Konfliktlinien in der polnischen Gesellschaft

aus OWEP 3/2016  •  von Jarosław Flis

Dr. Jarosław Flis ist Soziologe und Politologe mit Schwerpunkt auf der polnischen Innenpolitik. Zudem arbeitet er als Kommentator des politischen Geschehens in Polen für verschiedene Medien, unabhängig von deren parteilichen Ausrichtung.

Zusammenfassung

Der Beitrag geht von der Beschreibung der politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Trennlinien aus, die das polnische Volk gegenwärtig spalten. Nachgezeichnet werden die Formen der ideologischen und politischen Auseinandersetzung zwischen den Parteien sowie deren taktische Maßnahmen, um die Macht zu erhalten bzw. diese vonseiten der Opposition zu erringen.

Die aktuellen politischen Konflikte in Polen lassen sich auf zweierlei Weise sehen: Entweder als besondere polnische Spezifik oder als Vorreiter und Institutionalisierung von Konflikten, wie sie in den meisten westeuropäischen Ländern stattfinden – Konflikte, die in den einzelnen Ländern unterschiedliche Formen annehmen und sich im Detail unterscheiden, jedoch einem Muster folgen. Dinge werden infrage gestellt werden, die bisher als Selbstverständlichkeit galten. Die Ergebnisse der Wahlen von 2015 spiegeln diese Spezifik am besten wider, da sie selbst völlig unterschiedlich interpretiert werden.

Politische Konfliktlinien

Das übergreifende Problem begleitet im Grunde die gesamte politische Rivalität in Polen seit 2005 (auch wenn es schon zuvor zu erkennen war): Handelt es sich um eine normale politische Rivalität zwischen normalen Regierenden und einer normalen Opposition oder um eine außergewöhnliche politische Rivalität zwischen fundamental unterschiedlichen Vorstellungen über Demokratie? Verglichen mit den deutschen Gegebenheiten wäre dies die Frage danach, ob wir es mit einer Rivalität wie zwischen SPD und CDU zu tun haben oder vielmehr wie zwischen Mainstream-Parteien und früher der PDS oder heute der AfD. Dieser Streit wird dadurch zusätzlich angeheizt, dass jede Seite meint, sie sei die normale und die andere die anormale. Auf deutschen Grund verpflanzt verhielte es sich so, als hätte sich auf der einen Seite die SPD mit der alten PDS vereint und auf der anderen Seite die CDU mit der AfD. Beide Seiten einer so gestalteten Aufteilung wären dabei der Auffassung, dass jeweils nur sie die wirkliche Demokratie vertrete und diese vor Entartungen bewahre, wie sie die andere Seite verkörpere. Wenn man den Beteuerungen beider Seiten halbherzig Glauben schenkt, so kann man zu dem Schluss gelangen, es handele sich um den normalen Kampf zweier normaler Kräfte, gleichzeitig aber lässt sich dies als außerordentliche, außergewöhnliche und für die Demokratie fundamentale Auseinandersetzung zweier völlig entgegengesetzter Kräfte sehen, was einer idealen Demokratie widersprechen würde. Doch keine dieser Vereinfachungen ist wahr, da sich in Wirklichkeit normale und außergewöhnliche Elemente vermengen.

Die politischen Trennlinien in Polen werden durch zwei emotionale Entscheidungen bedingt. Die erste betrifft die Frage, ob es gut war, den Kommunismus zu stürzen oder ob dies vielmehr zu bedauern ist. Die zweite Frage dreht sich darum, ob sich die Dinge nach dem Sturz des Kommunismus gut oder schlecht entwickelt haben. Dazu kommen fundamentale politische Teilungen: Die PO (Bürgerplattform) konnte alle diejenigen hinter sich bringen, die glauben, dass der Sturz des Kommunismus gut war und dass auch später alles gut lief. Die PiS (Recht und Gerechtigkeit) wendet sich in erster Linie an diejenigen, die meinen, es sei zwar gut gewesen, den Kommunismus zu stürzen, aber danach sei alles schlecht gelaufen. Im Demokratischen Linksbündnis (Sojusz Lewicy Demokratycznej, SLD) überwiegt die Meinung, dass es zwar schlecht war, den Kommunismus zu stürzen, die Dinge sich danach aber gut entwickelt hätten. Diejenige Gruppe, die glaubt, der Sturz des Kommunismus sei schlecht gewesen und danach sei auch alles schlecht geblieben, wurde marginalisiert. Sie geht nicht zur Wahl und hat niemanden, der sie ansprechen und organisieren würde.

In den 1990er Jahren kam es zur Aufspaltung in ein Post-Solidarność-Lager und ein postkommunistisches Lager. Diese Spaltung wirkte sich auch auf unterschiedliche Einstellungen zu Tradition und Gewohnheiten aus. Die zweite Rückkehr der SLD an die Regierung 2001 endete mit einer politischen Katastrophe und führte zum Zerfall des linken Lagers. Dabei trafen zwei Dinge zusammen: Der Streit darüber, ob es richtig war, den Kommunismus zu stürzen, trat in den Hintergrund, da die Befürworter eines Endes des Kommunismus unter den gesellschaftlich Aktiven überwogen. Zugleich gewann die Auseinandersetzung darüber an Bedeutung, ob die Entwicklung nach der Systemwende gut oder schlecht verlief. Sie drückte sich in der Rivalität zwischen PO und PiS aus. Diese Parteien wurden zu Vertretern des liberalen bzw. des solidarischen Polen. Die wichtigste Trennlinie verlief zwischen dem Lager derer, die ihre Hoffnung auf den freien Markt richteten, und denen, die auf größere wirtschaftliche, vom Staat unterstützte Solidarität hofften. Die einen glaubten, die Missstände in Polen kämen daher, dass es zu wenig und nicht zu viel Liberalismus gäbe. Es einte sie die Furcht, ein Sieg ihrer Widersacher würde die Entwicklung in eine andere Richtung gehen lassen als in die mit dem Sturz des Kommunismus begonnene. Derweil waren die Anhänger des solidarischen Polen der Überzeugung, die Dinge hätten sich nach 1989 schlecht entwickelt, weil die kommunistischen Eliten ihren Einfluss im Staat bewahrt haben und weiterhin die politischen Freiheiten sowie eine effektive Wirtschaft mit einer gerechten Güterverteilung behinderten.

Bei näherer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass keines der beiden Lager heute eine Alternative für Demokratie, Zivilisation, Zugehörigkeit zum Westen und Patriotismus besitzt. Das Problem liegt darin, dass sich beide Seiten alle diese Werte völlig unterschiedlich vorstellen. Zudem meint jede, dass die andere Seite zugleich eine Bedrohung für alle diese Werte sei, nicht nur für diejenigen, die man selbst am höchsten hält. All dies heizt den Konflikt weiter an, der nüchtern betrachtet absurd ist. Keine Seite stellt die Durchführung von Wahlen oder den Rechtsstaat infrage. Keine Seite, selbst wenn sie Handlungen ergreift, die von ihren Gegnern als antidemokratisch und nicht rechtsstaatlich angesehen werden, begründet diese mit einer Geringschätzung des Rechts oder Ablehnung der Demokratie, sondern stets mit der Überzeugung, dass eben diese Schritte die wahre Verkörperung von Demokratie und Rechtsstaat seien.

Diese Spaltung ist nur teilweise mit tatsächlichen gesellschaftlichen und geografischen Unterschieden identisch. Natürlich unterscheiden sich die politischen Sympathien einzelner Teile der Gesellschaft auf vorhersehbare und deutliche Weise. Nur sehen diese Unterschiede auf Karten und Schaubildern viel schärfer aus als bei einer aufmerksamen Analyse. Außerdem überschneiden sie sich. Die Aufteilung in Stadt und Land überlagert die durch historische Erfahrungen bedingten Unterschiede – die Gebiete, die im 19. Jahrhundert zu den Kaiserreichen Russland, Deutschland und Österreich-Ungarn gehört haben, weisen heute ein unterschiedliches Wahlverhalten auf. Weitere Muster sind in den Gebieten zu erkennen, in denen nach dem Zweiten Weltkrieg Menschen aus den Ostgebieten Vorkriegspolens angesiedelt wurden. Die PO hat ähnlich wie die Linken unter den Bessergestellten eine höhere Unterstützung, während die PiS viel häufiger von materiell schlechter gestellten Menschen gewählt wird. Keine Partei hat jedoch ein Monopol auf diese Wähler, auch wenn sie sich zu ihrem jeweiligen Anwalt erklärt. Die Unterschiede betreffen auch Ausbildung, Alter und Wohnort. Dennoch besteht die Wählerschaft beider Lager zu einem Großteil aus Personen im mittleren Alter mit mittlerer Bildung und mittlerem Wohlstand in einer der vielen übers ganze Land verstreuten mittelgroßen Städte. In Wirklichkeit wird von ihnen entschieden, welche Seite an Unterstützung gewinnt und welche zurückfällt. Folglich haben beide Lager ihre Zentren, in denen sie eine überdurchschnittlich hohe Unterstützung genießen, doch beide verdanken ihren Erfolg deutlichen Gewinnen an Orten, wo sie am schwächsten waren. Hier erleiden sie auch ihre wahlentscheidenden Verluste. Insofern ist die traditionelle Aufteilung in ein „Polen A“ und ein „Polen B“ eine weitere Halbwahrheit und kaum mehr als eine rhetorische Figur. Die emotionalen Trennlinien verlaufen quer durch die Städte, Woiwodschaften und gesellschaftlichen Gruppen. In vielen von ihnen ist nicht sicher, welches Lager mehr Anhänger hat, selbst wenn diese das anders empfinden mögen. Dies wiederum kann ein höheres Selbstbewusstsein zur Folge haben – etwa der PiS-Anhänger im ländlichen Polen oder der PO-Sympathisanten in den Großstädten. In Wirklichkeit sind die großstädtischen Wähler für die PiS ebenso wichtig wie die ländliche Wählerschaft für die PO.

Machtverhältnisse und politische Rhetorik

Wichtig ist die Tatsache, dass die PiS eine eigenständige Mehrheit und damit eine außerordentlich komfortable Situation erlangt hat, was auf institutionelle Regelungen zurückzuführen ist, die in Polen die letzten 25 Jahre hindurch galten (und die von der PiS auch nicht hinterfragt werden). Erstens wird der Präsident direkt vom Volk gewählt, obwohl er nur beschränkte Aufgaben besitzt. Das Amt des Präsidenten ist sehr unklar mit den Parteiführungen verbunden, zieht aber die öffentliche Aufmerksamkeit in hohem Maße auf sich. Zugleich sieht das polnische Wahlsystem eine deutliche Belohnung für den Sieger der Parlamentswahlen vor – die umso größer ist, je stärker dessen Gegner zersplittert sind. Die Umstände haben nun dazu geführt, dass die Präsidentschaftswahlen direkt vor den Parlamentswahlen stattfanden. Die Strategie der PiS bei den Präsidentschaftswahlen war erfolgreicher als jene der PO und führte zu einem knappen Wahlsieg. Dies bedeutete einen psychologischen Bonus für den Sieger, dessen Höhepunkt genau in die Zeit der Parlamentswahlen fiel. Zugleich waren aufgrund der Präsidentschaftswahlen alle Wahlalternativen zur PiS zersplittert. Diese Zersplitterung war ein weiterer Bonus für die Abgeordnetenzahl der siegreichen Partei.

Die gegenwärtige Lage in Polen ist aus einem weiteren Grund schwer zu interpretieren. Man kann sie als Element eines Wrestling-Kampfes sehen, wo alles auf den ersten Blick absolut gefährlich aussieht, aber eigentlich niemand jemandem etwas antut. Gleichzeitig gibt es viele sehr beunruhigende Merkmale einer Konflikteskalation wie aus dem Lehrbuch. Es handelt sich um einen Konflikt, in dem sich die Streitfragen mehren, kämpferische Anführer das Übergewicht bekommen, die Versuchung zur Radikalisierung der verwendeten Werkzeuge steigt und die Lager ihre Reihen ordnen, wobei diejenigen zurückgepfiffen werden, die einen Kompromiss mit der anderen Seite wünschen – sie werden als Verräter, unbewusste Saboteure oder zumindest Weichlinge dargestellt, die den Ernst der Lage nicht erkennen, einer Lage, die eine eindeutige Antwort auf das Vorgehen der anderen Seite erfordert. Dies wiederum heizt die Streitfragen an und lässt ihre Zahl wachsen; es entsteht ein Gefühl von Unrecht und Ungerechtigkeit, was Grundlage für eine weitere Eskalation des Konflikts sein wird.

Eines der Werkzeuge dieser Eskalation ist es, Unterstützung von außen zu suchen, insbesondere bei anderen europäischen Ländern. Das leitet sich aus der Überzeugung ab, dass die Demokratie insgesamt auf dem Spiel steht, weshalb das Prinzip lautet „Alle Mann an Deck“. Folgen hat die Tatsache, dass die derzeitigen Oppositionsgruppen die besten Kontakte zu den EU-Eliten haben und sie erfolgreich in die polnische Auseinandersetzung hineinziehen können. Diese Eliten scheinen diese Rhetorik zu übernehmen, sind also Teil des oben erwähnten Problems, wie die Lage der polnischen Parteien zu interpretieren ist – und versuchen, die PiS als rechtsextrem darzustellen. Es ist nun so, dass es angesichts eines anwachsenden Konflikts von Emotionen und des Gefühls, durch die Rhetorik des anderen Lagers verletzt zu werden, beiden Lagern, vor allem aber der Regierung, immer schwerer fällt, die eigenen Falken zu bremsen. Ihre Stimme wird immer vernehmlicher, so wie bei einem gesellschaftlichen Konflikt aus dem Lehrbuch.

Kampf der verschiedenen Lager

Das Bild wird von taktischen Dingen ergänzt. Die Regierenden begehen eine ganze Reihe von Fehlern, die weitere Gruppen gegen sie aufbringen. Bei der sozialen Kommunikation sind sie zu aufdringlich. Sehr oft führt der Bedarf nach radikaler Veränderung und der Umkehr von als negativ beurteilten Entwicklungen in den vergangenen 25 Jahren zu unüberlegten Schritten, die in Polen die Stimmung auf eine Art und Weise aufladen, die für jede Regierungspartei nur schädlich sein kann. Auf der anderen Seite verhindert die Entschlossenheit etwa bei der Einführung des Kindergeld-Programms 500+ offensichtlich einen Rückgang der Umfragewerte für die PiS. Zudem ist die Opposition weltanschaulich gespalten und organisatorisch nicht geeint. Es gibt hier die Linke, die eine riesige Identitäts- und Vertrauenskrise durchmacht, und dann die PO, die einen „Angriff der Klonkrieger“ in Gestalt der Partei „Die Moderne“ (Nowoczesna) abwehren muss. Diese ist eine Gruppierung mit einem der PO nahestehenden weltanschaulichen Profil, deren einziger Unterschied darin besteht, dass sie sich von den handwerklichen Fehlern und Affären distanziert, die die PO im Laufe ihrer achtjährigen Regierungszeit angesammelt hat.

Je mehr Zeit vergeht, desto schwieriger wird es sein, eine Begründung dafür zu finden, dass zwei Parteien, die sich an dieselben Wähler richten, keine einheitliche Organisation bilden. Außerdem hat das Ausmaß des mathematischen Erfolgs von PiS auch eine der in Polen immer wieder entstehenden Protestparteien marginalisiert, die Bewegung „Kukiz‘ 15“: Sie vereint Widerstand gegen das schwache Staatshandeln auf vielen Gebieten mit der Abneigung gegen die beiden wichtigsten miteinander konkurrierenden Parteien und gegen Parteiidentitäten überhaupt. Und so könnte die PiS, wäre sie ohne Fehl und Tadel, auf eine viel größere soziale Unterstützung bauen. Gleichzeitig aber ist immer noch nicht bekannt, welche Form die Alternative zur Regierung annehmen wird. Alleine die Tatsache, dass Basisbewegungen wie das „Komitee zur Verteidigung der Demokratie“ (Komitet Obrony Demokracji, KOD) entstehen, verweist darauf, dass die existierenden Oppositionsparteien Probleme damit haben, die Abneigung gegen die Regierung zu kanalisieren und zu verkörpern. Dennoch ist bei ihnen kaum zu spüren, dass sie früher oder später enger miteinander kooperieren müssten.

Gewiss ist die Lage in Polen durch die Krise der EU komplizierter geworden. Hinzu kommen der Krieg in der Ukraine und die aggressive Politik Wladimir Putins. Alle diese Faktoren lassen die Temperatur des polnischen Streits nicht sinken, auch wenn sich die Standpunkte beider Seiten hierbei für europäische Verhältnisse paradoxerweise nur relativ wenig voneinander unterscheiden. Im Vergleich zu anderen EU-Staaten sind die Unterschiede im tatsächlichen Handeln von Regierung und Opposition bei diesen Fragen geringer als die Unterschiede zwischen den Mainstreamparteien in den größten EU-Ländern und den überall aufstrebenden neuen Kräften. Parteien wie der Front National in Frankreich oder die AfD in Deutschland müssen ihren Platz in den gewohnten politischen Prozeduren ihrer Länder erst noch finden. Das Anwachsen der neuen Kräfte unterhöhlt die bisherige Aufspaltung in Regierende und Opposition und stellt künftige Machtwechsel infrage. In dieser Hinsicht ist die polnische Politik nun absolut vorhersehbar – die Regierenden haben eine starke, klar konturierte Alternative.

Natürlich sind wie stets auch schwarze Szenarien nicht ausgeschlossen, etwa eine weitere Eskalation des Konflikts bis hin zur Infragestellung grundlegender demokratischer Prinzipien. Doch man kann sich unschwer vorstellen, dass diese Emotionen teilweise erkalten werden und sich mit dem realen Leben messen lassen müssen – mit einem Leben, in dem sich nichts so leicht ändern lässt wie die Rhetorik. Polen ist eines der am wenigsten zu Protesten, öffentlichen Kundgebungen und Streiks bereiten Länder innerhalb der EU. Die wichtigsten politischen Parteien sind durchaus stabil, können sich aber nicht unbedingt sicher sein, auch in Zukunft untereinander zu bleiben. Deshalb lässt sich auch nicht ausschließen, dass angesichts zunehmender Ermattung durch den Konflikt eine neue Kraft entstehen wird, die den gegenwärtigen Streit auslöscht und die Hoffnungen der Polen wieder stärker beflügeln kann als ihre Ängste.

Aus dem Polnischen übersetzt von Peter Oliver Loew.