Klimaklagen: Ein juristisches und mediales Phänomen
Zusammenfassung
Klimaklagen sind ein neues juristisches Phänomen. Umweltorganisationen greifen auf sie zurück, um mit Hilfe strategischer Klagen Gerichtsverfahren herbeizuführen. Sie schaffen damit Öffentlichkeit und versuchen mit Hilfe von Gerichtsurteilen, Regierungen zum Handeln in der Klimapolitik zu zwingen. Weltweit sind derzeit mehrere tausend Klagen anhängig, vor allem in den USA und Europa. Auch in Deutschland werden aufsehenerregende Verfahren vor der Zivilgerichtsbarkeit, vor allem aber vor dem Bundesverfassungsgericht geführt und demnächst entschieden.
Klimaklagen und „Strategic Litigation“
Seit einiger Zeit wird in den Medien immer häufiger über „Klimaklagen“ berichtet. Ich arbeite seit mehr als 20 Jahren anwaltlich im Umweltrecht. Unsere Kanzlei vertritt Umweltverbände und Umweltbehörden. Wir prozessierten für die Deutsche Umwelthilfe zu Schadstoffen in der Luft, vertraten Graf von Bernstorff zum Endlager Gorleben oder das Land Berlin zur Schließung des Flughafens Tempelhof. Die Auseinandersetzungen waren seit jeher nicht nur rein prozessualer Natur, sondern schon immer in einem Spannungsfeld zwischen Klagen, Publizistik und Politik angesiedelt. Gleichwohl hat sich in diesen Verfahren kein so übergreifender Terminus herausgebildet wie nun mit den „Klimaklagen“. Was hat es damit auf sich? Ist es wirklich etwas Neues?
Das Aufkommen des Begriffs steht in engem zeitlichem Zusammenhang mit einem anderen neuen Wort, der „strategischen Prozessführung“ oder englisch „strategic litigation“. Dabei handelt es sich, so Fachbücher, um eine juristische Methode, bei der im Rahmen einer Gesamtstrategie sowohl die Prozessführung als auch die Lobby- und Öffentlichkeitsarbeit koordiniert werden, um über den Einzelfall hinaus zu mehr Gerechtigkeit zu gelangen.1 Es ist fünf Jahre her, dass mich erstmals eine Einladung zu einem wissenschaftlichen Kongress zu diesem Thema erreichte. Ich war skeptisch, da ich eine über den Gerichtssaal hinausgehende Prozessführung schon immer als Teil unserer Tätigkeit verstand und zunächst nichts Neues darin erblickte, erst recht nichts derart Wichtiges, dass sich darüber wissenschaftlich debattieren ließe.
Mittlerweile sehe ich die Dinge anders. Das Recht und seine gerichtliche Durchsetzung haben sich verändert. Einige Arten von Gerichtsprozessen werden nicht mehr der vormals üblichen anwaltlichen Bearbeitung anheimgegeben. Das klassische Schema der anwaltlichen Fallbearbeitung, bei dem ein abgeschlossener Sachverhalt dem Rechtsanwalt präsentiert wird, der seinerseits durch den Mandanten eher zufällig ausgewählt wurde, greift nicht mehr. Vielmehr sorgen Nichtregierungsorganisationen (NGOs) und die sie beratenden Rechtsanwälte dafür, dass rechtliche Fragen, die über den Einzelfall hinausgehen, planvoll, sozusagen strategisch, angegangen werden. Eigens zu diesem Zweck gegründete Verbände konzentrieren sich auf bestimmte Themen, der European Council for Constitutional and Human Rights (ECCHR) auf den Menschenrechtsschutz, die Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF) auf den Grundrechtsschutz oder die Deutsche Umwelthilfe (DUH) auf den Umweltrechtsschutz. Dies hat zu einer Professionalisierung der Verfahren auf Seiten der Mandanten geführt. In den Organisationen arbeiten hochspezialisierte und hochmotivierte Juristen gemeinsam mit nicht-juristischen Fachleuten. Sie benötigen den Rechtsanwalt als Forensiker, also Experten für das Prozessrecht. Dies führt zu einem verbesserten Kräftegleichgewicht in Auseinandersetzungen mit Unternehmen und staatlichen Stellen und damit zu größerem Erfolg vor Gericht. Hinzu kommt, dass die Digitalisierung eine bessere und stärkere Vernetzung der Zivilgesellschaft zur Folge hat, was Klageverfahren mit ausländischen Klägern erleichtert. Wo früher aufwändige Reisen für zeitlich überschaubare Abstimmungen erforderlich waren, können heute Videokonferenzen kurzfristig durchgeführt werden.
Klimaklagen als globale Entwicklung
Aus dieser Entwicklung, die eine des letzten Jahrzehnts ist, sind die Klimaklagen hervorgegangen.
Sie sind ein globales Phänomen. Eine genaue Abgrenzung ist weder möglich noch sinnhaft. Im Kern zählt man dazu alle Klagen, bei denen gerichtliche Entscheidungen eine Beförderung des Handelns von Politik und Unternehmen zur Eindämmung der Klimakrise bewirken sollen. Allein in den USA sind es mehr als tausend Verfahren. In Europa wird eine ebenso große Zahl geschätzt, auch in Osteuropa werden sie geführt.
Einen hohen Bekanntheitsgrad haben nur einige dieser Verfahren. Diese haben es aber in sich.
Zu nennen ist die in den Niederlanden erfolgreiche Klage der Organisation Urgenda. Mit einem am 9. Oktober 2018 durch das Zivilgericht Den Haag in zweiter Instanz bestätigten Urteil wurde entschieden, dass die Niederlande die Treibhausgasemissionen bis 2020 um mindestens 25 Prozent zu senken haben. Einen derartigen Erfolg, der in seiner Begründung an menschenrechtliche Standards anknüpfte, hatte es bis dahin nicht gegeben.
Ende 2020 hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg die Klage von sechs Jugendlichen aus Portugal zugelassen. Beklagt sind Deutschland, die anderen 26 EU-Staaten sowie Großbritannien, Norwegen, Russland, die Schweiz, die Türkei und die Ukraine, also diejenigen Mitglieder des Europarates, die die höchsten Treibhausgasemissionen zu verantworten haben.
Osteuropa ist von Klagen dieser Art trotz einer deutlich schwächeren NGO-Szene nicht ausgenommen. In Polen verklagt Greenpeace den Stromversorger Polska Grupa Energetyczna (PGE), um neue Investitionen in Kohlekraftwerke aufzuhalten (Greenpeace Poland v. PGE). Ein ähnliches Verfahren läuft gegen das polnische Unternehmen Enea (ClientEarth v. Enea).
Peruanischer Bauer gegen RWE
In Deutschland sind nicht minder aufsehenerregende Verfahren anhängig. Am Oberlandesgericht Hamm macht der peruanische Bauer Saul Luciano Lliuya gegen den Energiekonzern RWE wegen der bevorstehenden Gletscherschmelze oberhalb seines Dorfes einen anteiligen Schadensersatzanspruch geltend. RWE ist, so Herr Lliuya, für 0,47 Prozent der weltweiten Treibhausgase verantwortlich. Er verlangt daher 0,47 Prozent der zum Schutze seines Dorfes erforderlichen finanziellen Aufwendungen, mithin 17.000 Euro. Das Oberlandesgericht hat in einem Hinweisbeschluss mitgeteilt, dass von Rechts wegen dem Anspruch nichts entgegenstehe, sofern die Fakten bewiesen werden können. Daher wird aktuell die Beweisaufnahme durchgeführt.
Bemerkenswert ist dieser Beschluss schon deshalb, weil RWE für sich in Anspruch nimmt, auf der Grundlage rechtmäßiger Genehmigungen zu handeln, sodass es widersprüchlich sei, für ein rechtmäßiges Handeln Schadensersatz zahlen zu müssen. Das Oberlandesgericht Hamm verwarf diesen Einwand. Man darf gespannt sein, wie das Urteil ausgeht.
Greenpeace gegen die Bundesregierung
Gescheitert ist hingegen die Klage dreier Familien von Biolandwirten sowie von Greenpeace gegen die Bundesregierung auf Einhaltung des Klimaziels 2020. Das Verwaltungsgericht Berlin hat die Klage am 31. Oktober 2019 abgewiesen. Man war der Auffassung, die Kläger hätten nicht ausreichend dargelegt, dass die Maßnahmen der Bundesregierung zum Klimaschutz unzulänglich sind. Nur wenn dies der Fall sei, läge ein Verstoß gegen das Grundgesetz vor. Die Klage richtete sich auf das Klimaziel 2020 und war daher zeitlich beschränkt. Da die Bundesregierung das Klimaziel 2020 nur moderat verfehlte, erkannte das Verwaltungsgericht keine Rechtsverletzung. Wegen des beschränkten zeitlichen Horizonts der Klage legten die Kläger keine Berufung ein.
Asiatische Bauern vor dem Bundesverfassungsgericht
Besondere Aufmerksamkeit verdienen vier aktuell vor dem Bundesverfassungsgericht anhängige Verfassungsbeschwerden.
Die älteste ist eine im Jahr 2018 erhobene Verfassungsbeschwerde, die durch den früheren CSU-Politiker Josef Göppel angeführt und durch den Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) unterstützt wird.2 Im Januar und Februar 2020 wurde diese Verfassungsbeschwerde durch drei weitere Verfahren flankiert. Dabei handelt es sich zum einen um die von mir vertretene Beschwerde von zwölf Beschwerdeführern aus Bangladesch und Nepal3 sowie um zwei Beschwerden von Jugendlichen der Bewegung Fridays-for-Future, die, unjuristisch gesprochen, ein Recht auf Zukunft einfordern.4
Diese Verfassungsbeschwerden sind schon deshalb erwähnenswert, weil sie sich gegen das Ende 2019 verabschiedete Bundes-Klimaschutzgesetz richten. Mit ihren Beschwerden rügen die Beschwerdeführer die Unvereinbarkeit des Gesetzes mit dem zur Verhinderung gravierender Schäden Erforderlichen. Sie legen auf mehreren hundert Seiten dar, dass das zur Verhinderung gravierender Klimaveränderungen gebotene Mindestschutzniveau verletzt wird. Als einer der führenden Industriestaaten trägt Deutschland eine besondere Verantwortung. Klar, Deutschland kann die Klimakrise nicht allein lösen. Wenn in Deutschland ab morgen keine Emissionen mehr ausgestoßen würden, wäre das Problem gleichwohl nicht behoben. Trotzdem muss Deutschland zumindest denjenigen Anteil leisten, der seinem Anteil an der Klimakrise entspricht. Rechtlich zählt der Fingerzeig auf andere Staaten nicht. In der Wissenschaft hat sich dazu eine Pro-Kopf-Betrachtung durchgesetzt. Dies bedeutet, dass pro Kopf der Bevölkerung Deutschlands nur noch so viel Treibhausgase emittiert werden dürfen, wie es für eine im Vergleich zum vorindustriellen Zeitalter maximal 1,5 Grad höhere Erderwärmung erlaubt ist. Daraus ergibt sich ein für Deutschland noch zur Verfügung stehendes Treibhausgasbudget – es sind 3,465 Gigatonnen, gerechnet ab 2020. Das ist Deutschlands Klimakontostand. Vergleicht man diesen Maßstab mit den Zielen des Klimaschutzgesetzes, ist das Ergebnis ernüchternd. Die Ziele, die sich Deutschland im Gesetz gesetzt hat, sind so niedrig, dass das Budget bereits im Jahr 2024, spätestens 2025, erschöpft ist. Nach dem Jahr 2025 darf Deutschland überhaupt keine Treibhausgasemissionen mehr ausstoßen, will es seinen Anteil an der Einhaltung des 1,5 Grad-Ziels leisten.
Die Bundespolitik denkt nicht in diesen Kategorien. Eine Treibhausgasneutralität soll erst ab dem Jahr 2050, also 25 Jahre später, erreicht sein. Maßnahmen, mit denen die Treibhausgasneutralität erreicht wird, fehlen. Der Inhalt des Klimaschutzgesetzes erschöpft sich in Regelungen, die nur bis zum Jahr 2030 reichen. Man fahre „auf Sicht“, so nennt man das wohl, nur, dass man schon wenige Meter später den Abgrund sieht. Denn selbst wenn man die gesetzlichen Ziele einhält, dürften ab dem Jahr 2031 überhaupt keine Emissionen mehr ausgestoßen werden, will man auch nur das im Pariser Abkommen fest vereinbarte und mittlerweile wissenschaftlich überholte zwei Grad-Ziel erreichen, das 1,5-Grad-Ziel ist schon 2025 verfehlt. Man fühlt sich an die Karawane erinnert, die sich für ihre Klugheit lobt, aber noch vor dem Aufbruch in die Sahara ihre Wasservorräte austrinkt.
Eigentlich ist dies schon grotesk genug. Aber es kommt noch absurder. Denn nicht einmal die mageren Ziele des Gesetzes werden eingehalten, wenn man so weiter macht wie geplant. Mittlerweile haben zwei Bundesministerien Gutachten dazu eingeholt, ob die geplanten Maßnahmen genügen, um die unzureichenden Ziele des Klimaschutzgesetzes zu erreichen. Sowohl das Gutachten, das das Wirtschaftsministerium bestellt hat, als auch das Gutachten, das im Auftrag des Umweltministeriums eingeholt wurde, kommen zu dem Ergebnis, dass die Ziele gerissen werden. Vor allem der Verkehrssektor liegt meilenweit hinter den Zielvorstellungen zurück, nicht einmal ein Tempolimit, schnell umsetzbar und mit hoher Wirksamkeit, wird diskutiert. Wo man auch hinschaut: Die Bundespolitik mag für ihre Ankündigungen bekannt sein, selbst Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier gefällt sich mittlerweile in der Rolle des Klimaretters. In der Praxis ist davon wenig angekommen. Die Ära von Angela Merkel, die als Klimakanzlerin begann, endet mit einem dramatischen Versagen. Es ist daher verständlich, wenn Betroffene aus dem globalen Süden, wie die von mir vertretenen Menschen aus Bangladesch und Nepal, oder die sich ihrer Zukunft beraubt sehenden Jugendlichen nach gerichtlicher Hilfe rufen. Dass sie dazu Grundrechte wie das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit in Artikel 2 des Grundgesetzes bemühen, kann dazu führen, dass das Bundesverfassungsgericht die Chance nutzt, um richterrechtlich aus den vorhandenen geschriebenen Grundrechten ein neues ungeschriebenes Grundrecht zu entwickeln: das Grundrecht auf ein ökologisches Existenzminimum. Es wäre ein verfassungsrechtliches Novum.
Noch lässt sich nicht sagen, wann die Karlsruher Richter entscheiden. Sie haben die Beschwerden sowohl der Bundesregierung als auch dem Bundestag zur Stellungnahme zugeleitet, eine Aufmerksamkeit, die nur wenigen Verfassungsbeschwerden zuteil wird. Hoffnungsvoll stimmt, dass das Bundesverfassungsgericht in seiner Geschichte schon mehrmals in der Lage war, gesellschaftliche Konflikte angemessen zu befrieden. Bedeutende Urteile gab es zu vielen gesellschaftlich relevanten Konflikten, etwa zur Nutzung der Atomenergie, zum Schwangerschaftsabbruch oder zur Gentechnik.
Die Klimakrise birgt ein immenses Potenzial zukünftiger Konflikte. Nach den aktuellen gesetzlichen Regelungen ist weder dem Klimaschutz gedient noch wissen Menschen und Unternehmen mit hinreichender Sicherheit, welche Anforderungen auf sie zukommen. Eine im Ausgangspunkt an der Klimaforschung ausgerichtete und dabei gleichwohl angemessene rationale Politik fehlt.
Deutsche Umwelthilfe vor dem Oberverwaltungsgericht
In der Zwischenzeit erschöpfen sich die Auseinandersetzungen nicht in Verfassungsklagen. Zwar hat der Gesetzgeber dem misslungenen Klimaschutzgesetz noch die Absurdität hinzugefügt, dass er in das Gesetz, einmalig im Umweltrecht, die Formulierung aufgenommen hat, dass die Klimaziele nicht gerichtlich eingefordert werden können.5 Man will offenbar nicht an seinem eigenen Gesetz gemessen werden. Regelungen, die das Klagerecht verbieten, verstoßen aber gegen europäisches Recht. Vor wenigen Wochen habe ich daher für die Deutsche Umwelthilfe Klage eingereicht. Zumindest die Ziele des Klimaschutzgesetzes sollen kein leeres Versprechen bleiben. Das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg will in der zweiten Jahreshälfte 2021 entscheiden.
Fußnoten:
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Vgl. ausführlich Alexander Graser, Christian Helmrich (Hrsg.): Strategic Litigation. Baden-Baden: Nomos, 2019. ↩︎
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Aktenzeichen 1 BvR 2656/18. ↩︎
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Aktenzeichen 1 BvR 78/20. ↩︎
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Aktenzeichen 1 BvR 96/20 u. a. ↩︎
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§ 4 Abs. 1 Satz 7 Klimaschutzgesetz: „Subjektive Rechte und klagbare Rechtspositionen werden durch dieses Gesetz oder aufgrund dieses Gesetzes nicht begründet.“ ↩︎