1918: Estland, Lettland, Litauen und Finnland werden unabhängig
Der Erste Weltkrieg wird zumeist als Selbstzerstörung Europas wahrgenommen. Aus der Perspektive vieler Völker im Osten Europas stellt sich das Ergebnis des Ersten Weltkriegs vollständig anders dar: Der Untergang der Vielvölkerreiche Russland und Österreich-Ungarn schuf die Voraussetzungen für die Unabhängigkeit und stellte entweder die frühere staatliche Eigenständigkeit wieder her oder machte manche Völker erstmals in der Geschichte zu selbstständigen und damit völkerrechtlich gleichberechtigten Mitgliedern der europäischen Völkerfamilie.
Ein halbes Jahr nach der Machtergreifung der Bolschewiki in Zentralrussland (Oktober/November 1917) hatten sich fast alle Randgebiete im Westen des Russischen Reiches vom Imperium losgesagt. Die Wiedererrichtung des polnischen Staates, den die drei Mächte Russland, Österreich und Preußen am Ende des 18. Jahrhunderts von der Landkarte ausradiert hatten, war in vollem Gang. Finnland, Litauen, Estland und Lettland sowie Bessarabien erklärten ihre Unabhängigkeit. Allerdings waren die siegreichen Bolschewiki – entgegen ihrer Propaganda vom Selbstbestimmungsrecht der Völker bis zur Loslösung von Russland – nicht bereit, die Völker kampflos ziehen zu lassen. In allen Fällen musste die Unabhängigkeit politisch und militärisch erkämpft werden. Während Polen und Finnland sowie die drei baltischen Staaten ihre Unabhängigkeit militärisch sichern konnten, gelang es der Roten Armee im Laufe des Bürgerkriegs, die Ukraine, Weißrussland, die Staaten des Transkaukasus und weitere Territorien in Sibirien und Mittelasien, die sich zunächst losgelöst hatten, zurückzuerobern.
Die Bolschewiki restituierten das Zarenreich in der Gestalt der Sowjetunion. Dazu waren auch politische Konzessionen unumgänglich, die sie den Völkern machten, um sie nachträglich für die Revolution zu gewinnen. Dennoch waren die Bruchlinien von 1918 so tief, dass die Sowjetunion 1991 fast überall an eben diesen Linien endgültig zerfiel.