„Fake News“ in der Coronakrise

aus OWEP 3/2021  •  von Gemma Pörzgen

Gemma Pörzgen (geb. 1962 in Bonn) ist freie Journalistin mit Osteuropa-Schwerpunkt. Sie arbeitet in Berlin als Autorin und Veranstaltungsmoderatorin sowie in der Redaktion von Deutschlandfunk Kultur. Davor war sie als Auslandskorrespondentin für verschiedene Zeitungen in Belgrad und Tel Aviv tätig. Seit April 2020 ist sie Chefredakteurin von „OST-WEST. Europäische Perspektiven“. Sie ist Mitgründerin und Vorstandsmitglied von Reporter ohne Grenzen.

Zusammenfassung

In der Corona-Pandemie stehen alle Gesellschaften vor der großen Herausforderung, ob und wie es gelingt, notwendige Gesundheitsinformationen an die Bevölkerung zu vermitteln. Das gilt für die staatliche Kommunikations- und Öffentlichkeitsarbeit, aber auch für Journalisten und Medien. Die Bedrohungen für die Pressefreiheit haben weiter zugenommen.

Sorge vor einer „Infodemie“

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) warnte schon im Februar 2020 angesichts der Corona-Pandemie: „Wir bekämpfen nicht nur eine Epidemie, sondern wir kämpfen auch gegen eine Infodemie“, sagte WHO-Chef Tedros Adhanom Ghebreyesus auf der Münchner Sicherheitskonferenz. Er äußerte die Befürchtung, dass sich „Fake News“ noch schneller verbreiten könnten als das Virus selbst.

Die WHO sieht die Gefahr seither in einem Übermaß an Informationen, das sich aus einem Mix von Halbwissen, Gerüchten, Irreführung, PR, Falschmeldungen und Propaganda über Covid-19 zusammensetzt.

Die große Sorge besteht darin, dass die Menschen durch „Fake News“ dazu verleitet werden könnten, sich in der Corona-Krise falsch zu verhalten, unnötige Risiken einzugehen und die Gesundheit anderer gefährden. Die „Infodemie“ kann nach Einschätzung der WHO auch das Vertrauen der Bürger in die Ärzteschaft, in medizinische Einrichtungen und die Gesundheitspolitik eines Landes untergraben. Die Corona-Pandemie sei die erste Epidemie in der Geschichte, in der neue Technologien und soziale Medien in starkem Maße dazu genutzt würden, um die Menschen zu informieren, aufzuklären und zu erreichen, hieß es in einer Erklärung der WHO gemeinsam mit zahlreichen UN-Organisationen.1 Sie riefen alle Staaten dazu auf, Aktionspläne zu entwerfen, um eine sorgfältige Information zu gewährleisten, die auf wissenschaftlichen Erkenntnissen basiert, und Desinformation zu bekämpfen.

Beunruhigende Auswirkungen der Pandemie auf die Pressefreiheit beobachtet weltweit auch die Organisation Reporter ohne Grenzen (RSF). „Viel zu viele Regierungen reagieren auf die Corona-Krise mit autoritären Reflexen wie Zensur, Überwachung, Repression und Desinformation“, kritisiert RSF-Geschäftsführer Christian Mihr. Indem Regierungen den Zugang zu verlässlichen, unabhängigen und vielfältigen Informationen über Covid-19 verhinderten, verschärften sie die Krise zusätzlich. Auch in einigen osteuropäischen Staaten zielten die Regierungen vor allem darauf ab, die Gefahr von Covid-19 herunterzuspielen und ihren Bürgern wichtige Informationen vorzuenthalten.

Staatspropaganda verharmlost die Pandemie

So redete der belarussische Staatschef Alexander Lukaschenko die Pandemie von Anfang an klein. Er sprach im Frühjahr 2020 von einer inszenierten „Psychose“ und empfahl, das Virus mit Wodka und Saunagängen zu bekämpfen. Einen Lockdown gab es in Belarus nicht, und selbst Massenveranstaltungen wie Fußballspiele blieben erlaubt.

Das belarussische Gesundheitsministerium gab keine vollständige Statistik der Covid-19-Erkrankungen nach Regionen und Städten heraus. Konkrete Zahlen suchte man auf der offiziellen Seite der Behörde vergebens. Über den Telegram-Kanal des Ministeriums wurden Daten mit einer Verzögerung von zwei bis drei Tagen veröffentlicht.

Lukaschenkos Aussagen, die offiziellen Zahlen und die Berichterstattung der gelenkten staatlichen Medien standen im scharfen Kontrast zum wirklichen Pandemiegeschehen im Land. Offiziell hieß es Ende 2020, es habe nur rund 1.000 Todesfälle gegeben, doch viele Belarussen machten im Freundes- und Bekanntenkreis ganz andere, traurige Erfahrungen. Sie fühlten sich, wie schon zu sowjetischer Zeit nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl 1986, durch die staatliche Propaganda falsch informiert und manipuliert.

Auch in Russland versuchte die Kremlführung, in der Bevölkerung ein geschöntes Bild der Lage zu verbreiten, und ging zunehmend gegen unabhängige Journalisten und Medien vor, die Missstände beschrieben oder die Corona-Politik der Kremlführung kritisierten. RSF rief die russische Regierung deshalb dazu auf, eine unabhängige Berichterstattung über die Covid-19-Pandemie zuzulassen und Medien nicht unter dem Vorwand zu verfolgen, dass sie angeblich „Fake News“ verbreiteten. „Nur mithilfe realistischerer Zahlen und Beschreibungen der Wirklichkeit können effektive Schutzmaßnahmen ergriffen werden“, kritisierte Mihr. „Medienschaffenden in dieser Situation mit Gefängnisstrafen zu drohen, ist absolut kontraproduktiv.“

Gesetze gegen „Fake News“ als Vorwand

Präsident Wladimir Putin hatte am 1. April 2020 verschärfte „Fake News-Gesetze“ unterzeichnet, die auch von russischen Journalistenvereinigungen scharf kritisiert wurden. Während das Verbreiten angeblicher Falschnachrichten vorher nur als Ordnungswidrigkeit geahndet wurde, drohten nun hohe Geldstrafen oder sogar Haft.

Die russische Regulierungsbehörde „Roskomnadzor“ sperrte seit Ausbruch der Pandemie mehrere hundert Artikel oder ganze Webseiten unabhängiger Online-Medien, die beschuldigt wurden, angebliche Falschnachrichten zu verbreiten. „Roskomnadzor“ ordnete beispielsweise an, dass der unabhängige Sender „Echo Moskwy“ und das Online-Medium „Govorit Magadan“ Artikel über den Corona-Ausbruch von ihren Websites und den Social media-Kanälen entfernen sollten. Bei „Echo Moskwy“ ging es um ein Interview, in dem das heutige Regierungshandeln mit dem sowjetischen Missmanagement während der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl verglichen wurde. „Govorit Magadan“ hatte über einen an Lungenentzündung gestorbenen Mann in einem lokalen Krankenhaus berichtet.

Auch die Auslandssender „Deutsche Welle“ und „Radio Liberty“ traf wiederholt der Vorwurf russischer Politiker, sie verbreiteten in ihrem russischen Programm angebliche „Fake News“ über die Pandemie.

Vergleichbare Entwicklungen gab es selbst innerhalb der EU, beispielsweise in Ungarn. Dort gehören Anfeindungen durch die Regierung für die wenigen verbliebenen unabhängigen Medien längst zum journalistischen Alltag. Die Orbán-Regierung habe die Corona-Krise dafür genutzt, ihren illiberalen Kurs zu verstärken, kritisiert RSF. So gewährten zwei neue Gesetze dem Regierungschef in der Pandemie weitreichende Sondervollmachten. Bis zum Jahresende konnte Orbán bei seinen Entscheidungen zeitweise das Parlament vollständig umgehen. Gleichzeitig wurde das ungarische Strafrecht dauerhaft verschärft: Wen der Vorwurf trifft, in einer solchen Notstandslage des Landes vor großer Öffentlichkeit „verzerrte Fakten“ zu verbreiten und „Panikmache“ zu betreiben, kann mit drei bis fünf Jahren Haft bestraft werden.

In Slowenien wehrten sich 22 Chefredakteure aus Print- und Rundfunkmedien gegen den wachsenden politischen Druck. Die aktuelle Gesundheitskrise dürfe kein Vorwand für „schädliche“ Änderungen von Mediengesetzen und politische Einmischung in die Medienunabhängigkeit sein, kritisierten sie im Oktober 2020 mit Blick auf die Kommunikationsstrategie der Regierung und Angriffe auf Medien und Journalisten. Die Chefredakteure riefen die Behörden auf, ihre „Energie und Zeit, die sie für die Diskreditierung von Journalisten und Druckausübung auf Medien“ aufwendeten, besser in die Bewältigung der Krise zu investieren.

Die Medienvertreter reagierten damit auf Kritik, die der Regierungschef Janez Janša wiederholt über seinen Twitter-Account übte. Nach Trump-Manier attackiert Janša immer wieder Journalisten und Medien des Landes und diskreditiert deren Berichterstattung in der Corona-Krise.

Die Überforderung der Nutzer

Aber auch andere Phänomene erschweren es den Bürgern in der Pandemie, sich angemessen zu informieren. Heute bietet das Internet ein riesiges Kommunikationsnetzwerk, in dem neben traditionellen Massenmedien auch unzählige neue Anbieter aktiv sind und im Grunde jeder Nutzer selbst zum Massenkommunikator werden kann – und das sogar grenzüberschreitend.

Diese Neuerungen bieten für viele interessierte Bürger eine große Medienvielfalt und können demokratiefördernd wirken. Allerdings muss jeder einzelne Nutzer heute stärker entscheiden, wie glaubwürdig und relevant eine Information ist, ein Text, ein Foto oder ein Video. Viele Menschen fühlen sich dadurch überfordert und verbreiten selbst Nachrichten, die an keinerlei journalistische Selbstverpflichtung zu wahrheitsgemäßer Berichterstattung gebunden sind.

Die Zahl der virtuellen Mitspieler ist schier unüberschaubar geworden, seien es einzelne „Influencer“, die riesige Fangemeinden um sich sammeln, oder die Vielzahl der Kanäle, über die Informationen in Hülle und Fülle ebenso verbreitet werden wie Falschnachrichten oder Werbeinhalte. Schon angesichts des wachsenden Tempos, mit dem sich Inhalte heute weltweit verbreiten können, hat auch gezielte Desinformation in Bedrohungslagen wie der Pandemie ein leichtes Spiel. Von Verharmlosung, über zweifelhafte Alltagstipps bis zur Panikmache ist in der Corona-Krise alles dabei.

„Fake News“ sind schneller

Forscher fanden heraus, dass sich Falschnachrichten oft schneller verbreiten als glaubwürdige Informationen und es für Nutzer heute sehr schwierig ist, verlässliche Nachrichten zu erkennen.

„Während Pandemien, ökonomischen Krisen oder auch Wahlkämpfen zeigt sich besonders deutlich, dass funktionierende Demokratien auf gut informierte Bürgerinnen und Bürger angewiesen sind“, heißt es in einer aktuellen Studie der „Stiftung Neue Verantwortung“ in Berlin, die digitale und Nachrichten- und Informationskompetenzen in Deutschland untersucht hat und gezielte Medienbildung dringend empfiehlt.2 Nutzer seien heute mehr denn je auf sich allein gestellt. „Sie müssen für jede einzelne Nachricht jedes Mal aufs Neue selbst darüber entscheiden, ob eine Quelle oder Information für sie vertrauenswürdig ist. Und ob sie sie lesen, liken oder sogar teilen beziehungsweise weiterleiten.“

Die Stiftung kommt zu dem Schluss, dass sich dieser tiefgreifende Wandel in Deutschland – wie in vielen anderen europäischen Gesellschaften – weiter verschärfen wird und neue Herausforderungen mit sich bringt.

Die Pandemie ist in dieser Hinsicht bereits eine ernste Bewährungsprobe, gerade für die Gesellschaften Ost- und Mitteleuropas, deren Mediensysteme noch weitaus instabiler entwickelt sind.


Fußnoten: