Jeanne d’Arc – Nationalheldin der vielen Interpretationen
Zusammenfassung
Als französische Nationalheilige ist Jeanne d’Arc heute überall bekannt. Ihre wahre Geschichte ist mehr als gut dokumentiert und trotzdem hat sie über die Jahrhunderte viel Spielraum für neue Interpretationen gelassen. Zuletzt hat besonders die rechtspopulistische Partei „Rassemblement National“ die Jungfrau von Orléans für sich beansprucht.
Geschichtliche Einordnung
Wie wird ein 17-jähriges, einfaches Mädchen aus einem kleinen Dorf in Lothringen zur französischen Nationalheldin? Wie wird aus einer jungen Frau, die auf dem Scheiterhaufen als Ketzerin verbrannt wurde, eine Heilige? Und wie wird aus dieser Heiligen über die Jahre ein Symbol, dass sowohl Monarchisten als auch Republikaner, sowohl Linke als auch die extreme Rechte für sich beanspruchen können? Das ist die Geschichte von Jeanne d’Arc.
Über kaum eine Person aus dem Mittelalter, die aus einfachen Verhältnissen stammt, weiß man so viel wie über Jeanne d’Arc. Geboren wurde sie wohl 1412 in Domrémy, einem kleinen Dorf südwestlich von Nancy. Schon mit 13 Jahren soll sie zum ersten Mal die Stimmen der Heiligen gehört haben, die ihr zunächst nur zu einem frommen und gottesfürchtigen Leben rieten. Später jedoch bekam sie von ihnen einen Auftrag: Inmitten des hundertjährigen Krieges, der seit Jahrzehnten zwischen Engländern und Franzosen tobte, sollte sie Orléans aus den Händen der Engländer befreien und dem französischen Thronfolger Karl auf den Thron helfen.
Die junge Jeanne stellte sich dieser Aufgabe, brach aus ihrem Dorf auf und schaffte es, alle zu überzeugen, dass sie wirklich von Gott gesandt war. Sie bekam Soldaten, ja ganze Armeen an die Seite gestellt und ritt an deren Spitze in den Kampf. Im Mai 1429 gelang es der Pucelle, der Jungfrau, wie sie von den Franzosen noch heute genannt wird, die Engländer aus der Gegend um Orléans zu vertreiben. Zwei Monate später stand sie neben Karl VII., als er in Reims zum König gekrönt wurde – genau so, wie sie es zuvor prophezeit hatte.
Ihr Glück wendete sich jedoch bald. Während Karl VII. nun lieber in Verhandlungen treten wollte, wollte Jeanne weiterkämpfen, um die Engländer ganz vom französischen Boden zu vertreiben. Ihr Versuch, nach Orléans auch Paris zu befreien, scheiterte jedoch. Im Mai 1430 geriet sie vor Compiègne in Gefangenschaft, in der sie bis zu ihrem Tod blieb. Der französische König, der ihr seine Herrschaft verdankte, versuchte nicht einmal, sie auszulösen.
Im Januar 1431 begann in Rouen, der damaligen englischen Hauptstadt in Frankreich, der Prozess gegen Jeanne, der häufig als politische Rache interpretiert wird. Unter dem Vorsitz des Bischofs von Beauvais waren bis zu 60 Beisitzer und Gutachter an dem Inquisitionsverfahren beteiligt. Dank ihrer Prozessakten wissen wir heute so viel über Jeanne d’Arc.
Die Stimmen, die Jeanne hörte, galten nun als Einflüsterungen dämonischer Mächte; die Behauptung, einen direkten Draht zu den Heiligen zu haben, war schlichte Ketzerei – eine Infragestellung des Monopols der Kirche. Nach monatelangem Verfahren fällten die Richter das Urteil: Am 30. Mai 1431 wurde Jeanne d’Arc auf dem Scheiterhaufen verbrannt.
Immer schon wandelbar
Ihr Leben ist seitdem zur Legende geworden. Immer wieder erzählen Künstler, Schriftsteller und Filmemacher ihre Geschichte neu: von Voltaire über Schiller und Bertolt Brecht bis hin zu Bernard Shaw, der in Jeanne d’Arc eine Vorläuferin des Protestantismus sah. Ingrid Bergmann schlüpfte Mitte des letzten Jahrhunderts gleich zwei Mal vor der Kamera in die Rolle der Jungfrau von Orléans, 1999 besetzte Luc Besson die Rolle mit seiner damaligen Ehefrau Milla Jovovich. Mal ist Jeanne eine starke Kriegerin, mal ein romantisiertes Mitglied des französischen Hofes, der sogar eine Schwangerschaft angedichtet wird.
Schon ihre Zeitgenossen änderten jedoch öfter ihre Meinung darüber, für was Jeanne denn nun gestanden haben soll. Während er 1431 noch keinen Finger gerührt hatte, um sie vor ihrem Schicksal zu bewahren, lässt Karl VII. ihr Todesurteil 1456 posthum revidieren – wohl auch, um sich selbst von dem teuflischen Beigeschmack zu befreien, eine Hexe hätte ihm auf den Thron geholfen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde der gesamte Prozess, der zu ihrem Tod geführt hatte, neu interpretiert und Jeanne schließlich 1920 heiliggesprochen.
Damit bekam Frankreich, in dem seit 1905 die Trennung von Kirche und Staat in der Verfassung verankert ist, eine Nationalheilige, sogar mit eigenem Feiertag. Zeitweise war es sogar im Gespräch, den 8. Mai – den Tag, an dem Jeanne d’Arc Orléans befreit hatte – zu einem zweiten Nationalfeiertag zu machen. Diese Idee kam nicht aus dem Nirgendwo, denn spätestens seit Napoleon I. war die Legende um die Jungfrau Johanna ein wichtiges Element der französischen Identität. Sie eignete sich dafür besonders gut, denn Jeanne d’Arc hatte in einer Zeit lange vor jeglichen revolutionären Umbrüchen und den damit einhergehenden Spaltungen der Gesellschaft gelebt, die aber auch eine Zeit war, in der noch keine absolutistischen Könige herrschten. Jeder konnte in sie hineininterpretieren, was immer er am meisten sehen wollte: Die Kirche verehrte sie für ihre Frömmigkeit, Republikaner erhoben sie zum Symbol eines Kampfes gegen die Herrschenden. Im Zweiten Weltkrieg griff der Widerstand gegen die deutsche Besatzung sie als Vorbild auf.
Instrumentalisierung durch den Rassemblement National
Heute wird der Mythos von Jeanne d’Arc von der extremen Rechten instrumentalisiert, als Symbol für Patriotismus und den Kampf gegen Ausländer. In den 1980ern beginnt Jean-Marie Le Pen, Gründer des Front National (heute: Rassemblement National) damit, Brandreden vor ihrem Denkmal in Paris zu halten. Ab 1988 veranstaltet seine Partei am 1. Mai eine jährliche Parade zu ihren Ehren: Das Zusammenfallen des Termins mit dem Tag der Arbeit ist dabei ganz und gar kein Zufall.
Was ihr Vater begonnen hatte, führte Marine Le Pen jahrelang fort, nachdem sie die Führung der Partei übernommen hatte. 2014 beginnt sie ihre Kampagne für die Europawahlen mit dem Slogan „Nein zu Brüssel, ja zu Frankreich“ vor einem riesigen Bild einer stilisierten Jungfrau von Orléans in Ritterrüstung. Dass sich die Partei und ihr Diskurs so sehr auf das historische Symbol der Jeanne d’Arc stützen, soll ihr und ihren Ansichten eine größere Autorität und Legitimität verleihen. Das zumindest erklärt die Sprachwissenschaftlerin Lorella Sini in einer Analyse von Marine Le Pens Rede vom 1. Mai 2015.1
In dieser Rede erklärt Le Pen auch: „Jeanne d’Arc repräsentiert alle Prinzipien, die wir so leidenschaftlich verteidigen. Die Liebe zum Vaterland, den Geist des Widerstandes, die Unabhängigkeit Frankreichs, den Durst nach Freiheit, die Verteidigung der Identität und der Sicherheit der Franzosen, die Einigung der nationalen Kräfte.“ Für Marine Le Pen ist Jeanne d’Arc eine „französische Ikone“, denn sie allein symbolisiere den Glauben an ihr Land und den „Triumph des Willens“ – eine Formulierung, die Jeanne d’Arc nicht nur mit der zeitgenössischen extremen Rechten verknüpft, sondern auch mit dem Nationalsozialismus, denn „Triumph des Willens“ war auch der Titel eines NS-Propagandafilms von 1935.
Die Identifikation des Rassemblement National mit Jeanne d’Arc greift tief, nachdem sie jahrzehntelang aufgebaut worden war. Das gilt besonders für Marine Le Pen. Genau wie Jeanne d’Arc will Le Pen ihre Nation von fremden Einflüssen befreien, was in ihrer Rhetorik sowohl die Kontrolle durch die Europäische Union oder auch den angeblich drohenden Identitätsverlust durch multikulturelle Einflüsse innerhalb Frankreichs bedeuten kann. Die Idolisierung der mittelalterlichen Nationalheldin geht gar so weit, dass eine von Le Pens Töchtern nach Jeanne d’Arc benannt ist: Jehanne, in der Schreibweise, wie sie in den Prozessakten von 1431 auftaucht.
Jeanne d’Arc ist aber nicht das einzige historische Beispiel, das gerne von Populisten in Reden verwendet wird, sondern die Erwähnung von identitätsspendenden Mythen ist ein gern genutztes Werkzeug ihrer Rhetorik, wie Sini erklärt. Es ist auch nicht nur die extreme Rechte, die sich dessen bedient, sondern jede politische Richtung. Für Jeanne d’Arc jedoch ist die Vereinnahmung durch den Rassemblement National heute so stark, dass kein Platz mehr für andere politische Interpretationen ihrer Legende bleibt.
Das könnte sich jedoch bald wieder ändern, denn Marine Le Pen und damit auch ihre Partei distanzieren sich seit wenigen Jahren wieder stärker von Jeanne d’Arc. Es gibt keine langen Paraden zu ihren Ehren mehr, keine großen Reden an der Place de l’Opéra – in diesem Jahr sowieso nicht. Aufgrund der Corona-Pandemie hat der Rassemblement National am 1. Mai lediglich einige online-Konferenzen übertragen. Marine Le Pen hat am selben Tag zwar trotzdem noch einen Kranz an Jeanne d’Arcs Denkmal in Paris niedergelegt, das war jedoch nicht einmal mehr eine Erwähnung in der Pressemitteilung ihrer Partei wert.
Der Rassemblement National will so den Fokus statt auf die Erinnerungskultur an Jeanne d’Arc wieder mehr auf den Tag der Arbeit legen. Denn heute spricht la Pucelle fast nur noch traditionalistische Katholiken an. Indem sie Jeanne d‘Arc beiseiteschiebt, grenzt Marine Le Pen ihre Partei stärker von der Religion und vor allem von extrem nationalistischen Gruppierungen ab, und sie kann sich mehr auf die Thematiken des „arbeitenden Volkes“ konzentrieren, erklärt der Politikwissenschaftler Jean-Yves Camus der französischen Tageszeitung „Le Figaro“.
Noch ist Jeanne d’Arc im zeitgenössischen politischen Diskurs jedoch eng mit der extremen Rechten verbunden. Dabei spielt die Tatsache, dass sie eine reelle historische Persönlichkeit ist, kaum eine Rolle. Was viel wichtiger ist – auch in den rituellen Feierlichkeiten des Rassemblement National –, sind die Legenden. Die Legenden, die aus einem realen Mädchen aus einem kleinen lothringischen Dorf über die Jahrhunderte eine wesentliche Figur der französischen Identität gemacht haben.
Viel Spielraum für Interpretation
Die Frage nach der Wahrheit ist und war dabei schon immer unwichtig. So gab es zum Beispiel seit Beginn des 19. Jahrhunderts auch immer wieder die Theorie, Jeanne sei gar kein Mädchen, sondern der illegitime Sohn von Isabeau de Bavière, der Ehefrau Karl VI., und dem Herzog Ludwig von Orléans gewesen. Oder es hieß, Jeanne wäre gar nicht auf dem Scheiterhaufen verbrannt, sondern hätte überlebt und wäre unter dem Namen Jeanne des Armoises in den 1430er Jahren durch Frankreich gereist. Den Raum für Spekulation in der Geschichte nutzen seit über hundert Jahren auch Psychologen, die an Jeanne d’Arc im Nachhinein nicht nur Halluzinationen, sondern manchmal auch Magersucht und Schizophrenie diagnostiziert haben. All das mögen Theorien sein, die bei genauerer Betrachtung weit hergeholt wirken, doch selbst bei den Prozessakten von 1431 muss man die Frage stellen, wie wahrheitsgetreu sie sind und ob ihre Verfasser nicht doch ideologische Veränderungen daran vorgenommen haben.
Nur eines ist sicher: Jeanne d’Arc ist viele Dinge gleichzeitig. Ein Kind aus Arbeiterverhältnissen, dass die Waffen ergreift, um sein Land zu verteidigen, und eine gläubige junge Frau, die dem König wieder auf die Beine hilft. Sie kann für die Republik und die Monarchie stehen, von Sozialisten und religiösen Traditionalisten zur Heldin erhoben werden. Heute ist sie deshalb ein fester Bestandteil des französischen Lebens – ob nun als Statue im öffentlichen oder religiösen Raum, als Namensgeberin für Plätze und Kirchen oder als Inspiration für Künstler, Schriftsteller und Filmemacher. Ihre Legende, nicht ihre wahre Geschichte ist es, die sie zur Nationalheldin macht.
Fußnote:
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Lorella Sini: De l‘icône à l'exemple historique: Le discours de commémoration de Jeanne d'Arc par Marine Le Pen. In: Argumentation et Analyse du Discours. 16/2016 (09.04.2016); http://journals.openedition.org/aad/2189 (letzter Zugriff: 05.12.2023). ↩︎