OWEP 4/2000
Schwerpunkt:
Religiosität im Wandel
Editorial
Die Kirchen in Ost-Mittel-Europa sind – mit Ausnahmen – geschwächt aus dem Sozialismus hervorgegangen. Und doch lebt Glaube. Aber das Bild ist differenzierter geworden. Wir sind Zeugen einer „Religiosität im Wandel“. Diesem Schwerpunktthema widmet sich das vorliegende Heft.
Selbst in Polen zeigen sich starke Veränderungen. Zahllose – vor allem junge – Katholiken dieses Landes schließen sich in neuen Bewegungen zusammen. Sie wollen an der unmittelbaren Evangelisierung, an der gesellschaftlichen und moralischen Erneuerung aktiver beteiligt sein. Daneben gewinnen neue religiöse Bewegungen außerkirchlichen Charakters an Raum.
In einem besonderen Beitrag wird analysiert, inwieweit säkulare Kultur in Ost-Mittel-Europa sich gestaltet und wie die Kirchen mit ihr umgehen. Noch immer warte man auf eine zeitgemäße Pastoral der Kirchen, die der neuen Situation einer säkularisierten Welt nach dem Sozialismus entspräche.
Kehren die Bewohner Serbiens zu Religion und Kirche zurück? Der Zweite Weltkrieg, die kommunistische Verfolgung und übertriebene Loyalität der Hierarchie haben die Serbische Orthodoxe Kirche geschwächt. Religiosität wurde zu einer Randerscheinung. Erst Ende der 80er Jahre besserte sich die Lage dieser Kirche. Sie ist wieder zu einem Faktor des öffentlichen Lebens geworden. Sicher verdankt sich dieser Neubeginn auch dem gewachsenen Nationalismus.
Auch in Russland ist die „religiöse Szene“ im Wandel, wie die Vielzahl neuer religiöser Bewegungen und die wachsende Zahl „konfessionsloser“ Christen zeigen. Viele Menschen halten Abstand zur Orthodoxie wegen deren nationalistischer Elemente, und auch der Katholizismus in seiner in Russland verbreiteten polnischen Variante ruft bei russischen Intellektuellen Abwehrreaktionen hervor, während der Protestantismus zu amerikanisiert erscheint. Dennoch neigen nicht wenige Vertreter der geistigen Elite Russlands zum Christentum, ohne sich bei institutionellen Kirchen heimisch zu fühlen.
Religion bleibt aktuell. Aber sie verändert sich ganz entschieden auch in Ost-Mittel-Europa. Die Menschen suchen Gott und transzendentale Werte, allerdings oft auf Wegen, die nicht immer kirchenkonform sind.
Die Redaktion