OWEP 3/2007
Schwerpunkt:
Schatten der Vergangenheit
Editorial
Nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Systems in den Ländern Mittel- und Osteuropas kam folgerichtig die Frage auf, wie man dort mit den Schatten der Vergangenheit umgehen sollte. Was sich dabei zeigte, zeigt und zeigen wird, war und ist ein Drama. Es ist das Drama des Menschen selbst. Das, was man in diesem Zusammenhang Lustration nennt, was soviel heißt wie Überprüfung, Durchleuchtung, ist ein Wechselspiel auf der persönlichen, gesellschaftlichen und politischen Ebene. Dieses Wechselspiel ist geprägt von Enthüllung, vor allem durch die Medien, von Verrat, von Bekenntnis, Verstocktheit, Bereitschaft zur Umkehr und Erneuerung. Aber all dies geht nur langsam und schleppend, zäh und widerspenstig vor sich.
Wir konzentrieren uns in diesem Heft auf ganz bestimmte Fragen, die vor allem die Rolle der Kirchen und ihrer Mitglieder in verschiedenen Ländern des ehemaligen kommunistischen Machtbereichs betreffen. Die Kirchen mit ihrem Wahrheitsanspruch sind ganz besonders betroffen, zumal viele ihrer Mitglieder, hohe und niedrige, in das schreckliche Zeitgeschehen aktiv und passiv verwickelt waren – als Täter und Opfer. Das gilt vor allem für Polen und die ehemalige Tschechoslowakei. Aber auch für Kroatien, die ehemalige Sowjetunion, die Ukraine und Bulgarien und Serbien. Sie sind in dieser Ausgabe beispielhaft für andere vertreten. Vorgänge, die in den Medien hohe Wellen schlugen, werden genauer beleuchtet, es werden Fragen gestellt, die in der Tagesaktualität zwangsläufig untergehen. Und Differenzierungen werden vorgetragen, die zur halbwegs gerechten Beurteilung dringend notwendig sind. Es geht nicht nur um Anklage. Es geht auch um die Frage nach der Kraft zur Versöhnung.
Das Thema wird Europa so schnell nicht in Ruhe lassen. Wir wollten einen Beitrag dazu leisten, der weiterführt.
Die Redaktion
Kurzinfo
Die Geschichte kennt keinen Schlussstrich, keine „Stunde Null“. Mit dieser schmerzlichen Erkenntnis mussten sich die Bürger der „Bonner Republik“ spätestens seit Mitte der sechziger Jahre auseinandersetzen, ob sie wollten oder nicht. Die Nachwirkungen des Dritten Reiches, besonders die Untaten des NS-Regimes in vielen Teilen Europas während des Zweiten Weltkrieges, die während der Aufbaujahre der Wirtschaftswunderzeit fast völlig verdrängt worden waren, wurden seither auf allen Ebenen der Gesellschaft diskutiert. Eine Fülle populärer und wissenschaftlicher Darstellungen – erinnert sei z. B. an die Fernsehserie „Holocaust“, die in den siebziger Jahren erstmals den Massenmord an den Juden Europas medial darstellte –, die Einrichtung neuer Forschungsinstitute und Schaffung spektakulärer Erinnerungsorte und Gedenkstätten in Deutschland belegen, dass man sich hierzulande trotz mancher Hemmnisse und Rückschläge bemüht, sich der eigenen Geschichte zu stellen. Dies gilt umso mehr, als die deutsche Geschichte seit der Wiedervereinigung mit einem zusätzlichen Phänomen zu kämpfen hat: In der ehemaligen DDR gilt es, die Geschichte des Kommunismus aufzuarbeiten, insbesondere das System der Staatssicherheit, dessen Folgen bis heute spürbar sind. Darüber hinaus hat es in der DDR so gut wie keine Auseinandersetzung mit dem Dritten Reich gegeben, sodass auch hier vieles nachzuholen ist.
Wenn sich das aktuelle OWEP-Heft mit den „Schatten der Vergangenheit“ in Mittel- und Osteuropa befasst, geschieht dies – möglicherweise mehr als in anderen Heften – vor dem Hintergrund der oben geschilderten spezifischen Problemlage in Deutschland. Außerdem liegt ein Schwerpunkt auf der Rolle und Stellung der Kirche: Wie hat sie im Zeitraum zwischen 1945/1950 und 1989/1990 in den einzelnen Ländern gehandelt, wieweit haben sich ihre Vertreter arrangiert, wieweit war Widerstand – offen oder verdeckt – möglich? Naturgemäß können viele Aspekte nur angerissen werden, zumal in vielen Ländern die entsprechenden Untersuchungen auf den verschiedenen Ebenen gerade erst begonnen haben und teilweise sehr umstritten sind.
Der Eröffnungsbeitrag des Heftes vermittelt einen Überblick auf die besondere Situation des Umgangs mit der Vergangenheit in Deutschland. Verfasserin ist Marianne Birthler, die Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR. Ihre Ausführungen belegen eindrücklich die Notwendigkeit, sich weiterhin mit den Folgen der Unrechtsregime auseinanderzusetzen. Zu welchen Folgen die Verdrängung, ja Leugnung der Verstrickung in die kommunistischen Strukturen führen kann, zeigen die beiden anschließenden Texte des Heftes, die sich mit dem Selbstverständnis der katholischen Kirche in Polen auseinandersetzen. Polen galt und gilt bis heute als das Land des ehemaligen Ostblocks, in dem sich die Kirche erfolgreich gegen das kommunistische System zur Wehr setzte und letztlich entscheidend zu dessen Sturz beitrug. Aber um welchen Preis? Schon in den fünfziger Jahren gab es Formen der Zusammenarbeit; viele Geistliche wurden zu Mitarbeitern der Staatssicherheitsbehörde – die meisten gewiss nur, um überhaupt noch als Seelsorger tätig sein zu können. Märtyrer und Verräter: Wer will da den ersten Stein werfen, besonders aus „deutscher“ Perspektive? Vor den Augen der Weltöffentlichkeit spielte sich im Januar 2007 das Drama des neuen Erzbischofs von Warschau Stanisław Wielgus ab, der unmittelbar vor der Amtseinführung von seinem Amt zurücktrat. Der Publizist Zbigniew Nosowski, der selbst der Arbeitsgruppe zur Untersuchung dieses Falles angehört, schildert die Hintergründe dieses spektakulären Ereignisses und entwirft zugleich ein Gesamtbild der aktuellen Auseinandersetzungen in Polen. Ergänzend dazu und noch stärker auf die innere Zerrissenheit und seelische Not des Klerus eingehend ist der folgende Beitrag von Józef Źyciński, Erzbischof von Lublin, mit dem bezeichnenden Titel „Kirche unter dem Kommunismus: zwischen Heldentum und Verrat“.
Anders als in Polen stellte sich die Situation in der Tschechoslowakei und in Kroatien dar, wie aus den Beiträgen der Historiker Jiří Plachý und Vjekoslav Perica deutlich wird. In der Tschechoslowakei gab es in den fünfziger und sechziger Jahren einen regelrechten Kirchenkampf, in dessen Folge sich sogar eine Untergrundkirche bildete. Unter vielen Schwierigkeiten und Einschränkungen konnte die „offizielle“ Kirche fortbestehen, doch hat auch hier die Staatssicherheitsbehörde massiv Einfluss genommen. In Jugoslawien konnte die katholische Kirche in Kroatien nach einer Phase der Unterdrückungen ihre Stellung festigen und spielt seit der Unabhängigkeit des Staates eine wichtige Rolle im öffentlichen Leben. Die dringend notwendige Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte ist jedoch bis heute nicht erfolgt.
Drei weitere Beiträge des Heftes beschäftigen sich mit der Situation in Russland, der Ukraine und Bulgarien. Der Historiker Nikolaj Mitrochin geht der Frage nach, wie sich die Russische Orthodoxe Kirche an ihre Geschichte in der Sowjetzeit erinnert. Er kommt zu dem überraschenden Ergebnis, dass weite Strecken dieser Geschichte inzwischen verklärt werden und selbst die Rolle Stalins umgedeutet wird. Der Publizist Taras Wosnjak schildert essayistisch die gegenwärtigen politischen Strukturen in der Ukraine: Das Land ist zerrissen zwischen „West“ und „Ost“, „orange“ und „blau“; auch die Parlamentswahlen werden seiner Meinung nach keinen Wandel bringen. Die Situation der Kirche steht wiederum im Mittelpunkt des Beitrags der Religionswissenschaftlerin Daniela Kalkandjieva aus Sofia. In kurzen Strichen schildert sie die Stellung der Bulgarischen Orthodoxen Kirche seit der Wende; seit 1992 ist diese durch ein Schisma gespalten, das bis heute nicht überwunden werden konnte.
Abgeschlossen wird das Heft mit zwei weiteren Beiträgen aus dem südosteuropäischen Raum. Gesa Wicke, Stipendiatin des europäischen Studienkollegs zu Berlin, schildert ihre Eindrücke einer Reise durch Bosnien-Herzegowina Ende 2006. In einem Interview äußert sich der Rechtsanwalt Ivan Janković aus Belgrad zur Vergangenheitsbewältigung in Serbien. Seine Bilanz fällt leider recht düster aus.
Wie schon bemerkt, kann das Heft nur Facetten der Thematik bieten. Die Auseinandersetzung über die „Schatten der Vergangenheit“ hat gerade erst begonnen. Beiträge zur diesbezüglichen Auseinandersetzung in Ungarn und in der Slowakei finden sich in OWEP 2/2007 und 4/2006; sie bieten wichtige Ergänzungen zu den vorgestellten Beiträgen.
Dr. Christof Dahm