Zwischen Verantwortung und Erwartungen – die Pandemie als besondere Herausforderung für die orthodoxe Diaspora

aus OWEP 3/2021  •  von Pavle Aničić

Dr. Pavle Aničić ist theologischer Referent für Mission der Serbischen Orthodoxen Diözese von Düsseldorf und Deutschland.

Zusammenfassung

Ungeachtet zivilisatorischer und kultureller Unterschiede zwischen Völkern und Gesellschaften, ihrer technologischen Entwicklung oder Rückständigkeit, wurde die ganze Welt gleichermaßen vom Covid-19-Virus getroffen. Beängstigende Bilder von Kranken und Verstorbenen, der Anblick menschenleerer Straßen und Städte sind schnell um die Welt gegangen, und die Welt wurde aus Angst vor dem Unbekannten und dem Tod sehr schnell ein kleiner Ort. Das kirchliche Leben in Deutschland, auch in der orthodoxen Diaspora, hat sich dadurch verändert.

Die Osterliturgie ohne Gläubige in den Kirchen

In der orthodoxen liturgischen Tradition wird das Osterfest als Feiertag aller Feiertage dargestellt. Der jährliche gottesdienstliche Zyklus orientiert sich am Osterfest und erlebt in ihm seinen Höhepunkt. Während der siebenwöchigen Fastenzeit befassen sich die Gläubigen insbesondere mit der Betrachtung ihres Seelenzustandes, die Kirchen werden häufiger besucht, es wird mehr gebeichtet und die Kommunion empfangen. Die letzte Woche der Fastenzeit – die Karwoche – ist den letzten Tagen Jesu und seinem Tod am Kreuz gewidmet. In den Kirchen dominieren an diesen Tagen dunklere Töne, die schönsten Kirchenlieder werden in moll-lastigen Melodien gesungen und die Gläubigen stehen, besonders am Karfreitag, in Reihen, würdevoll und ohne Drängelei, um sich vor der Plaschtaniza zu verneigen und sie zu küssen (die Plaschtaniza ist ein Stück Stoff, auf dem dargestellt ist, wie der Leib Christi vom Kreuz genommen wird). Kerzen werden entzündet, und auf einem improvisierten Grab Christi werden Blumen abgelegt. Zu Ostern, früh morgens vor Sonnenaufgang, geht man in die Kirche zur Liturgie, die mit einer dreifachen Prozession um die Kirche beginnt. In der Kirche hallt siegreich der Gruß des Priesters – „Christus ist auferstanden“ – und die Gläubigen antworten freudig und einstimmig – „Er ist wahrhaftig auferstanden“. Die Gläubigen wünschen sich traditionell gegenseitig frohe Ostern, indem sie mit gefärbten Eiern „titschen“, sie also gegeneinanderstoßen, so wie Ostern seit Jahrhunderten in der orthodoxen Kirche gefeiert wird.

Diese Art der Feier des Osterfestes ist im Jahr 2020 aufgrund der epidemiologischen Maßnahmen in den orthodoxen Kirchen in Deutschland ausgeblieben. Die Bundesregierung hat nach Empfehlungen der federführenden gesundheitlichen Institutionen veranlasst, dass die Gotteshäuser aller Konfessionen für die Gläubigen geschlossen bleiben, sodass der wichtigste christliche Feiertag in den Kirchen zwar liturgisch gefeiert werden durfte, aber nur im Kreis weniger Geistlicher. Das Hauptargument für diese Entscheidung lag in der Furcht begründet, dass sich viele Menschen während der zahlreich besuchten Liturgien anstecken könnten.

Des Empfangs der Kommunion und der Liturgie beraubt, habe ich nicht aufgrund meiner eigenen Entscheidung, sondern aufgrund der Entscheidung anderer Ostern mit meiner Familie, wie viele andere Gläubige auch, nur zuhause gefeiert. Das war das erste Mal in meinem Leben, und ich hoffe, es war auch das letzte Mal. Bei uns zu Hause gab es nicht die übliche festtägliche Freude. Für mich war es paradox, vielleicht sogar ironisch, dass die Angst vor Krankheit und Tod ausgerechnet an dem Tag allgegenwärtig war, an dem wir als Christen bekennen, dass alle Wunden geheilt sind und der Tod besiegt ist. Die Frustration, die ich an diesem Tag mit vielen orthodoxen Gläubigen teilte, versuchte ich mit einer anderen Herangehensweise zu heilen – der wiederauferstandene Herr verlangt von uns nämlich, unser Leben für andere zu opfern (so wie Er es durch sein Beispiel gezeigt hat), und nicht unser Leben aufgrund der Verantwortungslosigkeit anderer zu verlieren. Als Christen dürfen wir also unsere Mitmenschen nicht durch verantwortungsloses Handeln in Gefahr bringen.

Kirchlicher Alltag mit den Maßnahmen

Die Betonung im Kampf gegen Covid-19 liegt in der Prävention, im Einhalten von Maßnahmen, die zum Ziel haben, seine Übertragung und Weiterverbreitung zu verhindern. Diese Idee selbst steht nicht im Widerspruch zum christlichen Ethos, nach dem der andere, das DU, der Ursprung meiner Existenz ist, meines ICHs. Es ist also nicht akzeptabel, andere, die in der Kirche neben mir beten, durch meine Handlungen in Gefahr zu bringen. Vorbeugende Maßnahmen mussten auch in Kirchengemeinden durchgeführt werden, was Zeit und organisatorische Anstrengungen erforderte. Die Desinfektion der Hände vor dem Betreten der Kirche und das Tragen einer Maske während der Liturgie sind für alle Anwesenden zur Pflicht geworden. Durch die verpflichtenden Abstandsregeln verringerte sich die erlaubte Anzahl von Gläubigen in den Kirchen. Um Gedränge zu vermeiden, hat man in Gemeinden mit mehreren Priestern damit begonnen, mehrere Liturgien zu halten. Während der wärmeren Monate des Jahres begann man damit, Liturgien im Freien zu halten – in den Höfen und auf den Vorplätzen der Kirchen – mit der Absicht, so vielen Gläubigen wie möglich eine Teilnahme an den Gottesdiensten zu ermöglichen. Um potentiell Infizierte zurückverfolgen zu können, wurde bei jeder Liturgie eine Anwesenheitsdokumentation verpflichtend eingeführt.

Gottesdienst unter freiem Himmel während der österlichen Fastenzeit 2020 in Düsseldorf (Fotos: Pavle Aničić)

Es war notwendig, sich an diese neuen Gewohnheiten im kirchlichen Alltag zu halten. In diesem Zusammenhang ist der Dialog, den die orthodoxen Gemeinden im Rahmen der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen oder der Orthodoxen Bischofskonferenz in Deutschland mit den zuständigen Instanzen auf Bundes- und Landesebene geführt haben, erwähnenswert. Einige Glaubensgemeinschaften haben sich jedoch bei der Umsetzung der Maßnahmen als verantwortungslos gezeigt. In den Medien gab es einige Meldungen, dass Gotteshäuser geschlossen werden mussten und hohe Geldstrafen verhängt wurden. Unter den Priestern kam die Angst auf, dass etwas Ähnliches auch in unseren Gemeinden passieren könnte. Aus diesem Grund wurde besonders darauf geachtet, dass die Hygienekonzepte konsequent umgesetzt werden.

Das Praktizieren des Glaubens ist nicht nur ein im Grundgesetz garantiertes Recht – es ist für einen nicht geringen Teil der Bevölkerung ein grundlegendes Bedürfnis. Die Herausforderung besteht darin, den Gläubigen bezüglich ihres garantierten Rechts und ihrer Bedürfnisse während der Covid-Krise entgegenzukommen, ohne sie dabei in Lebensgefahr zu bringen. Die Priester haben diesbezüglich das größte Opfer gebracht, da sie wegen ihres Dienstes zwischen Verantwortung und Erwartungshaltung stehen. Auf der einen Seite haben Kirche und Priester eine Verantwortung vor dem Staat, der sie für die Aufrechterhaltung der Ordnung zur Rechenschaft zieht. Auf der anderen Seite erwartet man von den Priestern, dass sie als Hirten den Gläubigen immer zur Verfügung stehen. Der Preis für dieses Opfer, das viele Priester während der Covid-Krise gebracht haben, kann groß sein. Einige von ihnen sind schließlich selbst erkrankt.

Gibt es heute Kaffee?

In der Diaspora wird die Kirche nicht nur als Institution wahrgenommen – sie gilt in den Augen vieler Gläubiger auch als ein Ereignis par excellence. Die Gemeindehäuser neben den Kirchen sind mit der Zeit zu Versammlungsorten für Landsleute geworden, die sich nach der Liturgie dort in ihrer Sprache unterhalten und soziale Kontakte pflegen. Diese Begegnungen sind zu einer Art von Ausflug aus dem Alltag in der Fremde geworden. Für viele Gläubige ist gerade diese soziale Dimension des kirchlichen Lebens ebenso wichtig wie die Teilnahme an der Liturgie selbst. Unter normalen Umständen halten sich die Gläubigen an Sonntagen nach der Liturgie in den Gemeindehäusern auf, wo sie zu Kaffee und Kuchen Gespräche über unterschiedlichste Themen führen und häufig Erinnerungen an das Leben in der Heimat ausgetauscht werden. Diese Begegnungen sind ein Teil des eingespielten sozialen Lebens vieler Gläubiger und ihrer Familien geworden.

Das Wegfallen dieser sozialen Dimension während der Covid-Krise fällt einigen Mitgliedern unserer Kirchengemeinden sehr schwer. Sie fühlen sich abgeschnitten, da es ihnen nicht möglich ist, sich in den Gemeindehäusern zu versammeln und sich mit alten Bekannten zu unterhalten. Aus diesem Grund ist fast jeden Sonntag mindestens ein bekanntes Gesicht enttäuscht, wenn sich herausstellt, dass Versammlungen im Gemeindehaus immer noch verboten sind und dass immer noch kein Kaffee serviert wird.

Gesang und Tanz für die Kinder war nicht mehr möglich

Viele serbische orthodoxe Gemeinden in ganz Deutschland organisieren neben dem liturgischen Leben zusätzliche Aktivitäten für ihre Mitglieder aller Altersstufen. Dies ist eine Art von Mission mit dem Ziel, neue Gesichter in die Kirchengemeinde einzuführen und die alten zu behalten. An der Kirche des Hl. Sava in Düsseldorf gibt es bereits seit 40 Jahren ein Folklore-Ensemble „Moravac“, das eine große Anzahl von Kindern und Jugendlichen unterschiedlichen Alters versammelt. Auch wenn traditionelle serbische Tänze und Lieder nichts mit der Liturgie zu tun haben, hat sich diese Praxis bewährt, um Jugendliche zusammen zu bringen. Bis zum Beginn der Pandemie versammelten sich jeden Sonntag nach der Liturgie im wunderschönen Saal des Gemeindehauses mehr als hundert Kinder – nicht nur aus Liebe zu Tanz und Gesang, sondern auch wegen der Freundschaften, die sich dort entwickelt haben. Hier sind im Kreis (serbisch: Kolo, so heißt auch der traditionelle Kreistanz) viele Generationen von Tänzern herangewachsen, viele Ehen wurden durch die Folklore geschlossen, sodass ehemalige Tänzer nun ihre eigenen Kinder zu den Proben bringen.

Diese Art von Miteinander, körperlicher Aktivität und Sozialisation von Kindern kam völlig zum Erliegen. Kindern war aufgrund der epidemiologischen Maßnahmen seit über einem Jahr ein solches Beisammensein, der unmittelbare Kontakt mit Gleichaltrigen, die ähnliche Interessen haben, genommen. Das Ensemble hatte nun nicht mehr die Möglichkeit, bei Konzerten aufzutreten oder auf Reisen zu gehen. Über Nacht waren Gesang, Musik und der Lärm der Kinder aus dem Saal verschwunden. Eltern fürchten, dass diese Art von Isolation Spuren bei ihren Kindern hinterlassen könnte, und sie sorgen sich ernsthaft um das soziale Leben ihrer Kinder.

Ähnlich ist es auch mit anderen Aktivitäten, die in der Gemeinde organisiert werden. Es gibt Chöre, denen es nicht mehr möglich war, sich zu versammeln, um zu proben oder bei Liturgien zu singen. Religionsunterricht für Kinder und Erwachsene wurde nicht mehr in den Räumen der kirchlichen Gemeinde erteilt. Das Entfallen der Katechese ist besonders schädlich für unsere kirchlichen Gemeinden, wenn man bedenkt, dass der Religionsunterricht für orthodoxe Kinder im deutschen Schulwesen noch nicht sehr ausgeprägt ist. Nicht alle orthodoxen Kinder haben also die Möglichkeit, in ihren Schulen orthodoxen Religionsunterricht zu besuchen. Daher stellt das Entfallen des Religionsunterrichtes im Rahmen der Kirchengemeinden einen großen Verlust für alle dar, die etwas über den Glauben lernen möchten, für die Religionslehrer und auch für die Kirche selbst. Die Konsequenzen dieser veränderten Dynamik des kirchlichen Lebens sind teilweise überschaubar, und über eine Rückkehr zur vorherigen „Normalität“ zu reden, wäre unangemessen. Die Umstände werden im Moment im höchsten Maße von Institutionen bestimmt, die in einem säkularen System klar von der Kirche und ihren Dogmen getrennt sind. Für das Umsetzen der von medizinischen Fachleuten empfohlenen und von Staatsorganen aufgetragenen Maßnahmen werden die kirchlichen Gemeinden im Kampf gegen Covid-19 in die Pflicht genommen. Alles andere würde man als Widerstand gegen das grundlegende Ziel der Erhaltung von Leben deuten. Die kirchlichen Gemeinden haben daher ihre gewohnten Rahmenbedingungen verlassen und sich der neuen Realität angepasst.

Das kirchliche Leben hat wegen der Covid-Krise und den epidemiologischen Maßnahmen seinen Rhythmus verändert. Dies hat intern zu einem Disput geführt: Da gibt es die Strömungen, die einen „härteren“ Standpunkt vertreten und das Aufgeben jahrhundertelanger Traditionen und Praktiken durch Maßnahmen, die von einem säkularen Staat auferlegt wurden, auf keinen Fall erlauben würden. Andere nehmen eine „liberalere“ Position ein und können eine solche Zusammenarbeit akzeptieren. Für beide Seiten steht aber außer Frage, das Leben unserer Nächsten vor Covid-19 zu schützen.