OWEP 3/2016
Schwerpunkt:
Polen in Europa
Editorial
Aus Polen kommen gegenwärtig wenig erfreuliche Nachrichten. Seit den Wahlerfolgen der Partei „Recht und Gerechtigkeit“, die seit 2015 den Präsidenten und die Regierung stellt, sind beunruhigende Veränderungen in Politik und Gesellschaft im Gange: Das Verfassungsgericht wird in seinen Funktionen beschränkt, durch die Medien geht so etwas wie eine Säuberungswelle, Kunstprojekte und Theateraufführungen werden behindert – sind das Signale eines nur vorübergehenden, auf eine Legislaturperiode beschränkten Umschwungs oder geht es doch um ein grundlegenderes Unbehagen vieler Polen, die schließlich den politischen Wechsel an den Wahlurnen herbeigeführt haben? Auffällig sind auch neue außenpolitische Akzente, wenn von mehr Distanz zu „Brüssel“ und von stärkerer Rückbesinnung auf den Nationalstaat die Rede ist.
Polen ist ein Teil Europas und für Deutschland ein Nachbar, zu dem aus historischen Gründen eine besondere Beziehung besteht. In den Beiträgen der vorliegenden Ausgabe beschreiben Experten aus Deutschland und Polen die Ursachen für die aktuelle krisenhafte Situation, deren Wurzeln bis in die Phase des Umbruchs vor einem Vierteljahrhundert zurückreichen. Drei Porträts junger Menschen stehen für eine Generation, deren Zukunft weniger sicher erscheint als die ihrer Eltern. Dies gilt ebenso für die Rolle der katholischen Kirche in Polens Gesellschaft, die sich mit den Herausforderungen einer zunehmend säkularer werdenden Gesellschaft schwer tut. Ob der Weltjugendtag in Krakau neue Anstöße vermittelt hat, bleibt abzuwarten.
Wichtig ist, wie in mehreren Beiträgen deutlich wird, dass die Entwicklungen in Polen nicht singulär zu verstehen sind. Die schwedische Autorin Barbara Törnquist-Plewa schreibt dazu: „Es geht um die Bewegung von Ideen und Stimmungen, die sich in ganz Europa auszubreiten beginnen und fast Formen eines Kulturkampfes annehmen, in dem die Gegner ganz unterschiedliche Wertvorstellungen, unterschiedliche Sichtweisen auf Demokratie und unterschiedliche Erklärungen der augenblicklichen Wirklichkeit haben.“ Vor diesem Hintergrund kann das Heft nicht nur Anstöße im Blick auf Polen vermitteln, sondern auch im Blick auf gesamteuropäische Phänomene.
Die Redaktion
Kurzinfo
Polen kommt seit Monaten nicht mehr aus den Schlagzeilen, und das will in der gegenwärtigen Krise Europas, für die die Schlagworte „Flüchtlingskrise“ und „Brexit“ stehen (viele weitere könnten genannt werden), wirklich etwas heißen. Was ist seit dem Regierungswechsel in Polen geschehen und vor allem: warum? Viele Maßnahmen der neuen Regierung, die von der Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (Prawo i Sprawiedliwość, PiS) dominiert wird, scheinen auf eine grundsätzliche Veränderung von Politik und Gesellschaft hinauszulaufen, wobei auch hier Schlagworte wie „Distanz zu Brüssel“ und „Auf dem Weg in die Vierte Republik“ die Entwicklung zwar grob umreißen, aber zur Erklärung nur bedingt nutzen. Das vorliegende Heft „Polen in Europa“ möchte Informationen zum Hintergrund vermitteln und damit zu einer Versachlichung der Diskussion beitragen.
Schon der erste Text im Heft von Priv.-Doz. Dr. Peter Oliver Loew, Historiker und Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Polen-Institut in Darmstadt, zeigt in einem historischen Überblick die enge Verbindung Polens zu seinen europäischen Nachbarn. Aktuelle Tendenzen zu einem Rückzug aus dem europäischen Integrationsprozess laufen also eigentlich dem Selbstverständnis Polens zuwider, sollten allerdings durchaus als Teil einer gesamteuropäischen Entwicklung verstanden werden. Eine ambivalente Rolle nimmt in der gesamten Diskussion die katholische Kirche Polens ein, traditionell eine der prägenden Institutionen im Lande. Neben vielen Befürwortern der neuen politischen und gesellschaftlichen Linie gibt es zahlreiche Skeptiker, wie aus dem Beitrag des polnischen Publizisten und Journalisten Zbigniew Nosowski hervorgeht; bezeichnenderweise schließt der Titel seiner Analyse „Ein neues Bündnis zwischen Thron und Altar?“ mit einem Fragezeichen. Von entscheidender Bedeutung für die Sicht der Entwicklung in Polen ist natürlich die Frage, welche Personengruppen für den politischen Wechsel verantwortlich sind. Lässt sich ein klares Wählerverhalten nach sozialer Schicht, Alter oder räumlicher Herkunft ausmachen? Der Beitrag des Soziologen und Politologen Dr. Jarosław Flis sucht nach Antworten und kommt zu dem Ergebnis, dass es derzeit einen kaum zu schließenden Riss quer durch alle Schichten der Bevölkerung gibt und völlig offen ist, wie die Entwicklung weitergehen wird.
Deutschland muss aus vielerlei aktuellen Gründen, aber auch aufgrund der historischen Verantwortung gegenüber Polen ein großes Interesse daran haben, wie sich das politische und gesellschaftliche Leben jenseits von Oder und Neiße entwickeln wird. Die Analyse von Prof. Dr. Dieter Bingen, Direktor des Deutschen Polen-Instituts Darmstadt, erläutert diese Zusammenhänge vor dem Hintergrund des 25jährigen Jubiläums des deutsch-polnischen Nachbarschaftsvertrags vom 17. Juni 19991; er zeigt auch auf, dass Deutschland und Polen Schlüsselländer für die Zukunft der europäischen Integration sind. Einen Blick von innen vermittelt im Anschluss daran der Essay der polnischen Diplomatin und Juristin Prof. Dr. Irena Lipowicz. Für sie liegen die Ursachen der gesellschaftlichen Krise, die letztlich zum Wechsel von Regierung und Staatsoberhaupt geführt hat, in Fehlentwicklungen im Kontext der Transformationsjahre nach 1989. Eine ganz andere, nichtsdestoweniger aufschlussreiche Sicht auf Polen wirft Prof. Dr. Barbara Törnquist-Plewa, Direktorin des „Zentrums für Europäische Studien“ an der Universität Lund in Schweden. Polen und Schweden stehen seit der frühen Neuzeit in vielfacher Verbindung miteinander. Zwar gingen die beiden Länder seit dem 18. Jahrhundert unterschiedliche Wege, aber stets wurde in Schweden aufmerksam registriert, was sich jenseits der Ostsee gesellschaftlich und politisch getan hat. Daher ist es nicht verwunderlich, dass der neue politische Kurs Warschaus in Stockholm mit großer Besorgnis registriert wurde, zumal viele Beobachter darin den Ausdruck eines gesamteuropäischen Trends in Richtung „Renationalisierung“ sehen.
Die Veränderungen, die sich in den letzten Monaten in Polen abspielen, betreffen, was hierzulande oft unbeachtet bleibt, auch das weite Feld der Medien und des künstlerischen Sektors. Der Kunsthistoriker und Publizist Piotr Kosiewski zeichnet die programmatischen Leitlinien der neuen Regierung nach und führt Beispiele für Eingriffe der öffentlichen Hand in kulturpolitische und künstlerische Bereich an, die einer echten Zensur gefährlich nahe kommen.
Wie sehen die Menschen, speziell junge Leute, die Entwicklungen in Polen? Kann man im Rückblick auf die Zeit seit den gesellschaftlich-politischen Umbrüchen vor einem Vierteljahrhundert von einer Erfolgsgeschichte sprechen oder ist eher Skepsis angebracht? Die polnische Journalistin Agnieszka Hreczuk stellt in drei Porträts junge Menschen vor, deren Biografien stellvertretend für eine ganze Generation stehen können.
Der letzte Beitrag des Heftes zum Schwerpunktthema gilt Jarosław Kaczyński, dem „starken Mann“ Polens. In feinen Strichen zeichnet Prof. Dr. Georges Mink, Dozent am Europa-Kolleg Natolin-Warschau, Werdegang und Gedankenwelt des Politikers nach, der zwar gegenwärtig kein hohes politisches Amt innehat, aber als graue Eminenz Polen umformen und auf den Weg in die „Vierte Republik“ bringen will.
Außerhalb des Schwerpunkts steht der Beitrag von Viltė Žukaitė, Sozialwissenschaftlerin in Vilnius, und Prof. Dr. Klaus Baumann, Caritaswissenschaftler in Freiburg; beide beschreiben die Entwicklung und heutige Rolle der Caritas in Litauen. Abgeschlossen wird das Heft aus aktuellem Anlass mit einem Auszug aus der Rede von Papst Franziskus am 27. Juli 2016 in Krakau, wo er im Rahmen seines Besuches des XXXI. Weltjugendtages das Wort an Vertreter der polnischen Regierung richtete. Darin mahnte er Solidarität mit den Flüchtlingen an, eine Haltung, die in Polen ebenso wie in vielen anderen Ländern Europa leider nur sehr begrenzt geübt wird.
Mit diesem Dokument ist zugleich eine Brücke zum nächsten Heft geschlagen: Im November 2016 wird das vierte Heft des 17. Jahrgangs erscheinen, das unter dem Schwerpunkt „Migration – selbst gewählt und fremd bestimmt“ eine Reihe von Migrantenschicksalen vorstellen und analysieren wird.
Dr. Christof Dahm
Inhaltsverzeichnis
Summary in English
Currently, Poland doesn‘t produce pleasant news. Since the election successes of the „Law and Justice” party, which makes up for the president and the government since 2015, alarming changes in politics and society are underway: The functions of the constitutional court is being limited, all across the media a cleansing wave is going on, art projects and theatre productions are being obstructed. But one can also notice new accents regarding foreign affairs, e. g. a greater distance towards „Bruxelles” and stronger recollection to the national state. Poland is a part of Europe and a neighbor to Germany, with a special relationship based on historic facts. Within the new issue of OST-WEST. Europäische Perspektiven experts from Poland, Germany and Sweden comment on the causes and consequences of this development, whose roots date back to the time of the societal transformation a quarter-century ago.