Die Pandemie verändert die Rolle der Kirche in Polen

aus OWEP 3/2021  •  von Thomas Urban

Thomas Urban (geb. 1954) war von 1988 bis 2012 Osteuropa-Korrespondent der Süddeutschen Zeitung. Er hat Bücher über die Geschichte Polens und Russlands verfasst, u. a. „Katyn 1940. Geschichte eines Verbrechens“ (2015), und ist Koautor einer Biografie über Papst Johannes Paul II. (2020).

Zusammenfassung

Die Pandemie hat Polen hart getroffen. Sie hat gnadenlos offengelegt, dass das steuerfinanzierte Gesundheitssystem überfordert ist. Gleichzeitig vertiefen ihre Folgen die Gräben in der Gesellschaft, die Politikverdrossenheit wächst weiter. Zu den Verlierern dürfte mittelfristig auch die katholische Kirche gehören. Sie gilt nicht länger als Klammer, die die Nation in Krisenzeiten zusammenhält.

Die polnische Kirche in Zeiten von Corona

Schmutzig sind die Hände, die die blutbesprenkelte Hostie halten. Daneben steht in Riesenlettern: „Stopp der Handkommunion!” Auf großflächigen Reklametafeln attackiert die in Krakau ansässige Piotr-Skarga-Gesellschaft für christliche Kultur mit diesem Bildmotiv die katholische Bischofskonferenz, die in Zeiten der Corona-Pandemie den Gläubigen die Wahl zwischen der Mund- und der Handkommunion lässt. Im Gegensatz zu den westlichen Nachbarländern war letztere bislang in Polen eher die Ausnahme.

Aktion der Piotr-Skarga-Gesellschaft [Copyright: Agencja Gazeta / Adam Stępień)

Die Plakataktion zeigt nicht nur, welche tiefen Gräben sich durch das katholische Polen ziehen, sie ist auch für die nationalpopulistische Regierung in Warschau, die ihre Nähe zur Amtskirche betont, äußerst unbequem. Die Piotr-Skarga-Gesellschaft, benannt nach dem führenden Theologen und Polemiker der Gegenreformation Ende des 16. Jahrhunderts, ist eng verquickt mit der von ultrakonservativen Katholiken gegründeten Stiftung Ordo Iuris, die juristisch gegen angebliche Gotteslästerer in den Medien sowie der Kulturszene vorgeht und auch über eine Gruppe von Abgeordneten der Regierungspartei PiS versucht, auf die Gesetzgebung Einfluss zu nehmen. Vor genau zwei Jahrzehnten hatte der damalige Krakauer Erzbischof Franciszek Macharski, der ein Vertrauter des Papstes Johannes Paul II. war, erklärt, diese Gesellschaft stehe außerhalb der Kirche und werde auch nicht von ihr unterstützt. Macharski wurde den Reformern in der Kirche Polens zugerechnet, doch mittlerweile sind diese im Episkopat klar ins Hintertreffen geraten, ein Ergebnis der Personalpolitik des deutschen Papstes Benedikt XVI.

In den Augen der Jünger des kämpferischen Jesuiten Piotr Skarga ist die Handkommunion eine Sünde – ungeachtet der Tatsache, dass die polnische Bischofskonferenz mit ihrer damaligen Mehrheit aus Reformern diese vor 16 Jahren genehmigt hat, dreieinhalb Jahrzehnte nach ihren deutschen und französischen Amtsbrüdern. Für Mediziner steht fest: So wie in Italien die Zuschauermassen bei Fußballspielen und in Spanien die Teilnehmer der großen Kundgebungen zum internationalen Frauentag am 8. März 2020 erheblich zur Verbreitung des Virus beigetragen haben, so waren es in Polen die Sonntagsmessen. Zum Entsetzen der Fachleute in den Gesundheitsämtern verkündeten manche Priester sogar, die „geweihten Hände“ seien dagegen gefeit, das Virus zu übertragen.

Der prominenteste von ihnen ist der Theologieprofessor Tadeusz Guz von der Katholischen Universität Lublin, der in der Vergangenheit bereits als scharfer Kritiker des ökumenischen Dialogs von sich reden gemacht hat und regelmäßig im nationalistischen Sender Radio Maryja auftritt. Die Bischofskonferenz, in der Befürworter und Gegner einer Öffnung der Kirche hin zur modernen Gesellschaft ihre Differenzen immer wieder über die Medien austragen, unterließ es zum Ärger der Gesundheitspolitiker, Guz und seine Mitstreiter in die Schranken zu weisen. Denn Guz, die Piotr-Skarga-Gesellschaft und viele Gemeindepfarrer konterkarieren mit ihren Aussagen die Corona-Maßnahmen des Gesundheitsministeriums. Dessen Spitzenbeamten wurden jedoch offenkundig ebenso wie die Sprecher der Bischofskonferenz angewiesen, den Konflikt zu verschweigen. Auch Politiker aus dem Regierungslager halten die Aussagen und Aktionen der katholischen Ultras nicht nur für unsinnig, sondern sogar für schädlich. Doch auch sie halten sich mit Kritik zurück, weil der PiS-Vorsitzende Jarosław Kaczyński, der persönlich stets Distanz zu den katholischen Eiferern gehalten hat, jeglichen Konflikt mit der Kirche vermeiden will. Die Ethikkommission des Episkopats aber bereitete der Regierung weiteres Ungemach: Sie teilte mit, dass sie Bedenken gegen die Impfdosen der Firmen AstraZeneca und Johnson & Johnson habe, denn bei den Forschungen zu diesen Vakzinen seien aus abgetriebenen Föten gewonnene Zellkulturen verwendet worden. Zwar bezeichnen polnische Experten diese Version als falsch und verweisen überdies auf die Glaubenskongregation des Vatikans, die keinerlei derartige Bedenken geäußert hatte. Doch die polnischen Bischöfe blieben bei ihrer Position.

Immerhin hat die Amtskirche klar Stellung gegen mehrere Priester bezogen, die in ihren Predigten behaupteten, Covid sei die Strafe für die Zulassung von Abtreibung und homosexuellen Partnerschaften im verderbten Westen. Ein Sprecher der Bischofskonferenz erklärte dazu, dieses Bild eines „strafenden Gottes“ sei theologisch nicht zu begründen; im Übrigen sollten die Menschen die von der Regierung angeordneten Maßnahmen befolgen.

Umfragen zufolge stört sich die überwältigende Mehrheit der Polen daran, dass die Regierung die Kirche von den harten Maßnahmen ausnimmt, die für die Geschäftswelt und die Kulturszene gelten: Auch zu den Spitzenzeiten der Pandemie waren die Kirchen für die Sonntagsmessen geöffnet, wenn auch mit der Maßgabe, dass die Gläubigen Abstand halten sollen, doch nur wenige entschieden sich für die Handkommunion. Zum Leidwesen vieler Kleriker ist die Zahl der Gottesdienstbesucher allerdings während der Pandemie drastisch zurückgegangen. Im Sozialinstitut der katholischen Kirche, das regelmäßig die Ergebnisse von Erhebungen über die religiöse Praxis veröffentlicht, sieht man Anzeichen dafür, dass ein beträchtlicher Teil der bisherigen Kirchgänger nach dem Ende des zwar offiziell nicht ausgerufenen, aber faktischen Ausnahmezustandes nicht den Weg zurück in die Gotteshäuser finden wird. Damit würde sich der Trend der vergangenen Jahre weiter verstärken: Im Großraum Warschau beispielsweise war der Anteil der praktizierenden Katholiken, die regelmäßig an der Sonntagsmesse teilnahmen, schon vor den Corona-Einschränkungen auf rund ein Viertel der Bevölkerung gesunken. Die Kirche dürfte somit in Polen zu den großen Verlierern der Pandemie gehören.

Zunahme der Politikverdrossenheit

Zahlreiche Umfragen zeigen, dass auch das grundsätzliche Vertrauen in die Politik stark zurückgegangen ist. Die Politikverdrossenheit in Polen war schon vor der Pandemie sehr groß, die Beteiligung bei den Parlamentswahlen 2019 hatte bei ganzen 62 Prozent gelegen. Traditionell dürfen bei Umfragen über einzelne Politiker in Polen auch negative Urteile abgegeben werden: Nach mehr als einem Jahr mit Covid gibt es keinen einzigen Spitzenpolitiker mehr, bei dem die Zustimmung die Ablehnung überwiegt. Dies gilt ebenso für die Regierung wie für die Oppositionsparteien, die untereinander zerstritten sind und deren Führer nicht den Eindruck vermitteln, sie könnten die tief gespaltene Gesellschaft einen. Die große Mehrheit der Polen misstraut ihren Politikern oder traut ihnen nicht zu, Auswege aus der Krise zu finden, die nicht nur mit einer allgemeinen Verunsicherung der Gesellschaft einhergeht, sondern auch die Arbeitslosenzahlen sowie die Inflationsrate spürbar steigen lässt.

Ministerpräsident Mateusz Morawiecki trug mit optimistischen Prognosen, die sich sehr bald als überholt erwiesen, nicht wenig zur allgemeinen Verunsicherung bei. So erklärte er nach der abrupten Schließung der Grenzen im März 2020, Polen werde nur in geringem Maße von der Pandemie tangiert werden, die im Übrigen im Sommer vorbei sein werde. Unsinnige Restriktionsmaßnahmen sorgten für viel Unmut in der Bevölkerung, wie die Schließung der Parkanlagen und das Verbot, im Wald spazieren zu gehen. Dass die Polizei vielerorts mit großer Härte gegen Personen vorging, die im Freien nicht durchgehend eine Maske trugen, rief sogar den Sprecher für Bürgerrechte auf den Plan, oppositionelle Medien sehen deshalb Polen auf den Weg zum Polizeistaat.

Scharf kritisiert wurde das schlecht funktionierende Hilfsprogramm der Regierung für kleine und mittlere Betriebe, die wegen der Pandemie von Zahlungsunfähigkeit bedroht sind. Die Pandemie nährt somit das traditionelle Misstrauen der Polen gegen die Obrigkeit und staatliche Institutionen, das auf die Zeiten der Fremdherrschaft zurückgeht. Umfragen belegen, dass die penetrante Erfolgspropaganda des von der PiS völlig kontrollierten staatlichen Senders TVP diese Grundeinstellung nicht ändert, sondern bei der Mehrheit eher kontraproduktiv wirkt. TVP hatte in der Anfangsphase der Pandemie den Gesundheitsminister Łukasz Szumowski, einen Kardiologen, der auch Ritter des Malteserordens ist, in vielen Sendungen als Helden an vorderster Front im Kampf gegen das Virus gepriesen. Doch die oppositionelle Presse berichtete bald, dass Szumowski offenkundig korrupte Geschäfte mit Bekannten, darunter mit seinem Bruder, seinem Skilehrer und einem Waffenhändler, bei der Beschaffung von Schutzmasken und Beatmungsgeräten abgesegnet hatte. Zudem stellte sich heraus, dass die bestellten Masken für medizinische Zwecke ungeeignet waren, auch waren die gezahlten Summen völlig überhöht. Szumowski musste zurücktreten, sein Fall machte Schlagzeilen und trug zum weiteren Ansehensverlust der politischen Klasse Polens bei.

Entsprechend gering ist das Vertrauen in die offiziellen Statistiken. Premier Morawiecki hatte sich in der ersten Phase der Pandemie geringerer Zahlen von Krankheitsfällen im Vergleich zu Deutschland und den anderen Nachbarländern gerühmt. Doch Fachleute widersprachen ihm öffentlich: In Polen werde routinemäßig nur beim Auftreten verdächtiger Symptome getestet, nicht aber zur Vorsorge. Der Regierung wurde folglich Schönfärberei unterstellt.

Tiefe Gräben durch die Gesellschaft

Die Pandemie offenbarte vor allem, dass das Gesundheitssystem überfordert ist. Seit der politischen Wende in Polen vor drei Jahrzehnten sind zwar die Krankenhäuser im ganzen Land modernisiert worden, doch die Gehälter des medizinischen Personals in Einrichtungen der öffentlichen Hand blieben niedrig. Dies führte einerseits zur großen Abwanderung von Ärzten und Krankenschwestern vor allem nach Deutschland und Großbritannien, andererseits zu einer noch stärkeren Belastung der Zurückgebliebenen, von denen viele einen zweiten Job annehmen müssen, um den Lebensunterhalt zu bestreiten. Sämtliche Regierungen, unabhängig von der politischen Couleur, haben es in der Vergangenheit versäumt, Anreize zu schaffen, um diesen Exodus zu beenden und die Lücken zu schließen. Die personellen Engpässe führten dazu, dass Ärzte und Pfleger zu den Hochzeiten der Pandemie völlig übermüdet waren und mitunter auf eine Krankenschwester drei Dutzend Schwerkranker kamen. Befragungen von Patienten erbrachten, dass diese durchweg große Angst vor einer Ansteckung im Krankenhaus haben. Um die Kliniken im Großraum Warschau zu entlasten, wurde medienwirksam in den Katakomben des Nationalstadions am Weichselufer ein Feldlazarett eingerichtet, das dazu abgeordnete Personal kommt in den Genuss von Zulagen, doch fehlt es an den Heimatorten. Experten kritisieren die Maßnahme als unsinnige Geldverschwendung – viel sinnvoller und billiger wäre es gewesen, vorhandene Krankenhäuser durch Container zu erweitern.

Krankenwagen vor der Notaufnahme eines Krankenhauses (Copyright: Agencja Gazeta / Tomasz Stańczak)

Kaum zu übersehen ist die Zahl der Medienberichte über Ambulanzfahrzeuge, die viele Stunden von einem Krankenhaus zum anderen fahren mussten, um Patienten einzuliefern. Doch wurden sie immer wieder abgewiesen, weil die Kapazitäten der Kliniken erschöpft waren. Da Polen nur über eine geringe Zahl von Epidemiologen verfügt, bekamen Ärzte anderer Fachrichtungen die Anweisung, sich in Schnellkursen das notwendige Wissen anzueignen. Auch wurden ganze Krankenhausabteilungen zu Isolierstationen umgebaut. Allerdings gingen diese Maßnahmen zu Lasten der Patienten, die an anderen schweren Krankheiten litten. Dass die Statistik für 2020 rund 71.000 Tote mehr als den Durchschnittswert von 406.000 während der vorangegangenen vier Jahre verzeichnet, führen die Experten nur zu etwa der Hälfte auf Covid zurück. Die andere Hälfte der Todesfälle sei die Folge verschobener Operationstermine sowie des massiven Zusammenstreichens von Therapien und Rehabilitationen bei anderen Krankheiten.

Auf die Regierenden kommt somit ein kostspieliger Ausbau und Umbau des Gesundheitssystems zu, das bislang steuerfinanziert ist. Eine Steuererhöhung dafür dürfte unvermeidlich sein – und die Politikverdrossenheit weiter fördern. Eine private Krankenversicherung, die Behandlungen in den ausreichend ausgestatteten Privatkliniken garantiert, kann sich nur ein Bruchteil der Bevölkerung leisten. Ersten Analysen zufolge sind die sozial schwächeren Gruppen und die Mittelklasse viel heftiger vom Einbruch der Wirtschaft betroffen als die Wohlhabenden. Auch dies lässt eine beträchtliche Zunahme gesellschaftlicher Spannungen erwarten.

Zu den Leidtragenden gehört auch ein großer Teil der Schüler, namentlich Kinder und Jugendliche aus minderbemittelten Familien. Zum einen fehlt es ihnen oft an einer guten materiellen Ausstattung für den Fernunterricht über Internet, zum anderen können Eltern aus bildungsfernen Schichten ihren Kindern nicht bei den Hausaufgaben helfen, ganz abgesehen davon, dass oft beide Elternteile berufstätig sein müssen, um ein ausreichendes Familieneinkommen zu sichern. Nach Schätzungen von Experten brauchen wegen der außerordentlichen Belastungen und wegen des Fehlens sozialer Kontakte während der Pandemie rund zehn Prozent der Schüler psychologische Hilfe, also rund 600.000.

Zukunft des kirchlichen Lebens?

Zu den besonders betroffenen Berufsgruppen gehören auch die Gemeindepfarrer. Diese bekommen von ihren Diözesen durchweg geringe Mittel für ihren täglichen Lebensbedarf wie auch für die Unterhaltung der Kirchengebäude. Deshalb sind polnische Pfarrer traditionell auf die Scherflein der Gläubigen für den Klingelbeutel sowie die Spenden bei den traditionellen Hausbesuchen zu Beginn des Neuen Jahres angewiesen. Doch wegen der Pandemie wurde die Zahl der Gottesdienstbesucher stark eingeschränkt, die Hausbesuche sind gänzlich fortgefallen.

Zu den staatlich verordneten Restriktionen, die die Pfarrgemeinden empfindlich treffen, gesellen sich die aufsehenerregenden Publikationen über Pädophilieskandale und sündige Bischöfe, die Gelder der Caritas für ihr Leben in Saus und Braus zweckentfremdet haben. Das zeitliche Zusammentreffen der Skandale mit der Pandemie ist Zufall, doch beides wird der Säkularisierung der Gesellschaft einen weiteren kräftigen Schub geben.