Hinter der Pandemie versteckt: Seuchenbekämpfung als politische Strategie Viktor Orbáns

aus OWEP 3/2021  •  von Katalin Halmai

Die ungarische Journalistin Katalin Halmai ist seit 2001 in Brüssel tätig, seit 2017 als Korrespondentin für die ungarische Tageszeitung „Népszava“. Am 3. April 2019 wurde sie zur Präsidentin der International Press Association API-IPA gewählt.

Zusammenfassung

Das ungarische Parlament hat die Regierung von Viktor Orbán ermächtigt, die Covid-19-Pandemie mit ungewöhnlichen Maßnahmen zu bekämpfen. Nach Ansicht von Kritikern wurden diese vor allem eingeführt, um die Macht der Regierung zu festigen und die Opposition zu schwächen.

Ungarn unter dem „Covid-Ermächtigungsgesetz“

Das ungarische Parlament stimmte am 23. Mai 2021 dafür, den Ausnahmezustand bis September zu verlängern, um die Ausbreitung von Covid-19 zu stoppen. Obwohl sich die epidemiologische Lage in Ungarn verbessert hat, betonte Justizministerin Judit Varga, dass diese Maßnahme notwendig sei, um gegen neue Varianten des Coronavirus besser gewappnet zu sein.

Schon im März 2020 hatte es erstmals einen solchen Beschluss gegeben, seither wurde der Ausnahmezustand mehrfach verlängert. Das erste „Ermächtigungsgesetz“ erlaubte der Regierung, jedes Gesetz per Dekret außer Kraft zu setzen. Nachdem verschiedene internationale Organisationen ihre Besorgnis über diese Gesetzgebung geäußert hatten, widerrief die Regierungsmehrheit im Parlament im Juni 2020 das „Ermächtigungsgesetz“ und wandelte es in einen „medizinischen Notfall“ um. Im November 2020, während der zweiten Pandemiewelle, war stattdessen vom „Katastrophenfall“ die Rede, der seither zweimal verlängert wurde.

Die Regierung erließ zusätzlich eine Reihe dringender und sinnvoller Verordnungen, beispielsweise Sperrstunden, Hygiene-Regeln, Testpflicht oder die Schließung von Restaurants und Geschäften.

Premierminister Viktor Orbán und die regierende Fidesz-Partei wurden beschuldigt, durch erweiterte Befugnisse ihre Regierungsmacht auf Dauer festzuschreiben. Joelle Grogan, Dozentin an der Middlesex University, umschreibt dies in ihrem Beitrag „Power, Law and the Covid-19-Pandemic“ wie folgt: „Die ungarische Regierung, die vor der Covid-19-Pandemie faktisch zur ersten Autokratie der EU geworden war, nutzte die Situation der Pandemie, um sich selbst zu ermächtigen, quasi per Dekret zu regieren, mit nur noch eingeschränkter Rechenschaftspflicht gegenüber gerichtlicher Überprüfung oder parlamentarischer Kontrolle.“1

Durch diese außerordentlichen Vollmachten befugt, annullierte die ungarische Regierung Nachwahlen und Referenden und schloss ordentliche Gerichte, indem sie einen „außerordentlichen Gerichtsurlaub“ verkündete – nur das seit 2013 mit regierungsfreundlichen Richtern besetzte Verfassungsgericht durfte weiterarbeiten.

Eine der strengsten Notmaßnahmen war das vollständige Verbot öffentlicher Versammlungen. Ein Dekret legte fest, dass „alle Versammlungen verboten sind“. Gemeint war damit „eine öffentliche Zusammenkunft, die mit mindestens zwei Personen abgehalten wird, um eine Meinung in einer öffentlichen Angelegenheit zu äußern“. Als Aktivisten „Auto-Demonstrationen“ organisierten, um ihren Protest durch Herumfahren und Hupen im Zentrum von Budapest kund zu tun, wurden viele Demonstranten mit Geldstrafen belegt. Dabei wurde ihnen entweder das Hupen zur Last gelegt oder die Teilnahme an einer Demonstration.

Finanzielle Folgen der Dekrete

Einige Maßnahmen der Regierung zielten nicht nur darauf ab, die Ausbreitung des Virus zu verhindern, sondern dienten eindeutig auch politischen Zwecken. Dies gilt zum Beispiel für die Einführung des kostenlosen Parkens, das angeblich den Straßenverkehr entlasten sollte. Mehrere Gemeinden protestierten wegen des Verlustes von Einnahmen dagegen – angestachelt von der Opposition.

Ein weiteres Regierungsdekret ermöglichte es, Sonderwirtschaftszonen einzurichten, angeblich mit dem Ziel, „die negativen Folgen des Coronavirus abzumildern“. In diesen Zonen werden dem Gemeinderat die Entscheidungsgewalt und die Einnahmen (in Form von lokalen Gewerbesteuern) entzogen. Sie gehen stattdessen an die regionalen Verwaltungseinheiten (Komitate) über, die allesamt von Orbáns Regierungspartei Fidesz dominiert sind.

Zur ersten Sonderwirtschaftzone wurde die Stadt Göd in der Nähe von Budapest mit ihrer Samsung-Fabrik erklärt. Nun fehlt der Gemeinde ein Drittel ihrer Einnahmen. Ursprünglich sollten solche Maßnahmen nur vorübergehend gelten – inzwischen sind sie gesetzlich fest verankert und damit von Dauer.

Aktuell errichtet die Regierung eine weitere Sonderwirtschaftszone in Siedlungen im Komitat Fejér, südlich der Hauptstadt. Für die darin befindliche Stadt Dunaújváros wäre dies schädlich, denn 59 Prozent der Gewerbesteuer, die Großinvestoren in dieser Region zahlen, gehen eigentlich dorthin. Es ist sicher kein Zufall, dass der Bürgermeister von Dunaújváros der rechtsgerichteten Oppositionspartei Jobbik angehört.

Während die Orbán-Regierung versucht hat, die von der Opposition geführten Gemeindeverwaltungen ausbluten zu lassen, wurden Milliarden von Forint für die Wirtschaft ausgegeben, wenn auch nur ein kleiner Teil davon in die Krisenbewältigung floss. So gab die Regierung nach Angaben des ungarischen Nachrichtenportals „mfor.hu“2 zwischen März und Dezember 2020 mehr als 140,2 Milliarden Forint für den Sport aus, mehr als 103 Milliarden Forint gingen an die Kirchen. Gleichzeitig erhielt das Gesundheitswesen nur 51 Milliarden Forint.3

Angriff auf die Meinungsfreiheit

Mit dem im März 2020 verabschiedeten „Ermächtigungsgesetz“ wurden zwei neue Straftatbestände in das Strafgesetzbuch aufgenommen, die auch nach dem Ende des Notstandes nicht verschwinden werden. Wer „eine verzerrte Wahrheit in Bezug auf den Notstand in einer Weise behauptet oder verbreitet, die geeignet ist, eine große Gruppe von Menschen zu beunruhigen oder aufzuwiegeln“, kann mit bis zu fünf Jahren Gefängnis bestraft werden.

Im Mai 2020 nahm die Polizei zwei Personen fest, weil sie ihre Ansichten auf Facebook gepostet hatten. Einer von ihnen wurde für einen Beitrag angezeigt, in dem er schrieb, in seiner Stadt würden 1.170 Krankenhausbetten für an Covid-19 erkrankte Patienten freigehalten. Der andere wurde dafür verantwortlich gemacht, dass er seine Meinung über die Lockerung der Ausgangssperren nur einen Tag nach dem erwarteten Höhepunkt der Pandemie geäußert hatte. Beide Männer wurden beschuldigt, auf der Grundlage des neuen Gesetzes „Fake News“ zu verbreiten, aber nach ein paar Stunden wieder freigelassen. Die Menschenrechtskommissarin des Europarates, Dunja Mijatović, schreibt in ihrem „Memorandum zur Meinungsfreiheit und Medienfreiheit in Ungarn“ vom 30. März 2021: „Bis Ende Juli 2020 wurden 134 damit zusammenhängende strafrechtliche Ermittlungen eingeleitet ... Obwohl die Ermittlungen oft ohne Anklageerhebung eingestellt wurden, hatte die rege Medienberichterstattung über die Verhaftungen eine einschüchternde und abschreckende Wirkung auf die Meinungsfreiheit.“4

Ein weiterer Regierungserlass vom 4. Mai 2020 erlaubt es öffentlichen Stellen, die Frist für die Beantwortung von Anfragen zu verlängern. Es kann nun bei den Behörden bis zu drei Monaten dauern, bis ein Journalist eine Antwort auf seine Frage erhält.

Auch die EU-Kommission verurteilt die zunehmende Einschränkung der Presse- und Medienfreiheit und bereitet auf Initiative von Vĕra Jourová, EU-Kommissarin für Werte und Transparenz, ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn vor.5

Intransparente Covid-Berichterstattung

Ende März 2021 schickten mehr als 28 ungarische Medienvertreter einen offenen Brief an die Regierung. Sie forderten besseren Zugang zu Informationen, um über die Lage in den Krankenhäusern zu berichten, sowie die Möglichkeit, mit dem medizinischen Personal Interviews zu führen. Dies ist bisher per Regierungsdekret verboten. Seit dem Ausbruch der Pandemie durften nur Vertreter der staatlichen Medien die Covid-Stationen betreten. „Ärzten und Krankenschwestern ist es nicht erlaubt, sich öffentlich zu äußern, während Mitglieder der Presse nicht in die Krankenhäuser gelassen werden, sodass wir nicht in der Lage sind, darüber zu berichten, was dort passiert“, hieß es in dem Brief.

Die Medienvertreter baten auch darum, in die virtuellen Presse-Briefings der für die Covid-19-Pandemie zuständigen Regierungsstelle („Coronavirus Operational Corps“) aufgenommen zu werden. Diese wählt im Voraus zugesandte Fragen aus und macht damit eine weitere Klärung von Details unmöglich. Da in Krankenhäusern keine Fotos und Videos gemacht werden dürfen und es unabhängigen Journalisten verboten ist, medizinisches Personal zu interviewen, ist diese Regierungsorganisation, die aus zwei Armee-Kommandanten in Uniform und einer medizinischen Fachkraft besteht, die einzige staatliche Informationsquelle für die Entwicklung der Pandemie in Ungarn – es fehlt ihr jedoch an Transparenz. Auf ihrer Corona-Website gibt es keine Datenbank und keine Diagramme, keine Möglichkeit für Benutzer-Feedback, keine detaillierten Informationen über Impfungen, Todesfälle oder die Krankenhausversorgung. Es werden keine Informationen über regionale Aufschlüsselungen von Todesfällen angeboten und auch keine Angaben darüber, wie viele Menschen aktuell auf den Intensivstationen behandelt werden.

Neue Gesetze unter dem Deckmantel der Pandemie

Seit März 2020 hat das Parlament auf Vorschlag der Regierung zahlreiche neue Gesetze verabschiedet, die während der Pandemie offenbar weniger auffallen sollten.

Zu diesen Gesetzen gehören unter anderem die Klassifizierung von Informationen über das größte Infrastrukturprojekt des Landes – eine von China gebaute Eisenbahnlinie von Budapest in die serbische Hauptstadt Belgrad. Ebenso wurde verboten, das eigene Geschlecht legal zu ändern. Außerdem haben die Gesetzgeber im Dezember 2020 die neunte Verfassungsänderung verabschiedet. Diese schützt „das Recht der Kinder auf die Geschlechtsidentität, mit der sie geboren wurden“, und deren Erziehung auf der Grundlage der verfassungsmäßigen Identität Ungarns und der christlichen Kultur. Festgelegt wird auch, dass eine Mutter nur eine Frau und ein Vater nur ein Mann sein darf. Experten sehen darin einen erneuten Angriff auf Ungarns LGBTI-Gemeinschaft, die bereits im Mai 2020 ins Visier genommen worden war, als das von der Fidesz beherrschte Parlament Transgender-Personen das Recht entzog, ihren Namen und ihr Geschlecht in offiziellen Dokumenten zu ändern.

Mehr als ein Jahr vor den für 2022 geplanten Parlamentswahlen hat das ungarische Parlament auch das Wahlgesetz geändert. Die wichtigste Neuerung besteht darin, dass Parteien nur dann Listen aufstellen können, wenn sie in Budapest und neun Komitaten Kandidaten aufstellen können oder alternativ in 50 Wahlkreisen – bisher waren es 27. Das soll den sechs Oppositionsparteien eine Teilnahme erschweren, die in allen 106 Wahlkreisen nur einen Oppositionskandidaten gegen den Fidesz-Kandidaten antreten lassen wollten.

Aus dem Englischen übersetzt von Thomas Hartl.


Fußnoten: