„Nowa Amerika“ trotzt der Pandemie
Zusammenfassung
An der deutsch-polnischen Grenze sind die beiden Städte Frankfurt (Oder) und Słubice schon lange zusammengewachsen. In der Corona-Pandemie wurde die Grenze zeitweise wieder geschlossen und störte das Miteinander. Das Projekt „Nowa Amerika“ stärkt die Gemeinsamkeiten und organisiert Nachbarschaftshilfe.
„Nowa Amerika“ als neuer Raum
Seit 1998 lebe ich direkt an der deutsch-polnischen Grenze in der Doppelstadt Frankfurt (Oder) und Słubice. In Darmstadt geboren, in Bonn aufgewachsen, drei Jahre Frankreich und acht Jahre in Poznań/Polen haben mich als jemanden geprägt, der sich im „Dazwischen“ zuhause fühlt. Als Künstler habe ich im Rahmen meiner Strategie der „Wirklichkeitskonstruktion als angewandte Methode“ aus den beiden Städten Frankfurt (Oder) und Słubice eine werden lassen, genannt „Słubfurt“. Seit 22 Jahren gibt es sie nun virtuell, weil sich viele „Słubfurter“ Bürger*innen aktiv an der Entwicklung dieser grenzüberschreitenden Stadt beteiligen.1
Seit 2010 ist „Słubfurt“ die Hauptstadt von „Nowa Amerika“, einer Umdeutung der gesamten deutsch-polnischen Grenzregion zu einem gemeinsamen Raum, und gleichzeitig ein grenzüberschreitendes Netzwerk von „Nowo-Amerikaner*innen“ mit postpolnischen, postdeutschen und anderen Migrationshintergründen.
Hier die Hymne von Nowa Amerika:
Intro:
Szczettin, Słubfurt, Zgörzelic, Dźikwalde, Las Forst
1.
To ist nasz Land, zrób es bekannt. Napiszt es na całym Wand. An der Odera-Nyße entlang, ciągniemy an einem Strang śpiewamy razem den Gesang.
Refrain:
Nowa Nowa Nowa Amerika dla nas dieses Land to wspólnota. Nasza Gemeinschaft jest wunderbar, zusammen jesteśmy Nowa Amerika
2.
Międzyhalb płynnymi Grenzen leben, razem wollen wir do szczęścia streben. Tu chodzi o to zu verstehen, że jest nowy Raum für Ideen. A więc lass uns hier alle steh’n, Nowa Amerika pomaga żeby wir seh’n.
Refrain:
Nowa Nowa Nowa Amerika dla nas dieses Land to wspólnota. Nasza Gemeinschaft jest wunderbar, zusammen jesteśmy Nowa Amerika2
Unser gelebter Raum „Nowa Amerika“, dessen Rückgrat durch die beiden Flüsse „Odera“ und „Nyße“ gebildet wird, dehnt sich wie eine Amöbe Richtung Ostpol und Westpol aus, je nachdem, wer sich als Nowo-Amerikaner fühlt. Aber unser „Nowa Amerika“ reibt sich auch noch immer an der Parallelwelt …
Zusammenwachsen über die Oder hinweg
Mit dem Beitritt Polens zur Europäischen Union und zum Schengener Abkommen fielen zunächst die Grenzkontrollen und dann 2007 auch die Zollkontrollen weg. Die Grenzgebäude wurden abgerissen, die Grenzbrücke über die Oder wurde zu einer Stadtbrücke, die die beiden Ortsteile Słub und Furt miteinander verbindet. Auch in der Realpolitik sind beide Städte zusammengewachsen. Sie verbindet eine Buslinie, eine Fernwärmeleitung, viele kulturelle Veranstaltungen und ein gemeinsames Stadtmarketing mit der Dachmarke „Europäische Doppelstadt Frankfurt-Słubice“. Es gibt ein gemeinsames deutsch-polnisches Kooperationsbüro, das direkt den beiden Bürgermeistern René Wilke und Mariusz Olejniczak untersteht und die Zusammenarbeit beider Städte koordiniert. Es gibt einen gemeinsamen Europäischen Ausschuss von Stadtverordneten beider Städte, der alle zwei Monate tagt. Zweimal jährlich gibt es gemeinsame Stadtverordnetenversammlungen.
Die Bürger*innen beider Städte kaufen auf beiden Seiten der Oder ein. Słubicer arbeiten in Frankfurt, im Umland und in Berlin und deutsch-polnische Familien gibt es beiderseits der deutsch-polnischen Grenze. Den so entstehenden Arbeitskräftemangel in Słubice füllen Ukrainer auf. Słubicer schicken ihre Kinder in Frankfurter Kindergärten und Schulen, in der Frankfurter Stadtverwaltung arbeiten Polen, es sind viele Freundschaften über die Grenze hinweg entstanden. Derzeit werden konkrete Schritte geplant, die polnische Sprache in allen Frankfurter Schulen einzuführen. Bisher sprechen in Frankfurt-Słubice mehr Polen deutsch als Deutsche polnisch. Der Vorsitzende des in Frankfurt registrierten gemeinnützigen Vereins „Słubfurt“ lebt in Słubice und der Vorsitzende des in Słubice registrierten gemeinnützigen Vereins Lebuser Ziemia wohnt in Frankfurt (Oder). Gemeinsam arbeiteten beide Städte an einer Bewerbung als „Europäische Kulturhauptstadt“ für das Jahr 2029.
Folgen des ersten Lockdowns
Vieles änderte sich schlagartig am 14. März 2020, als Polen beschloss, seine Grenzen zu schließen. Polen, die in ihr Land zurückkehrten, mussten sich seitdem in eine zweiwöchige Quarantäne begeben. Zunächst durften Berufspendler noch täglich die Grenze passieren, was dann aber auch nicht mehr erlaubt war. Viele Polen entschieden sich dafür, in Frankfurt zu bleiben, um ihre Arbeit nicht zu verlieren – eine Rettung für manche Frankfurter Hoteliers, die nun diese Leute beherbergten. Die in Frankfurt gebliebenen Polen konnten aber nicht einmal zu Ostern nach Hause fahren. Manche verloren ihre Arbeit, weil sie sich entschieden hatten, bei ihren Familien zu bleiben und weil ihre deutschen Arbeitgeber kein Erbarmen kannten. Im Raum Szczecin waren es Polen, die sich auf deutscher Seite ein Haus gekauft hatten und nun nicht mehr zur Arbeit über die Grenze fahren konnten. Berliner Freunde, die einen alten Bauernhof bei Myślibórz in Polen besitzen, harrten dort aus.
In Polen waren die Verordnungen während des ersten Lockdowns sehr restriktiv und wurden von der Polizei scharf kontrolliert, wobei manche Ordnungsbeamte ihre Machtposition für willkürliche Strafaktionen missbrauchten. Die Zivilgesellschaft musste sehr harte Ausgangssperren erdulden, die insbesondere Menschen in Wohnblöcken und kleinen Wohnungen hart trafen. Das Haus durfte nur für die nötigsten Erledigungen verlassen werden. Spaziergänge, das Sitzen auf Bänken und das Betreten des Waldes waren strengstens untersagt. Meine Tochter lebt mit ihrem Mann und zwei Kleinkindern in einer 30 Quadratmeter großen Wohnung in Poznań. Sie trauten sich aus Angst vor Strafen nicht mehr aus dem Haus. Draußen auf der Straße fuhr die Polizei vorbei und drohte den Bürger*innen über Megafon mit drakonischen Strafen, sollten sie die Anordnungen nicht befolgen. Das war wie ein inoffizieller Ausnahmezustand, den die polnische Regierung offiziell nicht ausrief, um die Präsidentschaftswahlen trotz einiger Proteste am 10. Mai 2020 abhalten zu können.
Offiziell handelte es sich nicht um eine Grenzschließung. Man konnte nach Polen einreisen, musste sich aber in Polen in Quarantäne begeben. Auf polnischer Seite war die Brücke gesperrt. Neben den Absperrungen für die Autos befand sich auf dem Bürgersteig ein grünes Zelt mit der Aufschrift „Polish Border Guard“. Bis Ende April 2020 konnte niemand die Brücke überqueren. Darunter litten besonders die Familien, von denen viele fast zwei Monate voneinander getrennt wurden. Das empörte nicht nur die Berufspendler, sondern auch Słubicer Eltern, deren Kinder nicht mehr nach Frankfurt zur Schule gehen konnten. Ein Freund von mir überlegte, sich in Frankfurt zeitweise eine Wohnung zu mieten, um seinen Kindern den Schulbesuch zu ermöglichen.
Proteste und Lockerungen
Am 25. April organisierten wir Demonstrationen entlang der ganzen deutsch-polnischen Grenze. Auf polnischer Seite waren Demonstrationen offiziell verboten, aber in Słubice versammelten sich dennoch hunderte Menschen. Insbesondere die Mitglieder des Słubicer Chores „Adoramus“ unterstützten unsere Demonstration, indem sie lauthals die „Ode an die Freude“ sangen. Unsere Protestkundgebung durfte coronabedingt aus maximal 25 Personen bestehen, aber es versammelten sich mindestens 400 „Zuschauer“. Die Polizei ließ uns gewähren. Der Anblick eines Mannes berührte mich besonders. Er hielt einen Teddybären hoch, um ihn seiner Familie zu zeigen, die sich irgendwo auf der polnischen Seite befand. Wegen des zunehmenden politischen Drucks wurden die Bestimmungen gelockert und Berufspendler durften die Grenze passieren. Aber noch immer durften weder Ärzte noch Krankenhauspersonal die Brücke überqueren. Die Empörung wuchs, und wir organisierten am 9. Mai eine weitere Demonstration.
Die Grenzschließung dauerte noch bis zum 12. Juni 2020. Pünktlich um null Uhr wurde die Grenze geöffnet. Eine große Menschenmenge und eine lange Autoschlange füllten die Brücke. Während sich die beiden Bürgermeister von Słubice und Frankfurt in die Arme fielen, stürmten die meisten Menschen in die Zigarettenläden oder fuhren Richtung Tankstelle.
Im Sommer 2020 schien fast alles wieder normal zu sein, aber die beide Städte verbindende Buslinie fährt seit März 2020 nicht mehr. Die gemeinsame Bewerbung als „Europäische Kulturhauptstadt“ für das Jahr 2029 wurde offiziell aus finanziellen Gründen zurückgenommen. Fast alle grenzüberschreitenden Kulturereignisse wurden abgesagt. Trotzdem haben die Kuratorin Anna Panek-Kusz von der städtischen Galeria „Okno“ und ich das Festival für Neue Kunst „lAbiRynT“ organisiert.3 Dazu reisen seit elf Jahren bis zu achtzig Künstlerinnen aus Deutschland, Polen und anderen Ländern an und stellen auf beiden Seiten der Oder aus. Diesmal musste sich das Publikum die Ausstellungen selbst erschließen und das Festival wurde durch ein Livestream-Studio ergänzt. So konnten auch die Künstlerinnen von auswärts virtuell teilnehmen.
Beim Lockdown im Herbst blieb die Grenze für Berufspendler geöffnet. Auch der Gang zur Schule und der Besuch von „Familienangehörigen ersten Grades“ waren erlaubt. Diesmal ging die Grenzschließung von deutscher Seite aus. Zu Weihnachten haben uns meine in Polen lebende Tochter mit Ehemann und Enkelkindern trotzdem besucht. Offiziell hätte nur meine Tochter kommen dürfen.
Praktizierte Nachbarschaftshilfe
Mit unserem Verein „Słubfurt“ haben wir bereits im April 2020 begonnen, eine Corona-Nachbarschaftshilfe aufzubauen. Als uns ein Hilferuf des Słubicer Krankenhauses erreichte, das von einem Tag auf den anderen zu einem reinen Covid-Krankenhaus umgewandelt wurde, richteten wir eine Sammelstelle ein. Gebraucht wurden Hygieneartikel, Windeln für Erwachsene, Babybrei, Joghurt, Obst. Alle ein bis zwei Wochen fuhren wir die Spenden zum Słubicer Krankenhaus. Viele Frankfurter Bürger*innen spendeten dafür.
Kritik ernteten wir zunächst in den sozialen Medien auf Frankfurter Seite. Wir sollten erst einmal „unseren“ Leuten helfen, hieß es. Im Februar 2021 kam es zum Eklat, weil dem Krankenhaus untersagt wurde, weiterhin unsere Spenden anzunehmen. Dem Krankenhaus ginge es blendend und es benötige keine Hilfe von den „Deutschen“. Auslöser war ein polnischer Artikel gewesen, der die Zustände im Krankenhaus anprangerte und unsere Spendensammlung lobte. In Hintergrundgesprächen wurde schnell klar, dass es hier nicht um die Patienten ging, sondern um das „Image“ des Słubicer Krankenhauses und damit auch des polnischen Gesundheitssystems.
Die deutsch-polnische Grenzregion ist auch ein Labor für globale Solidarität. Seit 2014 gehören zu Słubfurt nicht mehr hauptsächlich Deutsche und Polen. Alle in Słubfurt gestrandeten Flüchtlinge aus Kamerun, Kenia, Somalia, Eritrea, Syrien, Irak, Iran, Kurdistan und Afghanistan haben sofort einen „Słubfurter Personalausweis“ erhalten und sind somit vollwertige Bürgerinnen unserer (virtuellen) Stadt. Mit unserem „Brückenplatz/Plac Mostowy“ haben wir eine Agora für die Słubfurterinnen geschaffen, einen Freiraum, den alle mit ihren eigenen Ideen gestalten. Derzeit ist das eine ehemalige Turnhalle mit Grünfläche mitten im Stadtzentrum.
Dort ist eine interkulturelle Gemeinschaft entstanden, die wegen der Coronakrise die Turnhalle nicht mehr nutzen konnte. Wir arbeiteten dennoch weiter, mit Live-Streams, Podcasts und Aktionen auf Facebook, Instagram und WhatsApp. Unsere Nachbarschaftshilfe nähte 2020 Gesichtsmasken aus afrikanischen Stoffen und hat sie an Bürger*innen der Stadt verschenkt. Wir machen Einkäufe und Gartenarbeiten für Hilfsbedürftige, meist Senioren und alleinstehende Kranke. Es wurden auch Spenden für sechs afghanische Familien gesammelt, die als Flüchtlinge im Iran leben und dort vom Hunger bedroht sind.
Die Hilfsbedürftigen werden durch dieses gemeinsame Engagement zu Helfenden und erfahren große Dankbarkeit. In der Stadt wird das wahrgenommen, und ich wünsche mir, dass die Coronakrise auch zu einer Chance für gesellschaftliche Veränderungen wird, die wir dringend brauchen.
Wünsche für die Zeit der „neuen Normalität“
Was diese Ausnahmesituation für die Zukunft der deutsch-polnischen Grenzregion bedeutet, lässt sich nur schwer abschätzen. Aber es wurde deutlich, wie sehr beide Seiten miteinander vernetzt sind und wie sehr die beiden Stadtteile Słub und Furt aufeinander angewiesen sind. Sichtbar wurde auch, dass die Pandemie ärmere Länder mit einem schwächeren Gesundheits- und Sozialsystem wesentlich härter trifft. Deshalb benötigen wir dringend ein EU-weites Gesundheits- und Sozialsystem, damit wir uns in Zukunft nicht mehr in kleinlich-egoistischem Nationalstaatshandeln verschanzen. Die deutsch-polnische Grenzregion ist das Labor, in dem die transnationalen Verflechtungen bereits sichtbar sind. Sie können als gute Beispiele für die Richtung dienen, die eine europäische Politik in Zukunft einschlagen sollte.
Fußnoten:
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Webseiten: „Słubfurt“ – www.slubfurt.net; „Nowa Amerika“ – www.nowa-amerika.eu ↩︎
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Die Hymne lebt vom Wortspiel zwischen den beiden Sprachen und lässt sich wörtlich kaum übersetzen. Einen Eindruck vermittelt der Refrain: Neu Neu Neu Amerika. Für uns ist dieses Land eine Gemeinschaft. Unsere Gemeinschaft ist wunderbar, zusammen sind wir Neu Amerika. ↩︎
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Festival für Neue Kunst „lAbiRynT“: www.labirynt.slubice.eu ↩︎