OWEP 2/2003

OWEP 2/2003

Schwerpunkt:
Roma in Mittel- und Osteuropa

Editorial

„Wäre es nicht ehrlich, als eines der Kriterien für den Eintritt in die Europäische Union auch das erreichte Niveau der Integration der Roma zu nehmen? Dann wären sie auch ein Test für Europa selbst.“ Der provozierende Vorschlag von Dragoljub Djordjević in seinem Beitrag „Roma in Serbien“ bringt ein weithin verdrängtes, aber angesichts der demographischen Entwicklung drängendes Problem des zusammenwachsenden Europas auf den Punkt. Das vorliegende Heft möchte über Geschichte und Gegenwart der Roma vor allem im Osten und Südosten Europas informieren und damit gegenüber dem beispiellosen Konglomerat von Unkenntnis, Legenden und Vorurteilen, das sich seit Jahrhunderten um die Wahrnehmung dieses Volkes gelegt hat, aufklärend wirken.

Die Darstellungen von Kajo Schukalla über Geschichte und Gegenwart der Roma im östlichen Teil Europas, die auch die heikle Frage der Bezeichnungen des Volkes berühren, und von Herbert Küpper über die Rechtslage der Zigeunerminderheiten in den einzelnen Ländern stehen für diese Absicht, ebenso der Versuch von Joachim Krauß, statistische Anhaltspunkte zu geben. Fallbeispiele und Situationsberichte untersuchen die komplizierte Lebenssituation in verschiedenen Ländern; mit dem schon erwähnten Beitrag von Djordjević und dem Überblick von Nikolaj Bessonov „Zigeuner in Russland“ geschieht dies für Länder, deren Romabevölkerung bisher nur wenigen Spezialisten ein Begriff war. Ähnliche Verständnislücken schließt Lidia Ostałowska mit „Die Roma in Polen“. Im Interview mit Erduan Iseni, Bürgermeister des überwiegend von Roma bewohnten Stadtbezirks Šuto Orizari in Skopje/Makedonien, kommt ein Repräsentant der Roma selbst zu Wort. Wegweisende Ansätze kirchlicher Hilfe beschreiben die Berichte von József Lankó und Lothar Weiß; beide deuten auch an, wie viele Hindernisse es immer noch zu überwinden gilt.

Abgerundet wird das Heft von zwei Beiträgen, die sich mit dem aktuellen Thema der ökumenischen Beziehungen zwischen den Kirchen im Osten und im Westen Europas befassen. Heiko Overmeyer vermittelt einen zeithistorischen Rückblick auf die Dialoge von Arnoldshain und Sagorsk, Jakob Speigl äußert sich zur umstrittenen Frage des „kanonischen Territoriums“ in ekklesiologischer Perspektive.

Die Redaktion

Kurzinfo

Nur wenige Völker der Welt teilen mit ihnen das Schicksal, unter andere Nationen zerstreut und immer wieder Vorurteilen und Missverständnissen ausgesetzt zu sein. „Roma“, ihre Selbstbezeichnung, bedeutet schlicht „Menschen“. Von anderen Völkern haben sie viele Namen erhalten wie etwa „Gypsies“, „Tsigane“, „Cygan“ oder „Zigeuner“. Millionen leben in Mittel- und Osteuropa, oft in schwierigen sozialen Verhältnissen. Das Themenheft möchte hierüber grundlegende Informationen vermitteln.

Zu Beginn führt Dr. Kajo Schukalla, Mitarbeiter der Gesellschaft für bedrohte Völker, den Leser in Geschichte und Schicksal der Roma in Mittel- und Osteuropa ein. Ein weiter Bogen spannt sich von ihrer Ersterwähnung in Europa in mittelalterlichen Quellen über neuzeitliche Unterdrückungsmaßnahmen, die im Massenmord während des Dritten Reiches kulminierten, bis zur aktuellen Situation auf dem Balkan, wo sich in den letzten Jahren neue Bedrohungen abzeichnen. Ergänzend dazu vermittelt Joachim Krauß M. A., Humboldt-Universität Berlin, einen Überblick mit statistischem Material zur Romabevölkerung im östlichen Europa.

Kaum bekannt ist in Westeuropa die Rolle der Roma in der Gesellschaft Serbiens bzw. des ehemaligen Jugoslawiens. Prof. Dr. Dragoljub B. Djordjević, Soziologe an der Universität Niš, beschreibt die historischen Ursprünge und die aktuelle Lage der Roma inmitten der politischen und gesellschaftlichen Umbrüche in Serbien. Daran schließt sich ein Beitrag von Priv.-Doz. Dr. Herbert Küpper, Völkerrechtler an der Universität zu Köln, über die Rechtslage der Zigeunerminderheiten im östlichen Europa an. Zwar sind, wie er betont, in vielen Ländern Gesetzesinitiativen eingeleitet worden, die die immer noch häufige Diskriminierung der Roma beseitigen sollen; rechtliche und vor allem gesellschaftliche Praxis hinken jedoch erheblich hinterher. In manchen Ländern muss der kritische Beobachter sogar eine rapide Verschlechterung feststellen. Dies gilt besonders auch für Russland, wo sich die Zigeuner über Jahrhunderte hinweg in einem verhältnismäßig wohlwollenden Umfeld aufhalten konnten. Nikolaj Bessonov, Mitarbeiter der Gesellschaft „Memorial“, skizziert den Weg der Zigeuner in Russland, deren Situation sich seit der Wende in den neunziger Jahren zum Negativen verändert.

Vier weitere Beiträge schildern die Lage der Roma in Ungarn, Polen und Makedonien. Pfarrer József Lánko aus Alsószentmárton (Diözese Pécs/Ungarn) und Pfarrer Lothar Weiß (Erzdiözese Paderborn) versuchen seit vielen Jahren, mit hohem Engagement und persönlichem Einsatz Roma-Hilfsprojekte zu initiieren. Pfarrer Lánko zeigt konkrete Schritte zur Verbesserung der beruflichen und schulischen Verhältnisse auf, Pfarrer Weiß ergänzt dies um grundsätzliche Überlegungen zum menschlichen Umgang mit den Roma, deren „menschliche Würde es zu achten und schützen gilt“. Lidia Ostałowska, Journalistin der polnischen Tageszeitung „Gazeta Wyborcza“, widmet sich – ausgehend von einem Einzelschicksal – den Roma in Polen, einer trotz mancher Verbesserungen noch immer gefährdeten Volksgruppe. Den Abschluss des Themenschwerpunktes bildet ein Gespräch mit Erduan Iseni, Bürgermeister des Stadtbezirks Šuto Orizari im Westen von Skopje, der Hauptstadt Makedoniens. Dort leben etwa 30.000 Roma in einem schwierigen gesellschaftlichen Umfeld.

Außerhalb der Schwerpunkthematik stehen die Ausführungen von Heiko Overmeyer, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Kath.-Theol. Fakultät der Universität Münster, zu den Dialogen zwischen der EKD und der Russischen Orthodoxen Kirche seit den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts. Er vermittelt darin einen Einblick in kirchliche Bemühungen zur Überwindung der Spaltung Europas in den Zeiten des „Kalten Krieges“. Prof. Dr. Jakob Speigl, Ostkirchliches Institut der Universität Würzburg, befasst sich in einem Kurzbeitrag mit dem Prinzip des „kanonischen Territoriums“, eine Ergänzung zu den noch immer nicht beigelegten Auseinandersetzungen zwischen „Rom“ und „Moskau“ (vgl. OWEP 3/2002 und 4/2002).

Dr. Christof Dahm

Inhaltsverzeichnis

83
Roma im Osten und Südosten Europas. Ein Blick in Geschichte und Gegenwart
Kajo Schukalla
93
Roma in Serbien – Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft
Dragoljub B. Djordjević
103
Die Rechtslage von Zigeunerminderheiten in Osteuropa
Herbert Küpper
111
Zigeuner in Russland. Geschichte und gegenwärtige Probleme
Nikolaj Bessonov
119
Die Dialoge von Arnoldshain und Sagorsk und die friedensethische Diskussion
Heiko Overmeyer
129
Zahl ist nicht gleich Zahl – Angaben zur Romabevölkerung im östlichen Europa (Nationen-Information)
Joachim Krauß
132
„Ihr seid im Herzen der Kirche, weil ihr soviel gelitten habt.“ Zigeuner in Ungarn (Bericht)
József Lankó
140
Zigeunerpastoral (Bericht)
Lothar Weiß
148
Die Roma in Polen (Bericht)
Lidia Ostałowska
155
Perspektiven der Roma in Makedonien. Gespräch mit Erduan Iseni, Bürgermeister von Šuto Orizari/Skopje
OWEP-Redaktion
157
Das Prinzip des kanonischen Territoriums – ein ekklesiologisches Thema (Diskussion)
Jakob Speigl
159
Bücher und Medien

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