Friede – Unfriede – Krieg
Zusammenfassung
Bis heute wird über die Unterscheidung zwischen „gerechtem“ und „ungerechtem“ Krieg gestritten. Dabei geht es auch um eine umfassendere Definition im Sinne des hebräischen „Schalom“ als „Schöpfungsfrieden“ und „Heilsein“, was ebenso das menschliche Miteinander umfasst. Das von der modernen Friedensforschung entwickelte Vier-Säulen-Modell des Friedensaufbaus basiert auf der grundlegenden Unterscheidung zwischen „peace making“ und „peace building“.
Der österreichische Pazifist und Gründer der Zeitschrift „Die Waffen nieder!“ Alfred H. Fried (1864-1921) beklagte nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, dass ein von fortgesetztem Rüstungswettlauf und ständigen Kriegsdrohungen geprägter Zustand der Staatenwelt kaum mehr ist als eine nur vorübergehende Waffenruhe. Er griff auf die bekannte Analogie zwischen Frieden und Gesundheit zurück, um das Recht eines nur temporären Nicht-Krieges auf den Titel des Friedens infrage zu stellen. „Wie ein Mensch nicht als gesund angesehen werden kann, der auf eine im Voraus bemessene Frist von einem akuten Anfall befreit wird, so ist die Staatenwelt nicht befriedet durch eine Umwandlung des akuten Kriegszustandes in einen nur latenten, von dem man weiß, dass er sich wieder zum akuten Krieg zurückverwandeln muss.“1 Damit benennt der bekennende Pazifist die beiden wichtigsten Gründe, warum der Gegenbegriff zum Krieg nicht notwendig den Frieden, sondern auch einen Zustand angespannten Unfriedens bezeichnen kann: die stets präsente Gefahr einer Rückkehr des Krieges und die exorbitanten Kosten, die der Rüstungswettlauf zur Vorbereitung auf den nächsten Krieg verschlingt. Diese gefährden den Wohlstand der Völker und entziehen ihnen die notwendigen Mittel, die dringend benötigt werden, um Bildung und Wissenschaft zu fördern, soziale Ungleichheit abzubauen und weltweit leistungsfähige Gesundheitssysteme einzurichten.
Dass ein dauerhafter Friede mehr sein muss als die bloße Unterbrechung des Krieges, unterstreicht auch die Unterscheidung zwischen dem negativen Frieden (als dem bloßen Nicht-Krieg) und dem positiven Frieden, der voraussetzt, dass strukturelle Gewaltursachen eingedämmt werden. Der Begriff des positiven Friedens geht auf den Völkerrechtler Johann Baptist Sartorius zurück, der in seinem 1830 erschienenen Werk Organon des vollkommenen Friedens den negativen Frieden als „Nicht-Krieg“ und sein positives Gegenstück als „organische Harmonie des Völkerlebens“ bestimmte.2 An dieses Konzept eines positiven Friedens knüpfen die gegenwärtige Friedensforschung und das neue Paradigma der von den beiden christlichen Kirchen getragenen Theorie des gerechten Friedens an.
Wurzeln der Lehre vom gerechten Frieden
Der Begriff des Schalom meint mehr als nur den Nicht-Krieg oder ein bloßes Koexistieren, ein gewaltfreies Nebeneinander der Menschen. Er bezeichnet den göttlichen Schöpfungsfrieden, der Menschen und Tieren ein umfassendes Heilsein verheißt. Dieser Friede realisiert sich nicht als fertiger Zustand, sondern als Übergang in eine intensivere Einheit der Menschen mit Gott und untereinander. In diesem umfassenden Sinn meint Schalom Gesundheit, Wohlergehen, Sicherheit, materielles und seelisches Gedeihen der einzelnen Personen wie der Gemeinschaft. Die Vorstellung einer gerechten Weltordnung, die den Menschen kosmischen, sozialen und politischen Frieden verbürgt, steht hinter der Aussage von Ps 85,11, die den verheißenen Frieden dadurch umschreibt, dass sie ihn mit der Gerechtigkeit verbindet: „Gerechtigkeit und Friede küssen sich.“ In ähnlicher Weise wird die Verheißung eines messianischen Friedenszustandes in Jes 32,17 geschildert: „Das Werk der Gerechtigkeit wird der Friede sein. Der Ertrag der Gerechtigkeit sind Ruhe und Sicherheit für immer.“ In der lateinischen Bibelübersetzung wird dieses Jesaja-Wort später zu einer Kurzformel der Friedensethik: opus iustitiae pax (= der Friede, das Werk der Gerechtigkeit).
In lehramtlichen Verlautbarungen der katholischen Kirche finden sich das Konzept des gerechten Friedens und die Strategie eines Friedensaufbaus durch Entwicklungsförderung und internationale Zusammenarbeit bereits in der Enzyklika „Populorum Progressio“ von Papst Paul VI. aus dem Jahr 1967. Ihr Leitsatz, der entsprechende Überlegungen der modernen Friedensforschung aufgreift, lautet: „Entwicklung ist der neue Name für Frieden.“ Ähnliche Gedankenanstöße wurden damals im protestantischen Raum entwickelt und in symbolträchtiger Weise öffentlichkeitswirksam. So eröffnete die „United Church of Christ“ („Vereinigte Kirche Christi“) in den USA im Jahr 1986 eine Kampagne unter dem Namen „just Peace Church“, die bis heute besteht.3
Entscheidende Anstöße verdankt die Lehre vom gerechten Frieden der Entwicklung des modernen Völkerrechts. Nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs einigte sich die Staatengemeinschaft auf ein allgemeines Gewaltverbot, das die UN-Charta vorschreibt. Die völkerrechtliche Ächtung des Krieges kennt nur zwei Ausnahmen, in denen militärische Gewaltanwendung legitim sein kann: zur Selbstverteidigung eines Staates gegenüber fremder Aggression und bei so genannten humanitären Interventionen zum Schutz vor systematischen Menschenrechtsverletzungen oder bei einem Zerfall staatlicher Autorität. Zur Rechtfertigung solcher Interventionen, die ein Mandat des UN-Sicherheitsrats erfordern, dient seit den 1990er Jahren die völkerrechtliche Doktrin der Internationalen Schutzverantwortung (responsibility to protect), in deren Namen die Völkergemeinschaft nationalstaatliche Souveränitätsrechte einschränken kann.
Das Vier-Säulen-Modell des Friedensaufbaus
Die gegenwärtige Friedensforschung entwickelte im Anschluss an politikwissenschaftliche Theorien die fundamentale Unterscheidung zwischen peace making (Frieden schaffen) und peace building (Friedenskonsolidierung). Wenn die heiße Phase einer militärischen Auseinandersetzung beendet ist und die Waffen schweigen, beginnt die eigentliche Aufgabe der Nachkriegszeit, der Aufbau einer stabilen und dauerhaften Friedensordnung. Diesem Ziel dient ein theoretisches Vier-Säulen-Modell; es besteht aus:
- erstens den Komponenten eines weltweiten Menschenrechtsschutzes,
- zweitens der Forderung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit,
- drittens der Entwicklungszusammenarbeit und der Verbesserung gerechter Welthandelsbedingungen sowie
- viertens dem Ausbau supranationaler Organisationen.
Weltweiter Schutz der Menschenrechte
Auch wenn der Schutz der Menschenrechte in vielen Weltregionen im Argen liegt, stellt ihre weltweite Anerkennung durch das moderne Völkerrecht, vor allem durch das Regelwerk der UN-Charta, die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte und die beiden Menschenrechtspakte aus dem Jahre 1966 einen beträchtlichen Fortschritt dar. Spätestens seit der Friedensenzyklika von Papst Johannes XXIII. „Pacem in Terris“ aus dem Jahr 1963 bilden die universale Bedeutung der Menschenrechte und ihr weltweiter Schutz auch den inneren Konstruktionspunkt der kirchlichen Friedensethik. Die Menschenrechte stellen den Referenzrahmen für eine internationale Friedensordnung dar, wie sie die Päpste seitdem fordern. Das universalkirchliche Lehramt hatte seine bis in die Zeit der Französischen Revolution und des Kulturkampfes im 19. Jahrhundert zurückreichende Ablehnung der Menschenrechte bereits während des Zweiten Weltkrieges revidiert, als Papst Pius XII. von allen am Kriege beteiligten Staaten verlangte, die Menschen- und Grundrechte einzuhalten. Sein Nachfolger verankerte die kirchliche Friedenslehre auch systematisch in dem Gedanken der unveräußerlichen Rechte, die jeder Person von Natur aus gegeben sind. Ihr Schutz stellt eine notwendige, wenn auch allein noch nicht hinreichende Voraussetzung des Weltfriedens dar.
Worin besteht der spezifische Beitrag eines weltweiten Schutzes der Menschenrechte zur Sicherung des Friedens? Die allgemeine Erklärung der Menschenrechte der UNO gibt darauf in Art. 28 einen Hinweis, wenn sie fordert: „Jeder Mensch hat Anspruch auf eine soziale und internationale Ordnung, in welcher die in der vorliegenden Erklärung angeführten Rechte und Freiheiten voll verwirklicht werden können.“ Dieses Postulat unterstreicht den Zusammenhang zwischen dem Frieden in der internationalen Staatengemeinschaft und der inneren Ordnung des gesellschaftlichen Lebens eines Staates, die auf der Achtung der Menschenrechte und der Freiheit aller gegründet sein muss. Die weltweite Anerkennung der Menschenrechte führt demnach nicht unmittelbar zum Frieden, wohl aber schafft sie die geeigneten Voraussetzungen, die eine gewaltfreie Konfliktregulierung erleichtern und dadurch den Weltfrieden sichern. Dies bedeutet umgekehrt, dass sich bereits bestehende Konflikte überall dort verschärfen, wo das Leben von Menschen durch Unterdrückung, Verfolgung und Gewalt bedroht ist und sie durch extreme Armut und Not an der Entfaltung ihres Daseins und von der Teilnahme am öffentlichen und kulturellen Leben ausgeschlossen werden. Die im Inneren eines Landes aufgestauten Gewaltpotenziale entladen sich nach außen und führen dazu, dass die Nachbarstaaten sich bedroht fühlen. Von einem Land, in dem die öffentliche Gewalt, die die Bürger vor Verbrechen, Terror und Menschenrechtsverletzungen schützen könnte, immer mehr erodiert, geht eine Gefahr für die betroffene Weltregion und für die gesamte internationale Staatengemeinschaft aus.
In moralischer Hinsicht gründen die Menschenrechte in der Menschenwürde, die jedem Menschen zusteht. Ungeachtet ihrer geistesgeschichtlichen Herkunft aus dem europäischen Kulturkreis, näherhin aus der jüdisch-christlichen Gedankenwelt und der politischen Ideengeschichte der europäischen Aufklärung, gelten die Menschenrechte kulturübergreifend und universal. Sie sind eine Antwort auf elementare Unrechtserfahrungen, durch die die Menschenwürde verletzt wird. Wer immer irgendwo auf der Erde gefoltert wird oder verhungert oder wer wegen seiner Hautfarbe, seines Geschlechts oder seines religiösen Glaubens diskriminiert wird, der versteht unmittelbar und über alle Kulturgrenzen hinweg, dass jeder Mensch überall auf der Erde zum Schutz seiner Würde der Gewährleistung elementarer Rechte bedarf. Die Universalität der Menschenrechte und ihre Unteilbarkeit bilden deshalb, verbunden mit dem Aufbau eines wirksamen internationalen Regimes zu ihrem Schutz, die erste Säule eines gerechten Friedens.
Der Zusammenhang von Frieden und Demokratie
Die Idee „Friedensaufbau durch Demokratieförderung“ geht von einer Gesetzmäßigkeit aus, die in der Natur von Staaten und ihren politischen Herrschaftsformen begründet ist: Je stärker die innere Organisation eines Staates auf Gewalt, Abhängigkeit und Unfreiheit gegründet ist, desto geringer ist seine Fähigkeit zur friedlichen Konfliktbeilegung nach außen ausgebildet. Dies bedeutet umgekehrt: je höher die Verteilungsgerechtigkeit, was den Zugang zu Sicherheit, Wohlstand und politischer Macht anbelangt, nach innen, desto geringer die Gewaltsamkeit in zwischenstaatlichen Beziehungen nach außen. Diktatorische Regime werden immer wieder auf das Ventil eines Krieges zurückgreifen, weil die Systemlogik ihrer politischen Herrschaftsform auf dem ständigen Einsatz von Gewalt beruht.
Eine dauerhafte Strategie des Friedensaufbaus muss deshalb dabei beginnen, autoritäre Herrschaftsstrukturen umzugestalten und auf die Ausbildung demokratischer Machtverhältnisse zu setzen. Der Zusammenhang zwischen demokratischen Regierungsformen und der Friedenswilligkeit einer Gesellschaft ist auch historisch gut belegt: Konsolidierte Demokratien führen untereinander keine Kriege. Im Zeitalter der Aufklärung begründete der Philosoph Immanuel Kant die Forderung nach einer republikanischen Regierungsform damit, dass diese dem Weltfrieden besser diene als jede andere Staatsform. Das Bestreben, den Frieden durch die allgemeine Förderung von Freiheit und Gerechtigkeit zu sichern, wurde später zu einem Grundbekenntnis des politischen Liberalismus.
Maßnahmen für den Frieden
Neben das Konzept des demokratischen Friedens (democratic peace) tritt eine weitere Säule, die mit den Begriffen Entwicklungszusammenarbeit, Armutsbekämpfung und Wohlfahrtsförderung umschrieben werden kann. Zu den Minimalbedingungen eines gerechten Friedens gehört, dass die Rechte aller Menschen auf Subsistenz, auf minimale ökonomische Sicherheit und auf Freiheit geachtet werden. Hinter dieser Annahme steht ein Menschenrechtsverständnis, das davon ausgeht, dass es menschliche Grundbedürfnisse (basic needs) und fundamentale Rechte (basic rights) gibt, deren wenigstens ansatzweise Gewährleistung Voraussetzung für ein menschenwürdiges Dasein ist. In neueren friedensethischen Denkansätzen wird daher das Konzept der nationalen Sicherheit zur Vorstellung einer human security erweitert, die im Schutz vor extremer materieller Not, im Schutz vor polizeilicher Willkür oder paramilitärischem Terror sowie im Schutz vor Vertreibung und Zwangsumsiedlung unerlässliche Voraussetzungen eines gerechten Friedens sieht.
Das Niveau der gerechten Verteilung von Gütern, das in einzelnen Ländern erreicht werden kann, lässt sich von außen vor allem durch gerechtere Bedingungen des Welthandels beeinflussen. Eine Förderung des freien Welthandels trägt allerdings nur dann dazu bei, den Wohlstand der beteiligten Länder zu vermehren, wenn sie zu fairen und gleichen Bedingungen am Marktgeschehen teilnehmen können. Die friedensfördernden Wirkungen des freien Welthandels hängen davon ab, ob dieser wenigsten minimalen Gerechtigkeitsanforderungen genügt, damit alle Handelspartner einen ausreichenden Anteil an den Wohlfahrtsgewinnen erhalten. Handel zwischen ungleich gewichtigen Ökonomien kann zwar auch für beide vorteilhaft sein, doch profitiert der schwächere Partner in deutlich geringerem Maße davon. Für sich genommen ist der freie Handel ohne entsprechende Rahmenbedingungen daher noch keine Garantie für den Weltfrieden.
Dies muss leider auch als ein Vorwurf an die westlichen Industrienationen und die Staaten der Europäischen Union formuliert werden. Zwischen ihrem hohen Wohlstandsniveau und dem Ausbleiben ökonomischer Erfolge auf der Verliererseite des Weltwirtschaftssystems bestehen durchaus ursächliche Wechsel- und Verstärkerwirkungen. Insofern muss die bedrückende Armut in weiten Teilen der Erde, auch wenn sie durch das Versagen der betroffenen Staaten, vor allem durch schlechte Verwaltung, Korruption und Schattenwirtschaft mitverursacht ist, als die Kehrseite des hohen Lebensstandards in den Industrienationen betrachtet werden. Wenn von der Europäischen Union als einer stabilen Friedenszone die Rede ist, die modellhaft auch anderen Weltregionen den Weg zur dauerhaften Überwindung des Krieges weisen kann, sollte darüber eine bittere Wahrheit nicht vergessen werden: Europa ist nicht nur Teil der Lösung, sondern zugleich tief in die ungelösten Probleme des Welthandelssystems verstrickt, das den ärmsten Staaten der Erde und ihren Bevölkerungen gerechte Entwicklungschancen vorenthält.
Der Ausbau internationaler Organisationen
In der gegenwärtigen Ordnung der Staatenwelt spielen internationale Organisationen wie die UNO, die Weltbank, der Internationale Währungsfonds (IWF), die Welthandelsorganisation (WTO) und der Internationale Gerichtshof eine entscheidende Rolle bei der friedlichen Lösung zwischenstaatlicher Konflikte. Neben der weltweiten Demokratieförderung und der Intensivierung wirtschaftlicher Zusammenarbeit zwischen den Staaten bildet die Stärkung dieser internationalen Organisationen die letzte Säule in der Theorie des gerechten Friedens. Eine Friedensstrategie, die auf die Fortentwicklung der internationalen Ordnung setzt, steht vor dem Problem, dass die konstitutive Schwäche der UNO, die über keine eigenen Streitkräfte und damit über keine Gewalt zur Rechtserzwingung verfügt, sich in absehbarer Zeit nicht ändern wird. Dennoch gibt es keine Alternative zum Ausbau internationaler Organisationen, die besser geeignet wäre, die anarchische Ausgangssituation der Staatenwelt dauerhaft aufzuheben und ihre Mitgliedsstaaten zur gewaltfreien Konfliktbeilegung anzuhalten. Die Entwicklung überstaatlicher regionaler Organisationen empfiehlt sich aber nicht nur aus politischen, sondern auch aus moralischen Gründen. Jeder Mensch, gleich auf welchem Teil der Erde er geboren wird, ist nicht nur Bürger seines Landes, sondern auch Mitglied der Menschheit. Die Menschenrechte, die in der unverlierbaren Menschenwürde verankert sind, kommen ihm nicht erst als Bürger seines Staates zu, sondern bereits aufgrund seiner Zugehörigkeit zur Menschheit. Mit der Idee der Weltbürgerrechte verbindet sich die Forderung nach einem Kosmopolitismus, der das moralische Fundament einer internationalen Friedensordnung bildet.
Ausblick: Kleine Schritte auf dem Weg zum stabilen und gerechten Frieden
Wie alles politische Handeln besteht auch Friedenspolitik, also das konkrete Bemühen der internationalen Staatengemeinschaft, den Frieden dauerhaft zu sichern, in der Kunst des Möglichen. Schon immer erforderte die Arbeit für den Frieden einigen Mut und visionäre Kraft, vor allem aber Geduld, langen Atem, Ausdauer und die Bereitschaft, trotz mancher Rückschläge auf dem Weg der kleinen Schritte voranzugehen. Das Bild von den Säulen einer gerechten Friedensordnung ist zwar einprägsam, aber mit einem Nachteil verbunden: Es unterstreicht zu wenig den prozesshaften Charakter des gerechten Friedens, der Fortschritte auf dem Weg dorthin kennt, aber eben auch Einbrüche und Rückschläge erleiden kann. In der Friedensforschung hat sich deshalb die Rede von den einzelnen Komponenten eines „Prozessmusters“ (Ernst-Otto Czempiel) eingebürgert, um die dynamische Entwicklung zu unterstreichen, die zum Ziel des gerechten Friedens führen soll.
In seiner Schrift „Zum ewigen Frieden“ spricht der Philosoph Immanuel Kant davon, dass eine Rechtsverletzung, die an einer Stelle der Welt den Friedenszustand stört, überall auf der Erde gefühlt werde.4 Er verwies damit nicht nur auf die Interdependenz der Auswirkungen von Kriegsursachen und Gewaltkonflikten, die wir in Zeiten des internationalen Terrorismus und der wirtschaftlichen Verflechtung deutlicher als je zuvor erfahren. Auch einen zweiten, mit der Globalisierung der Welt und der zunehmenden Verflechtung ihrer Probleme einhergehenden Vorgang, die unumkehrbare Beschleunigung dieses Prozesses, sah Kant hellsichtig voraus. Am Ende seiner Friedensschrift heißt es: „So ist der ewige Friede … keine leere Idee, sondern eine Aufgabe, die nach und nach aufgelöst, ihrem Ziele … beständig näher kommt.“5 Zur Begründung dieser Hoffnung verwies Kant darauf, dass „die Zeiten, in denen gleiche Fortschritte geschehen, hoffentlich immer kürzer werden.“6
Die Vorstellung, dass sich die Menschheit in einem linearen Fortschrittsprozess der Idee eines immerwährenden Friedens annähert, hat sich als falsch erwiesen, wenn man den realen Verlauf der Geschichte betrachtet. Diese allzu optimistische Einschätzung Kants ist deshalb der Einsicht gewichen, dass sich die Aufgabe, den Frieden der Staatengemeinschaft zu bewahren und zu sichern, in jeder Epoche unter gewandelten Bedingungen neu stellt. Dazu braucht es jedoch – darin ist Kant unbedingt beizupflichten – regulativer Ideen, die dem politischen Handeln Orientierung geben können. Das Leitbild eines gerechten Friedens, das in seinen unterschiedlichen Komponenten zu einem langfristigen Friedensaufbau führen kann, stellt eine solche regulative Idee dar. Derart weit gefasste Friedenskonzeptionen sind, auch wenn ihnen ein utopisches Moment innewohnt, dennoch unerlässlich, um das Ziel eines langfristigen Friedens nicht aus den Augen zu verlieren. Enttäuschungsfest ist die Hoffnung auf einen stabilen und gerechten Frieden jedoch nur, wenn sie sich bewusst bleibt, dass der Weg zu diesem Ziel aus vielen kleinen Schritten besteht und – jedenfalls bis jetzt – nicht unumkehrbar ist.
Fußnoten:
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Alfred H. Fried: Probleme der Friedenstechnik. Leipzig 1918, S. 29. ↩︎
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Zit. nach Ernst-Otto Czempiel: Friedensstrategien. Eine systematische Darstellung außenpolitischer Theorien von Machiavelli bis Madariaga. 2. Aufl. Opladen 1998, S. 33. ↩︎
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Vgl. Immanuel Kant: Schriften zur Anthropologie (Werkausgabe, Bd. XI). Berlin 1977, S. 216. ↩︎
-
A. a. O., S. 251. ↩︎
-
Ebd. ↩︎