1917: Revolutionen in Russland
Mit dem Jahr 1917 begann der Untergang der großen Imperien in Europa, und das „lange“ 19. Jahrhundert endete, das mit der Französischen Revolution von 1789 begonnen hatte. In kurzer Zeit zerfielen das Russische Reich, das Habsburgerreich, das Deutsche Reich und das Türkische Reich. Den Anfang machte Russland: Im Februar 1917 brachen in der Hauptstadt Petrograd Unruhen unter Arbeitern aus. Im Hintergrund standen die katastrophale Versorgungslage im dritten Kriegsjahr sowie Unzufriedenheit mit dem Kriegsverlauf und mit dem politischen System. Frühere Widerstandsbekundungen waren vom autokratisch regierenden Monarchen entweder unterdrückt worden, oder es waren nur unzureichende Zugeständnisse gemacht worden. Jetzt aber war das Regime nicht mehr in der Lage, der Unruhen Herr zu werden. Anfang März (nach dem in Russland verwendeten julianischen Kalender im Februar) nahmen die Hungeraufstände und Streiks zu; Soldaten und Polizisten verbündeten sich mit den Aufständischen, und nach einigen Tagen musste der Zar zurücktreten. Bereits zuvor hatte die Duma (die seit 1906 bestehende Abgeordnetenkammer) die Regierungsgewalt übernommen.
In der Folge dieser Ereignisse wurde eine „Provisorische Regierung“ eingesetzt, die die Aufgabe hatte, eine verfassungsgebende Versammlung vorzubereiten und einzuberufen. Neben der Provisorischen Regierung gab es die „Räte“ (russisch: Sowjets) der Arbeiter und Soldaten, die Vertreter der Streikenden waren und mit der Zeit unter kommunistische Kontrolle gerieten. Nach dem erfolglosen Juliaufstand, einem Versuch, die Alleinregierung zu übernehmen, verloren sie jedoch ihren Einfluss, und die Provisorische Regierung unter Alexander Kerenski hatte die alleinige Macht.
Viele Regelungen aus der Zeit der Monarchie wurden sofort außer Kraft gesetzt, darunter die Kontrolle über die orthodoxe Kirche. Diese berief für den Sommer ein Landeskonzil ein, auf dem beschlossen wurde, das Amt des Patriarchen – unter Peter dem Großen Anfang des 18. Jahrhunderts abgeschafft – wieder einzuführen.
Innerhalb der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands gab es seit langem zwei Hauptgruppierungen, die nach den russischen Begriffen für Minderheit und Mehrheit als „Menschewiki“ und „Bolschewiki“ bezeichnet wurden. Wladimir Iljitsch Lenin, der Führer der Bolschewiki, kehrte im April 1917 aus dem Exil in sein Heimatland zurück. Zu diesem Zweck erlaubte ihm die deutsche Reichsregierung die Fahrt aus der Schweiz über deutsches Territorium, da sie sich eine Destabilisierung des Kriegsgegners Russland erhoffte.
Nach dem Scheitern des Juliaufstandes arbeiteten die Bolschewiki auf einen gewaltsamen Umsturz hin, statt die geplanten freien Wahlen zu der verfassungsgebenden Versammlung abzuwarten. Ihre Unterstützung in der Bevölkerung wuchs, zumal die Provisorische Regierung und die Menschewiki für eine Fortsetzung des Krieges waren, den die Bolschewiki ablehnten.
Nach Planungen und Vorbereitungen übernahmen die Bolschewiki am 7. und 8. November (nach dem alten Kalender im Oktober) die Macht. Sie besetzten die strategisch wichtigen Punkte von Petrograd, verhafteten die Regierungsmitglieder, und ein Rat der Volkskommissare unter Lenin übernahm die Regierungsgeschäfte. Die gesamte Aktion verlief ohne Blutvergießen und beeinträchtigte das Alltagsleben kaum: Die Theater spielten, die Straßenbahnen fuhren, und die meisten Russen erfuhren vom Machtwechsel aus der Zeitung. Die neue Sowjetmacht erreichte zum 15. Dezember einen Waffenstillstand mit dem Deutschen Reich, der es ihr leichter machte, ihre noch schwache Position im Inland in den nächsten Jahren zu festigen.
Es gab also nicht einen einzelnen Moment im Jahr 1917, in dem Russland von der Monarchie zum Kommunismus übergegangen wäre. Es handelte sich um einen längeren Prozess, der, von der Unfähigkeit der Autokratie zu Reformen unterstützt, nicht erst mit dem Amtsverzicht des Zaren begann und ebenfalls nicht mit dem Sturm auf den Regierungssitz endete. Auch wurde die Sowjetunion nicht 1917 gegründet. Doch fand in diesem Jahr ein rasanter Prozess statt, an dessen Ende die Herrschaft der Bolschewiki – ungeachtet aller ihrer inneren Konflikte – nicht mehr zu bestreiten war. Die Welt war somit Ende 1917 eine andere als zu Beginn des Jahres.