OWEP 4/2022
Schwerpunkt:
Türme in Mittel-, Ost- und Südosteuropa
Editorial
Mit dieser Ausgabe begeben wir uns auf eine Reise durch Mittel-, Ost- und Südosteuropa und blicken zu Türmen hinauf und von Türmen hinab. Die „himmelstürmenden Menschenwerke“ zeigen im Laufe der Geschichte ganz verschiedene Bauweisen und unterschiedliche Funktionen. Dies ist auch bei denen der Fall, die wir für diese Ausgabe ausgewählt haben. Sie stammen aus verschiedenen Jahrhunderten und nicht selten lässt sich über sie ein Stück der großen Geschichte ihrer Regionen und Länder entdecken. Wir stellen bekannte wie auch weniger bekannte Türme vor.
Vertraut ist Menschen in Deutschland der Berliner Fernsehturm, der im Osten der geteilten Stadt erbaut wurde. Die Wachtürme der innerdeutschen Grenze erinnern an den Eisernen Vorhang. Heute haben sie, wenn sie überhaupt erhalten geblieben sind, ihren Schrecken verloren. Der „Sender Gleiwitz“ ruft uns den Ausbruch des Zweiten Weltkrieges in Erinnerung. Der Holzturm hat diesen Krieg ebenso überstanden wie die kommunistische Zeit und tut in Polen noch heute seine Dienste.
Weiter führt unsere Reise durch Serbien mit dem Schädelturm in Niš, zu den Wohntürmen von Uschguli in Georgien, die zum UNESCO- Weltkulturerbe gehören, zum „kleinen Eiffelturm“ in Prag und nach Kiew zum imposanten Glockenturm der Sophienkathedrale. Urlaubsgefühle dürfte der Leuchtturm auf einer Insel in der kroatischen Adria auslösen. Der Gediminas-Turm in der litauischen Hauptstadt Vilnius und der Baiterek-Turm in der kasachischen Hauptstadt Astana sind Wahrzeichen ihrer Städte, auch wenn der erste im 14. Jahrhundert und der zweite erst im Jahr 1996 erbaut wurde.
Türme üben eine Faszination aus. Dies wird bei unserer Rundreise deutlich. Sie sind mehr als ein „begehbares vertikal ausgerichtetes Bauwerk, das sich über seine Höhe definiert“ und das dadurch eine Höhe aufweist, die ein Mehrfaches seines Durchmessers oder seiner Stärke ist, und die umgebende Bebauung oder die Landschaft überragt, in die es eingebettet ist.
Die Lektüre der kultur- und architekturhistorischen Beiträge, Reportagen und Interviews kann wie der Weg zu einem Turm und seine Besteigung zu Ansichten und Aussichten führen, die den eigenen Horizont weiten.
Die Redaktion
Video-Clip zum Heft
Inhaltsverzeichnis
Himmelstürmende Menschenwerke
Ulrich Schmid
Das Phänomen «Turm» ist so alt wie die Menschheit selbst. Türme können Ausdruck menschlicher Hybris sein, wie es schon die biblische Erzählung vom Turmbau zu Babel darstellt, oder aber praktische Funktionen haben. In der russischen Kulturgeschichte lässt sich ein ambivalentes Verhältnis zu Türmen und überhaupt zu technischen Neuerungen beobachten. Verschiedene Projekte von Turmbauten in der sowjetischen Zeit, von denen manche nie realisiert wurden, zeigen den Versuch, die Überlegenheit des kommunistischen Systems herauszustellen.
The phenomenon of the «tower» is as old as humanity itself. Towers can be an expression of human hubris, as already depicted in the biblical story of the Tower of Babel, or they can have practical functions. In Russian cultural history, an ambivalent relationship to towers and to technical innovations in general can be observed. Various projects of tower buildings in the Soviet period, some of which were never realised, show the attempt to emphasise the superiority of the communist system.
Der Glockenturm der Kiewer Sophienkathedrale
Antonina Beresowenko
Das Gelände rund um die Kiewer Sophienkathedrale ist eines der eindrucksvollsten Architekturensembles der Ukraine. Man betritt es vom zentralen Sophienplatz durch ein Tor im Glockenturm, der baulich nicht mit der im 11. Jahrhundert erbauten Kathedrale verbunden ist. Die Geschichte des Glockenturms ist in vielerlei Hinsicht mit der kulturellen und der politischen Geschichte der Ukraine verbunden.
The area around Kiev's St. Sophia Cathedral is one of the most impressive architectural ensembles in Ukraine. It is entered from the central St. Sophia Square through a gate in the bell tower, which is not structurally connected to the cathedral built in the 11th century. The history of the bell tower is in many ways connected with the cultural and political history of Ukraine.
Die Türme Swanetiens. Identität und Aushängeschild Georgiens
Stefan Applis
Die Türme Swanetiens sind Weltkulturerbe. Sie sind die Überreste einer einzigartigen Verteidigungsstruktur aus dem frühen Mittelalter. Die Wehrtürme sollten ihre Bewohner vor Feinden und Naturkatastrophen schützen, waren aber auch Wachposten und Signaltürme. Heute sind sie ein Anziehungspunkt für den Tourismus in Georgien.
The towers of Svanetia are a World Heritage Site. They are the remains of a unique defensive structure from the early Middle Ages. The defence towers were intended to protect their inhabitants from enemies and natural disasters, but they were also sentinels and signal towers. Today they are a tourist attraction in Georgia.
Ein Vogelnest als Wahrzeichen. Der Baiterek in der kasachischen Hauptstadt Astana
Edda Schlager
Der markante Baiterek in der kasachischen Hauptstadt Astana ist eng mit dem Personenkult um den autoritären Ex-Präsidenten Nursultan Nasarbajew verbunden. Die Bevölkerung allerdings liebt den 105 Meter hohen Turm und sieht ihn als Wahrzeichen für die Unabhängigkeit Kasachstans – ganz wie es Nasarbajew einst beabsichtigte.
The striking Baiterek in the Kazakh capital Astana is closely associated with the personality cult around the authoritarian ex-president Nursultan Nazarbayev. The population, however, loves the 105-metre-high tower and sees it as a symbol of Kazakhstan's independence – just as Nazarbayev once intended.
Definitiv nicht nur ein Blumenstrauß. Der Gediminas-Turm in Vilnius
Gabrielė Gailiūtė-Bernotienė
Der Gediminas-Turm auf dem 142 Meter hohen Gediminas-Hügel ist bis heute ein Wahrzeichen der litauischen Hauptstadt Vilnius. Er ist der einzige erhaltene Eckturm der Anlage der Oberen Burg, in dem ein geschichtliches Museum über die Historie Auskunft gibt. Von der Aussichtsplattform des Turms eröffnet sich ein Rundblick über Vilnius. Für viele Litauer ist er vor allem ein patriotisches Symbol, um das sich viele Legenden ranken.
The Gediminas Tower on the 142-metre-high Gediminas Hill is still a landmark of the Lithuanian capital Vilnius. It is the only surviving corner tower of the Upper Castle complex, where a history museum provides information about its history. From the tower's viewing platform, one can enjoy a panoramic view of Vilnius. For many Lithuanians, it is above all a patriotic symbol around which many legends entwine.
Der Schädelturm im serbischen Niš
Marina Stojanović
Bis heute erinnert in der serbischen Stadt Niš ein ungewöhnliches Mahnmal an die osmanische Besatzung zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Es besteht aus zahlreichen Schädeln gefallener serbischer Aufständischer. Sie wurden bei einem Aufstand gegen die osmanischen Besatzer getötet. Der Turm steht bis heute als nationales Symbol für den Freiheitswillen der Serben und ihren aufopferungsvollen Kampf gegen die Türken.
To this day, an unusual memorial in the Serbian city of Niš commemorates the Ottoman occupation at the beginning of the 19th century. It consists of numerous skulls of fallen Serbian insurgents. They were killed in an uprising against the Ottoman occupiers. Until today, the tower stands as a national symbol of the Serbs' will for freedom and their self-sacrificing fight against the Turks.
Der Gleiwitzer Sender und seine Geschichte
Matthias Kneip
Der Gleiwitzer Sender zählt aufgrund des fingierten Überfalls durch die Nationalsozialisten am 31. August 1939 zu den bekanntesten Erinnerungsorten der Geschichte des Zweiten Weltkrieges. Er prägt die oberschlesische Landschaft und gilt als höchste Holzkonstruktion der Welt. Jedes Jahr zieht die Sehenswürdigkeit Hunderte von Touristen an.
Due to the fictitious invasion by the National Socialists on 31 August 1939, the Gliwice Radio Station is one of the most famous memorials in the history of the Second World War. It dominates the Upper Silesian landscape and is considered the tallest wooden structure in the world. Every year, the sight attracts hundreds of tourists.
„Kleiner Eiffelturm“ als Zeugnis tschechischen Selbstbewusstseins
Kilian Kirchgeßner
Der Aussichtsturm auf dem Petřín-Hügel oberhalb der Moldau in Prag erinnert an den Pariser Eiffelturm. Erbaut wurde er 1891 und bot erstmals eine Fernsicht über Prag. Als der Aussichtsturm stand, wurde er gleich zum Publikumsmagneten, daran hat sich bis heute nichts geändert. Kilian Kirchgeßner hat mit der Historikerin Jaroslava Nováková den Turm besucht.
The observation tower on Petřín Hill above the Vltava River in Prague is reminiscent of the Eiffel Tower in Paris. It was built in 1891 and offered a distant view over Prague for the first time. When the observation tower was erected, it immediately became a crowd puller, and this has not changed to this day. Kilian Kirchgeßner visited the tower together with historian Jaroslava Nováková.
Ferien auf dem Leuchtturm. Ein Gespräch mit dem Online-Vermieter Pepijn Niesten
Gemma Pörzgen
In Bremerhaven wurde im August 2022 der Leuchtturm an der Nordmole abgetragen. Er war hundert Jahre lang ein Wahrzeichen der Stadt, aber über Nacht um mehr als acht Grad zur Seite gekippt. Da erhebliche Zweifel bestanden, ob der Turm noch stabil war, entschieden die Behörden, ihn abzubauen. Der Niederländer Pepijn Niesten betreibt in Amsterdam die Webseite „bookalighthouse“, über die man weltweit Leuchttürme anmieten kann. Mit ihm sprach OWEP-Chefredakteurin Gemma Pörzgen. Niesten hatte eigentlich noch darauf gehofft, den Leuchtturm in Bremerhaven eines Tages Feriengästen anbieten zu können.
In Bremerhaven, the lighthouse on the north pier was demolished in August 2022. It had been a landmark of the city for a hundred years, but tilted more than eight degrees to one side overnight. As there were considerable doubts as to whether the tower was still stable, the authorities decided to dismantle it. The Dutchman Pepijn Niesten runs the website „bookalighthouse“ in Amsterdam, through which one can rent lighthouses worldwide. OWEP editor-in-chief Gemma Pörzgen spoke with him. Niesten had actually still hoped to be able to offer the lighthouse in Bremerhaven to holidaymakers one day.
Wachturm der Erinnerung. Von den DDR-Grenztürmen sind nur noch wenige geblieben
Gemma Pörzgen
Die Mauer ist schon lange verschwunden, aber vereinzelt stehen noch Grenztürme als Mahnmale deutsch-deutscher Geschichte. Eine ständige Ausstellung zur Geschichte des DDR-Grenzregimes bietet der Grenzturm im brandenburgischen Nieder Neuendorf. Das frühere Sperrgebiet ist heute ein Wohnviertel.
The Wall has long since disappeared, but border towers still stand in isolated places as memorials to German-German history. The border tower in Nieder Neuendorf in Brandenburg offers a permanent exhibition on the history of the GDR border regime. The former restricted area is now a residential district.
Gott vom Alexanderplatz. Über den Berliner Fernsehturm
Sabine Rennefanz
Der Berliner Fernsehturm ist eine Ikone für das wiedervereinigte Berlin geworden. Er ist ein DDR-Produkt, das es erfolgreich in den Westen rübergemacht hat. Für viele Berliner bedeutet es nach Hause kommen, wenn er auf dem Weg in die Hauptstadt plötzlich ins Auge fällt.
The Berlin TV Tower has become an icon for the reunified Berlin. It is a GDR product that has successfully made it over to the West. For many Berliners, it means coming home when it suddenly catches their eye on the way to the capital.
Hochhäuser als Türme der Gegenwart. Ein Gespräch mit dem Architekten Tobias Nöfer
Gemma Pörzgen
Der Architekt Tobias Nöfer hat mit seinem Büro zahlreiche Bauten in Berlin entworfen und gebaut, darunter auch Wohn- und Bürotürme. Neben seinem beruflichen Wirken ist er seit 2019 Vorstandsvorsitzender des Architekten- und Ingenieursvereins zu Berlin-Brandenburg und interessiert sich seit Jahren für Entwicklungen im Osten Europas. Mit ihm sprach OWEP-Chefredakteurin Gemma Pörzgen.
Architect Tobias Nöfer has designed and built numerous buildings in Berlin with his office, including residential and office towers. In addition to his professional work, he has been chairman of the board of the Berlin-Brandenburg Association of Architects and Engineers since 2019 and has been interested in developments in Eastern Europe for years. OWEP editor-in-chief Gemma Pörzgen spoke with him.
Summary in English
In this issue, we embark on a journey through Central, Eastern and South-Eastern Europe, looking up at towers and down from towers. The „sky-towering works of man“ show very different construction methods and different functions in the course of history. This is also the case with those we have selected for this issue. They date back to different centuries and it is not uncommon to discover a piece of the great history of their regions and countries through them. We present both well-known and lesser-known towers.
People in Germany are familiar with the Berlin TV tower, which was built in the east of the divided city. The watchtowers of the inner-German border are reminiscent of the Iron Curtain. Today they have lost their terror, if they have been preserved at all. The „Gleiwitz transmitter“ reminds us of the outbreak of the Second World War. The wooden tower survived this war as well as the communist period and still serves in Poland today.
Our journey continues through Serbia with the Skull Tower in Niš, to the residential towers of Ushguli in Georgia, a UNESCO World Heritage Site, to the „little Eiffel Tower“ in Prague and to Kiev to the impressive bell tower of St. Sophia's Cathedral. The lighthouse on an island in the Croatian Adriatic is likely to trigger holiday feelings. The Gediminas Tower in the Lithuanian capital Vilnius and the Baiterek Tower in the Kazakh capital Astana are landmarks of their cities, even though the first was built in the 14th century and the second only in 1996.
Towers exert a fascination. This becomes clear during our tour. They are more than a „walkable vertically oriented structure that defines itself by its height“ and that thereby has a height that is several times its diameter or thickness and overtowers the surrounding buildings or the landscape in which it is embedded.
Reading the cultural and architectural history articles, reports and interviews can, like the path to a tower and its ascent, lead to views and vistas that broaden one's horizons.