OWEP 1/2007
Schwerpunkt:
Säkularisierung in Europa
Editorial
Säkularisierung scheint eine der bestimmenden Signaturen unserer von beschleunigten Umbruchprozessen bestimmten Zeit zu sein. Bis vor kurzem herrschte Konsens darüber, dass Rückgang der Religion oder doch zumindest ihr Rückzug ins Private ein unumkehrbares Ergebnis aller gesellschaftlichen Modernisierung sei. Doch haben weltweit feststellbare Tendenzen der Rückkehr der Religion in die Öffentlichkeit diese Gewissheit neuerdings in Frage gestellt. Während im westlichen Europa nach wie vor Tendenzen der Entkirchlichung fortdauern, ist der Verlauf der Entwicklung in Teilen Mittel- und Osteuropas noch durchaus offen.
Säkularisierung ist also ein „schwieriger Begriff“, der sich nicht zur vorschnellen Instrumentalisierung eignet. Seine verschiedenen Aspekte und Deutungen wird auch das vorliegende Heft nur unvollständig wiedergeben können. Dabei beschränken wir uns auf das Beobachtungsfeld des zusammenwachsenden Europas. Karl Gabriel unternimmt den Versuch einer Begriffsbestimmung unter Berücksichtigung der erwähnten kritischen Anfragen an die These eines linearen Säkularisierungsprozesses. Die Länderstudien von Detlef Pollack und Janusz Mariański über Deutschland und Polen offenbaren die Spannbreite des Befundes anhand weitestgehend unterschiedlicher Situationen in den beiden Nachbarländern. Ein Plädoyer für die Öffentlichkeit gelebten Glaubens und praktizierten Christentums in Europa, gegen die „Heidenangst, die einen Teil der privatisierten Religiosität prägt“ (Paul Zulehner), liefert Bundeskanzler Wolfgang Schüssel, und der „Gottesbezug“ in säkularen Verfassungen findet die Unterstützung von Georg Essen.
Rückkehr der Religion – nur ein „Thema für die Feuilletons“, wie Bundesjustizministerin Brigitte Zypries unlängst meinte? Diese Ausgabe unserer Zeitschrift will dazu anregen, in der Auseinandersetzung mit einer bestimmenden Frage unseres Zeitalters tiefer zu schürfen. Zehn Stimmen von Persönlichkeiten aus dem Osten und Westen Europas zeigen, dass die Sache noch nicht entschieden ist – wie es denn bei einer zentralen Qualität der conditio humana auch nicht anders sein kann.
Die Redaktion
Kurzinfo
Das Phänomen ist bekannt, auch wenn die dazugehörenden Begriffe „Säkularisierung“ und „Säkularisation“ sich schwer umschreiben lassen. Es geht in einem sehr umfassenden Sinne um den Rückzug des Religiösen aus der Welt oder, direkt auf den lateinischen Wortstamm „saeculum“ bezogen, um die Durchformung der Gesellschaft durch das „Säkulare“ im Sinne von „Weltlichem“ oder „Zeitlichem“. Das „Weltliche“ setzt sich also immer mehr durch und drängt das „Religiöse“ (oder auch „Geistliche“) immer mehr zurück, ähnlich wie in der Gegenüberstellung „sakral“ – „profan“. Die damit verbundenen Vorgänge lassen sich vor allem in Europa aufzeigen. Seit der frühen Neuzeit hat sich das Religiöse in Gestalt der öffentlich wirksamen Kirche(n) nach und nach teils freiwillig, teils gezwungenermaßen aus der europäischen Öffentlichkeit zurückgezogen. Einschnitte bildeten besonders der Westfälische Friede (1648) und die große Säkularisation im Römisch-Deutschen Reich (1803/1805). Während des 19. und 20. Jahrhunderts wurde die Religion in weiten Teilen Europas immer mehr zur Privatsache, wobei die verfasste Kirche je nach Land und Tradition gesellschaftlich mehr oder weniger stark präsent geblieben ist.
Seit mehreren Jahren ist jedoch von einer „Wiederkehr des Religiösen“ in Europa die Rede. Mittel- und Westeuropa müssen sich Anfragen seitens des Islam, aber auch seitens der orthodoxen Welt stellen; die Frage der geistigen Fundamente Europas spielt in diesem Zusammenhang eine wesentliche Rolle. Zugleich zeigt sich immer mehr, dass der Mensch in der „Postmoderne“ wie zu allen Zeiten der Menschheitsentwicklung von der Sinnsuche umgetrieben wird. Auch hier ist die Religion wieder „in“, wobei allerdings noch offen ist, ob sich das Ganze nicht als kurzfristiger Trend erweisen wird. Alles in allem: Es ist notwendig, über die Säkularisierung in Europa nachzudenken. Das vorliegende Heft will dazu einige Anstöße vermitteln.
Eröffnet wird das Heft folgerichtig mit einer weitgefassten Begriffsbestimmung durch den Sozialwissenschaftler Prof. Dr. Karl Gabriel, Universität Münster. Daran schließen zwei Beträge zur Entwicklung der Religion bzw. zu den Auswirkungen der Säkularisierung in Deutschland und Polen an; Autoren sind der Kultursoziologe Prof. Dr. Detlef Pollack, Universität Frankfurt (Oder), und der Moralsoziologe Prof. Dr. Janusz Mariański, Universität Lublin (Polen). „Politik und Religion im inte-grierten Europa von Morgen“, ihr Verhältnis zueinander, stehen im Mittelpunkt der Ausführungen von Dr. Wolfgang Schüssel, langjähriger Bundeskanzler von Österreich. Konkret wurde die Ausei-nandersetzung um die Religion bzw. das religiöse Element in Europa zuletzt in der Auseinandersetzung um den Gottesbezug im Verfassungsentwurf der Europäischen Union; diesem Fragenkomplex widmet sich der Dogmatiker Prof. Dr. Georg Essen, Universität Nijmegen (Niederlande). Prof. Dr. Michael Albus, verantwortlicher Redakteur von OWEP, skizziert schließlich in markanten Strichen die Lage der Ökumene angesichts der Säkularisierung und der neuen Sinnsuche der Menschen in Europa. Abgeschlossen wird das Schwerpunktthema durch eine kleine Umfrage der Redaktion, bei der um eine kurze Antwort auf die Frage „Wie beurteilen Sie die Situation Europas angesichts der Säkularisierung?“ gebeten wurde. Antworten kamen von: Prof. Dr. Riho Altnurme, Kirchenhistoriker aus Tartu (Estland), Peter Esterhazy, ungarischer Schriftsteller, Katrin Göring-Eckhardt, Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages, Nedžad Grabus, Oberhaupt der muslimischen Glaubensgemeinschaft in Slowenien, Józefa Hennelowa, polnische Publizistin, Hilarion, russisch-orthodoxer Bischof von Wien und Österreich, Prof. Dr. Viorel Ioniţa, rumänisch-orthodoxer Theologe, Prof. Dr. Stanisław Krajewski, Mitvorsitzender des polnischen christlich-jüdischen Rates, Joachim Wanke, katholischer Bischof von Erfurt, und Dr. Viktor Yelenski, Sozialwissenschaftler aus Kiew (Ukraine).
Außerhalb des Schwerpunktthemas, dennoch mit ihm verbunden, steht ein Beitrag von Stephanie van de Loo, der die Vorgeschichte der Dritten Europäischen Ökumenischen Versammlung, die im September 2007 in Hermannstadt/Sibiu (Rumänien) stattfinden wird, erläutert. Auch dort geht es um „ein Wort, das die Menschheit nicht überhören kann“ – die christliche Botschaft als Zeichen in einer immer säkularer werdenden Welt, die zugleich auf der Suche nach Sinn ist.
Dr. Christof Dahm