist vor allem in der jungen Generation bemerkbar. Ich schreibe schon seit mehr als zehn Jahren über Klimaprobleme und bin daran gewöhnt, erklären zu müssen, dass das Thema wichtig ist. Es werden ständig Beweise dafür gefordert, dass der Klimawandel real ist. Bei jungen Menschen ist das absolut nicht so. Sie sind schon allein durch die Fragestellung beunruhigt und fragen eher danach, was wir in Russland in der aktuellen politischen und wirtschaftlichen Lage konkret tun können. Noch im Frühjahr 2019 machte sich die erste russische Bewegung „Fridays for Future“ bemerkbar. Ich war bei den ersten Demonstrationen im Sommer desselben Jahres dabei, als 30 junge Leute mit Plakaten in einem Moskauer Park standen. Im September 2020 tanzten etwa 70 Umweltaktivisten auf dem Dach des Kunstzentrums Art Play in Moskau. Dort versammelten sich junge Menschen im Alter zwischen 18 und 35 Jahren. Manche trugen Plakate mit Forderungen für mehr Klimaschutz, andere mit Plakaten zu lokalen ökologischen Problemen und Protesten, die die Aufmerksamkeit auf die Waldbrände in Sibirien, auf die Ölpest in der Arktis oder auf die Hafenbaupläne für den Kohleumschlag in der Ostsee lenken sollten.

Hier liegt die große Besonderheit der jungen russischen Klimabewegung – in vielem baut sie auf die lokalen ökologischen Proteste auf, deren Menge und Intensität sich im Laufe der letzten paar Jahre vergrößert hat. Zugleich versucht sie, örtliche ökologische Probleme wie etwa den Umgang mit Müll, die Luftverschmutzung oder Waldbrände mit der globalen Thematik der katastrophalen Klimaveränderungen zu verbinden. Die Verbindung der globalen Klima-Agenda mit einem lokalen oder auch überlokalen „Grün“ ist auch deshalb wichtig, weil gerade die lokalen ökologischen Bewegungen und Initiativen in den letzten Jahren eine ernst zu nehmende Entwicklung genommen haben. In praktisch jeder russischen Region gibt es heute einige ökologische Basisbewegungen (grass-root) mit dem Ziel von Protest oder Aufklärung und der Absicht, etwas Ökologisches voranzutreiben.

Vorrang der lokalen gegenüber der globalen Problematik

Trotzdem bleibt die lokale Klimathematik wichtiger als die globale. So zeigte 2020 eine Umfrage des Lewada-Zentrums, dass die russische Bevölkerung angesichts der Umweltverschmutzung bereits äußerst beunruhigt ist. Fast die Hälfte der Befragten bezeichnet sie als eine der gefährlichsten globalen Bedrohungen der Gegenwart.4

Am 9. März 2020 veröffentlichte das Lewada-Zentrum, das von der russischen Regierung als angeblicher „ausländischer Agent“ diskreditiert wird, eine soziologische Untersuchung über die Hauptprobleme, die die russischen Bürgerinnen und Bürger beunruhigen. 21 Prozent der Befragten gab an, dass die schlechtere Lage der Umwelt sie stark beunruhigt – im Jahr 2015 waren es nur neun Prozent gewesen. Der stellvertretende Direktor des „Lewada-Zentrums“, Denis Wolkow, sagte in einem Interview mit der Website www.ura.ru, dass „die Beunruhigung vor allem unter den jungen und unter den Menschen mit höherer Bildung wächst“. Er fuhr fort: „Tatsächlich beobachten wir eine vom Wohnort unabhängige wachsende Beunruhigung über dieses Problem. Es ist interessant, dass man auf der ganzen Welt über das Problem der globalen Erwärmung spricht, bei uns aber über die Umweltverschmutzung und über das Abfallrecycling. Das heißt, in Russland sind die absoluten Grundprobleme noch nicht gelöst“, meint der Soziologe.

Tatsächlich tritt in der Liste der konkreten ökologischen Probleme die Klimaveränderung wie früher hinter dem der Verschmutzung der Luft und des Wassers, hinter dem Müllproblem und hinter der Erschöpfung der Ressourcen zurück. Ungeachtet dessen, dass jetzt immer mehr gesellschaftliche Organisationen an der Verbindung zwischen den klimatischen und den übrigen ökologischen Probleme arbeiten, indem sie ihre Wechselbeziehung aufzeigen, ist die Beunruhigung durch lokale Probleme häufig immer noch stärker. Bemerkenswerterweise nehmen die Sachkenntnis zu diesen Fragen ebenso zu wie die Vorstellungen darüber, wie zu reagieren wäre.5

Die Rolle des Staates im Kampf gegen den Klimawandel

Ungeachtet dessen ist es, wie schon früher, vielen Russen unverständlich, wie sie diese Situation beeinflussen und dazu beitragen könnten, das globale Klimaproblem zu lösen. Die Mehrheit ist davon überzeugt, der Staat die grundlegenden Maßnahmen umsetzen muss. Das Meinungsforschungsunternehmen WZIOM gab bekannt, dass rund 12 Prozent der Befragten der Ansicht seien, jeder müsse den Gebrauch der verschiedenen Ressourcen für den Kampf gegen die globale Erwärmung verringern. 43 Prozent der Befragten gingen davon aus, dass vor allem der Staat den Kampf gegen die Klimaveränderungen zu führen habe – durch politische, gesetzgeberische und kontrollierende Maßnahmen. Eine neuere Romir-Untersuchung führt andere Ergebnisse an: Fast die Hälfte der Befragten glaube, dass Staat und Bürger um ähnliche Anstrengungen zur Bewältigung des Klimaproblems bemüht sein sollten. Als konkrete Vorschläge wurden der Verzicht auf Fahrten mit dem eigenen Auto genannt, das Sparen von Wasser und Elektroenergie, die Mülltrennung und ein geringerer Gebrauch von Einwegwaren. Mehr für „grüne“ Energie zahlen wollen nur wenige der Befragten – mehr als 82 Prozent sind nicht dazu bereit, eine um mehr als fünf Prozent höhere Rechnung hinzunehmen, sollte es einen Wechsel zu mehr erneuerbaren Energiequellen geben.

Zweifellos hängen solche Antworten davon ab, wo jemand lebt. Für Moskau und andere große Städte spielen die Fragen eines ökologisch verantwortlichen und ethischen Lebens für die junge Mittelklasse schon eine große Rolle. Ein Beispiel dafür sind Programme und Handy-Apps, wie beispielsweise Teperj Tak, die dabei helfen, zu einer ökologischen Lebensweise zu finden.6 Dort gibt es auch Interesse an Fragen der Öko-Zertifizierung und der Herkunft von Lebensmitteln und anderen Waren.7 Öko-Trends sind in Mode, unter anderem auch dank des Interesses berühmter Blogger und Stars an diesem Thema.

Für kleine Städte und ländliche Regionen, wo die sozial-ökonomischen Probleme viel schärfer sind, sind die Fragen eines ökologischen Umgangs noch nicht so aktuell. Dort spielen vor allem Lebensmittelpreise eine große Rolle. (Gleichzeitig kann dabei jedoch auch das Sparen von Wasser, Energie und der übrigen Ressourcen eine wichtige Rolle spielen, aber auch das eher aus ökonomischen Gründen.) So suchen nach Meinung von Natalija Subarewitsch, Geographie-Professorin an der Moskauer Staatsuniversität und Expertin auf dem Gebet der russischen Landeskunde, „die Menschen unter den Bedingungen der Pandemie, des rückläufigen Verkaufs im Einzelhandel und der Lohneinbußen das, was billig ist“. Als die wichtigen Treibkräfte für einen bewussten Verbrauch treten in der Russischen Föderation die großen Städte auf, in denen eher eine gutsituierte und gebildete Bevölkerung lebt.8

In vielem spiegelt auch die offizielle russische Agenda eine solche Abhängigkeit vom Klimaproblem wider. Es ist noch nicht lange her, dass russische Politiker öffentlich den Klimawandel leugneten und behaupteten, es sei für Russland sogar von Nutzen, wenn sich das Klima erwärmt, weil in der Bevölkerung dann weniger Pelze benötigt würden. Heute erkennt die Kremlführung offiziell an, dass es einen Klimawandel gibt, dass er Risiken für Russland mit sich bringt und dass es unumgänglich ist, sich darauf einzustellen – an der Rolle des anthropogenen Faktors in diesem Prozess äußern einige russische Politiker allerdings immer noch Zweifel.

Im Januar 2020 verabschiedete die russische Regierung den ersten nationalen Maßnahmenplan für eine erste Etappe der Anpassung an den Klimawandel für die Periode bis 2022. Einige Regionen, inklusive Moskau, St. Petersburg und der arktischen Gebiete, erarbeiten Regionalpläne zur Anpassung. Der Altai-Bezirk will eine Modellregion für die Anpassung an den Klimawandel werden. Gleichzeitig spielen die Fragen einer Reduzierung – besonders der Verringerung des Abfalls, der Treibhausgase, des Abschieds von Kohle, Öl und Gas, der Verringerung der Förderung fossiler Brennstoffe und der Entwicklung erneuerbarer Energiequellen – im russischen Kontext eine geringere Rolle. Obwohl die Russische Föderation 2019 dem Pariser Klimaabkommen beitrat, wird im Lande ein Modell der Kohlenstoffregulierung und eine langfristige Strategie der Entwicklung von niedrigen Kohlenstoffwerten bis 2050 erarbeitet. Bis dahin zeugen alle Klimaziele und Strategien von recht wenig Ehrgeiz. Sonnen- und Windenergie entwickeln sich ziemlich langsam, und seriöse Pläne für den Ausstieg aus der fossilen Energie gibt es bis jetzt ebenso wenig wie ausgearbeitete Szenarien für eine weitere Entwicklung und geeignete Transformation der Kohleregionen.

Der Bewusstseinswandel ist sichtbar

Und dennoch sind Veränderungen im Gange. Es ist überaus wichtig, sie zu unterstützen und die internationale Zusammenarbeit zu fördern. Auch eine breitere Berichterstattung in den Massenmedien trägt dazu bei, dass der Klimawandel als Thema heute stärker ins Bewusstsein gerückt wird. In der Russischen Föderation wächst die Zahl und Qualität journalistischer Materialien zu ökologischen und klimatischen Fragen. Berichtet wird über die unterschiedlichen Aspekte des Klimawandels, über wissenschaftliche, politische, ökonomische und gesellschaftliche Aspekte des Themas. Die Problematik wird außerdem immer öfter sowohl in gesellschaftspolitischen Publikationen und Wirtschaftsmedien als auch in spezialisierten „ökologischen“ Medien aufgegriffen, von denen in den vergangenen Jahren mehr und mehr erscheinen. Außerdem entwickelt sich im russischen Medienkontext äußerst aktiv der Sektor der neuen Medien, was dazu führt, dass die traditionellen Medien stärker unter Druck geraten. Zu den neuen Medien zählen Blogger, die „Publics“ in den sozialen Medien, Telegram-Kanäle, Gruppen in Messengerdiensten und Newsletter, die Medieninhalte erstellen und sie verbreiten. Sie alle schenken auch den Fragen der Ökologie und des Klimas immer mehr Beachtung.

Für viele Russen ist die „grüne“ Agenda bereits eine Lebensnorm – das, worüber im Fernsehen gesprochen, in den sozialen Medien geschrieben, bei abendlichen Begegnungen mit Freunden oder in Gesprächen mit den Nachbarn diskutiert wird. Selbstverständlich wird über dieses Thema auch manchmal gestritten, zum Beispiel über die Rolle des Menschen und darüber, was der kalte Winter 2021 mit der globalen Erwärmung zu tun hat. Aber bei alledem registriert man den globalen Trend zum „Grünen“ und zu einer Entwicklung mit niedrigen Kohlenstoffwerten schon genau und denkt darüber nach, wie Russland in dieser Zukunft seinen Platz finden kann.

Deutsch von Friedemann Kluge.


Fußnoten: