OWEP 3/2022
Schwerpunkt:
Zeitenwende in Europa: Das Ende der Nachkriegsordnung
Editorial
Der russische Überfall auf die Ukraine am 24. Februar 2022 markiert einen tiefen Einschnitt in die europäische Geschichte. Auch wenn es für eine abschließende Deutung viel zu früh ist, kann man schon jetzt festhalten, dass damit auch große Herausforderungen für die Europäische Union verbunden sind.
Zwar haben die Mitgliedsstaaten den russischen Angriffskrieg in seltener Geschlossenheit verurteilt, gemeinsam umfangreiche Sanktionen beschlossen und einem Kandidatenstatus der Ukraine zugestimmt, doch bei der Unterstützung der Ukraine herrscht alles andere als Einmütigkeit. So wird die vielfach zitierte „Zeitenwende“ auch zu einer Nagelprobe für die Zukunft der europäischen Integrationsfähigkeit.
Angesichts der russischen Drohungen gegenüber den osteuropäischen NATO-Partnern wird auch der Ausbau einer neuen europäischen Sicherheitsordnung verstärkt diskutiert. Ungelöst sind außerdem weiterhin Fragen der Rechtsstaatlichkeit innerhalb von EU-Mitgliedsstaaten wie Polen und Ungarn. Hier laufen gegenwärtig Verfahren wegen Vertragsverletzungen.
Das vorliegende Heft beschäftigt sich mit diesen Problemen, aber auch mit der fehlenden EU-Einwanderungs- und Flüchtlingspolitik, einer Bewertung der östlichen Partnerschaft und der Rolle der Visegrád-Staaten. Auch das Thema Kirche und Europa wird vertieft behandelt. Der ghanaische Autor Isaac Kaledzi blickt vom afrikanischen Kontinent auf die jüngsten Entwicklungen in Europa.
Mehr zu Heft 3/2022 auch im folgenden Teaser-Video
An dieser Stelle sei noch ein Hinweis aus der Redaktion angefügt: Der langjährige Redakteur vom Dienst Dr. Christof Dahm ist Ende Juni in den Ruhestand gegangen. Wir danken ihm sehr herzlich für 21 Jahre engagierten Einsatz für die Zeitschrift „OST-WEST. Europäische Perspektiven“. Seine Nachfolge in der Redaktion hat zum 1. Juli 2022 Joachim Sauer übernommen.
Die Redaktion
Inhaltsverzeichnis
Der Ukraine-Krieg, Russland und die neue Unordnung in Europa
Andreas Heinemann-Grüder
Mit der Entscheidung für einen Kandidatenstatus der Ukraine bietet die EU dem kriegserschütterten Land eine Zukunftsperspektive an. Doch bis dahin ist es noch ein weiter Weg. Vor allem Deutschland muss seine Rolle in der EU und sein Verhältnis zu Russland verändern.
By deciding to grant Ukraine candidate status, the EU is offering the war-torn country a perspective for the future. But there is still a long way to go. Germany in particular must change its role in the EU and its relationship with Russia.
Neue Herausforderungen für die EU-Sicherheitspolitik
Johannes Varwick
Welche Auswirkungen der Krieg gegen die Ukraine und die neue Eiszeit im Verhältnis zu Russland für die EU-Sicherheitspolitik haben werden, ist heute noch nicht abzusehen. Die Bedeutung des Themas Sicherheitspolitik dürfte jedoch auch angesichts struktureller Hindernisse für die EU größer werden.
What effects the war against Ukraine and the new ice age in the relationship with Russia will have on EU security policy cannot yet be foreseen today. However, the importance of the issue of security policy is likely to increase, also in view of structural obstacles for the EU.
Die EU-Nachbarschaftspolitik in der Krise
Sopio Koiava
Die EU hat für die Länder des Westbalkans und für die ihr benachbarten Staaten Osteuropas unterschiedliche Mechanismen entwickelt. Angesichts des russischen Krieges gegen die Ukraine ist zu überlegen, wieweit diese Werkzeuge noch aktuell sind. Während für die Östliche Partnerschaft ein neuer Ansatz nötig ist, muss für den Westbalkan eine konkrete Perspektive entwickelt werden.
The EU has developed different mechanisms for the countries of the Western Balkans and for the neighbouring states of Eastern Europe. In view of the Russian war against Ukraine, it is necessary to consider to what extent these tools are still relevant. While a new approach is needed for the Eastern Partnership, a concrete perspective needs to be developed for the Western Balkans.
Die veränderte Rolle der Visegrád-Staaten
Zuzana Stuchlíková
Die Visegrád-Gruppe, bestehend auf Polen, Tschechien, Ungarn und der Slowakei, wurde lange Zeit als geschlossener Block innerhalb der Europäische Union wahrgenommen, der Einigungen, insbesondere in der Migrationspolitik, blockierte. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat die Beziehungen unter den vier ostmitteleuropäischen Staaten grundlegend verändert.
The Visegrád Group, consisting of Poland, the Czech Republic, Hungary and Slovakia, was long perceived as a closed bloc within the European Union that blocked agreements, especially on migration policy. The Russian war of aggression against Ukraine has fundamentally changed relations among the four East-Central European states.
Übergang und Neuorientierung: Europa und die Kirchen
Noel Treanor
Angesichts der sich überlappenden Krisen und ins Wanken geratenen Wertorientierungen in Europa fühlen sich auch die Kirchen aufgefordert, neu zu denken und bei der Suche nach Antworten auf die Herausforderungen mitzuwirken. Das gilt auch für den Dialog zwischen den Konfessionen.
In view of the overlapping crises and shaky value orientations in Europe, the churches also feel called upon to think anew and to participate in the search for answers to the challenges. This also applies to the dialogue between the confessions.
Zeugen des traditionellen Wertesystems
Andrej Ćilerdžić
Im Blick auf den Osten und das östliche Christentum herrschte im westlichen Teil Europas häufig eine eingeschränkte Wahrnehmung vor. Heute ist die Orthodoxie jedoch ohne Zweifel ein Partner im Miteinander der europäischen Konfessionen, wenn auch mit einer vorsichtigen Haltung gegenüber der europäischen Entwicklung.
With regard to the East and Eastern Christianity, a limited perception often prevailed in the Western part of Europe. Today, however, Orthodoxy is without doubt a partner in the coexistence of European denominations, albeit with a cautious attitude towards European development.
Der Justizkonflikt zwischen der EU, Polen und Ungarn
Laura Jäckel
Aus ursprünglich innerstaatlichen Konflikten um die Justiz in Ungarn und Polen ist ein europäischer Grundsatzstreit über die Frage der Rechtsstaatlichkeit geworden. Darum wird seit Jahren in der EU gerungen. Eine Schlüsselrolle kommt dabei dem Europäischen Gerichtshof zu.
What were originally domestic conflicts over the judiciary in Hungary and Poland have become a fundamental European dispute over the rule of law. The EU has been struggling over this issue for years. The European Court of Justice has a key role to play here.
Die Grube, die sich Polens Regierung selbst gegraben hat
Klaus Bachmann
Wer sich mit der EU-Politik Polens beschäftigt, stößt schnell auf ein großes Paradox: Seit 2015 gehen die von der PiS geführten Regierungen auf Kollisionskurs mit der EU. Dabei ist die Unterstützung für Polens EU-Mitgliedschaft in der Bevölkerung größer ist als in den meisten anderen EU-Mitgliedstaaten.
Anyone studying Poland's EU policy quickly encounters a major paradox: since 2015, the PiS-led governments have been on a collision course with the EU. Yet support from the population for Poland's EU membership is greater than in most other EU member states.
Eine afrikanische Perspektive auf den Ukraine-Krieg und Europa
Isaac Kaledzi
Auch in Ghana beschäftigte die Lage in Europa und der Krieg in der Ukraine die Öffentlichkeit. Einige Studentinnen und Studenten mussten aus ihrem Gastland fliehen und warten nun auf das Kriegende, um ihr Studium abschließen zu können. Die Erwartungen an Europa sind unverändert groß.
In Ghana, the situation in Europe and the war in Ukraine also preoccupied the public. Some students had to flee their host country and are now waiting for the war to end so they can complete their studies. Expectations of Europe remain high.
Worauf warten wir? Flucht, tödliche Grenzen und ein Versprechen
Gerald Knaus
An den europäischen Außengrenzen sterben auf der Flucht jährlich Tausende von Menschen, die in Europa nach Sicherheit suchen. Die Bundesregierung hat sich zum Ziel gesetzt, das zu ändern. Tatsächlich gibt es Möglichkeiten, in Zusammenarbeit mit Transitländern diese Zustände zu verbessern. Sie müssten nur umgesetzt werden.
Thousands of people who seek safety in Europe die every year at Europe's external borders. The German government has set itself the goal of changing this. In fact, there are possibilities to improve these conditions in cooperation with transit countries. They would only have to be implemented.
Summary in English
The Russian invasion of Ukraine on 24 February 2022 marks a deep cut in European history. Even if it is far too early for a final interpretation, it can already be stated that it also poses major challenges for the European Union.
Although the member states have condemned the Russian war of aggression with rare unanimity, jointly decided on comprehensive sanctions and agreed to Ukraine's candidate status, there is anything but unanimity when it comes to supporting Ukraine. Thus, the often cited "turning point" is also becoming a litmus test for the future of Europe's ability to integrate.
In view of the Russian threats against the Eastern European NATO partners, the development of a new European security order is increasingly being discussed. Furthermore, questions of the rule of law within EU member states such as Poland and Hungary remain unresolved. Proceedings are currently underway for violations of the treaties.
This issue deals with these problems, but also with the lack of an EU immigration and refugee policy, an evaluation of the Eastern Partnership and the role of the Visegrád states. The topic of Church and Europe is also dealt with in depth. Ghanaian author Isaac Kaledzi looks at recent developments in Europe from the African continent.