Ukrainischer Alltag in Moskau

aus OWEP 4/2016  •  von Anna Wishiwanjuk

Anna Wishiwanjuk (geb. 1982) stammt aus dem Westen der Ukraine, ging dann wegen ihres Studiums nach Russland und hat seither ihren Lebensmittelpunkt in Moskau.

Zusammenfassung

Der Beitrag zeichnet den Lebensweg einer jungen Ukrainerin aus der Westukraine nach, der sie zum Studium nach Russland geführt hat. Soll sie nun aus beruflichen Gründen bleiben oder in die Heimat zurückkehren? Diese Frage stellt sich vielen Ukrainern in Russland. Oft fällt, wie die Autorin anhand weiterer Schicksale zeigt, die Entscheidung zugunsten der „Fremde“, doch hält man sich, soweit möglich, eine Hintertür offen.

Zwischen der Ukraine und Russland im Zwiespalt

Ich heiße Anna Wishiwanjuk und wurde 1982 geboren. Von der Geburt bis zum 18. Lebensjahr lebte ich in der Westukraine (die ersten acht Jahre im Bezirk Rowensk und die letzten zehn Jahre in Iwano-Frankiwsk, Stadt Kolomyja). Nach Beendigung der Schule im Jahre 2000 beschloss ich, ein Studium an der Orthodoxen St. Tichon-Universität für Geisteswissenschaften in Moskau zu beginnen. Die Entscheidung zugunsten dieser Universität war dadurch bedingt, dass diese Lehranstalt meiner Meinung nach zu dieser Zeit die qualitativ beste theologische Ausbildung gewährte. Sie steht unter der Ägide der Russischen Orthodoxen Kirche (was für mich sehr wichtig war, weil ich als Gläubige der Ukrainischen Orthodoxen Kirche dem Moskauer Patriarchat angehörte, was für eine Galizierin nicht traditionell ist, und weil ich auf verschiedene kontroverse Fragen auf dem Gebiet der Religion, die für unsere Region charakteristisch sind, Antworten finden wollte).

Die Entscheidung, diese Universität zu wählen, hatte jedoch nichts damit zu tun, dass sie sich in Moskau befindet. Dieser Aspekt war vor allem für unsere Familie ein großes Hindernis (fern von zuhause, ein anderer Staat, das teure Leben in Moskau – unsere Familie war damals in ihren Mitteln ziemlich beschränkt). In den ersten Jahren des Studiums war ich überzeugt, dass ich nach Beendigung der Ausbildung sofort nach Hause zurückkehren würde. Jedoch schlug man mir nach Beendigung der Universität vor, eine Stelle als Doktorandin anzutreten, und ich nutzte diese Möglichkeit, weil ich in diesem Augenblick aus einer Reihe von Gründen nicht bereit war, nach Hause zurückzukehren: erstens familiäre Reibereien, zweitens wollte ich mich nicht von den Freunden und Arbeitskollegen trennen, drittens die Unsicherheit, zu Hause eine meiner Ausbildung gemäße Arbeit zu finden.

Nach der Entscheidung, in Moskau zu bleiben, vergingen einige Jahre. Es gelang mir, die russische Staatsbürgerschaft zu erwerben, und ich begann mich mit der Frage des Erwerbs eines eigenen Hauses zu beschäftigen, da ich bis dahin die ganze Zeit Zimmer und Wohnungen gemeinsam mit Freunden bewohnt hatte und mich zu meinem 30. Lebensjahr das Fehlen eines eigenen Raumes und die Instabilität in der Wohnungsfrage stark ermüdeten. Dann jedoch, als ich in dieser Hinsicht schon viel Kraft investiert hatte (die Mittel zum Kauf eines Grundstücks in der Nähe Moskaus waren zusammengespart, die Kreditgelder waren zum Teil verbraucht, dennoch begann der Bau mit Unterstützung der Eltern), fing ich an, die Richtigkeit meiner Entscheidung anzuzweifeln. Erstens befürchtete ich, wegen des Konfliktes zwischen der Ukraine und Russland die Verbindung zu den Angehörigen und zu meiner Heimat zu verlieren. Ich verstand, dass im Falle, dass ich vor der Wahl stehen würde, in welchem Land ich für immer bleiben möchte, ohne das andere Land besuchen zu können, meine Wahl zugunsten der Ukraine fallen würde. Zweitens wurde mir bewusst, in welchem Maße mir Freunde und Bekannte wichtig sind, meine Eltern und die nahen Verwandten. Drittens verbesserte sich das Verhältnis der Eltern, aber auch ihre materielle Lage (sie eröffneten einen kleinen Laden), und bei mir kam die Überzeugung auf, dass ich entweder bei ihnen oder an einem anderen Ort (sogar in meinem Fach) arbeiten kann, wo ich mir ein kleines, aber notwendiges Einkommen sichere.

Nichtsdestoweniger gehe ich heute davon aus, dass es klüger ist, am Status quo nichts zu verändern. Hinzu kommt die Überlegung, dass, wenn ich in Moskau bleibe, die Möglichkeit bedeutend größer als bei einer Rückkehr in die Ukraine ist, mich in beruflicher Hinsicht (als Religionshistorikerin) zu entwickeln, ungeachtet dessen, dass ich den größeren Teil der Zeit mit Gelderwerb (der oft nichts mit meiner beruflichen Spezialisierung zu tun hat) und mit der Lösung von Alltagsproblemen verbringe. Später, wenn die vor mir stehenden Aufgaben gelöst sein werden, und falls ich in Russland keine eigene Familie gründe oder keine anderen hindernden Umstände entstehen, werde ich wahrscheinlich in die Ukraine zurückkehren – umso mehr, als meine Nächsten darauf hoffen. Und für mich ist es sehr wichtig, dass ich die Möglichkeit habe, jederzeit eine Zuflucht bei ihnen zu finden.

Und noch ein Umstand in Bezug auf meine bürgerliche Aktivität in Russland: Ich bleibe bewusst passiv hinsichtlich der Ausprägung des zukünftigen russischen Staates (Beteiligung an Wahlen usw.), weil ich nicht wirklich das Gefühl habe, dass dieser Staat mir eine Heimat ist, und weil ich annehme, dass ich nicht das innere Recht habe, seine Zukunft zu beeinflussen. Das berührt allerdings nicht soziale und wohltätige Fragen.

Mein Fall ist eher untypisch, obwohl ich persönlich mit mehr als zehn Absolventen der Orthodoxen St. Tichon-Universität für Geisteswissenschaften bekannt bin, Auswanderern aus der Ukraine, die nach Beendigung des Studiums zwischen 2000 und 2013 in Moskau geblieben sind, nachdem sie die russische Staatsbürgerschaft angenommen hatten. Die einen gründeten hier eine Familie, andere nicht. Für die Mehrheit von ihnen bleibt das Problem des Fehlens einer eigenen Wohnung eine ernste Frage. Nichtsdestoweniger ziehen sie es vor, hier zu bleiben, weil sie für sich in der Ukraine keine Perspektive sehen. Das betrifft vor allem Personen, die nach Russland kamen, um hier eine höhere Bildung zu erwerben.

Hauptursache zur Auswanderung: bessere Verdienstmöglichkeiten

Nach meiner Wahrnehmung bilden den größten Teil der Übersiedler aus der Ukraine nach Russland solche Personen, die in den 1980er-Jahren und Anfang der 2000er-Jahre auf der Suche nach besseren Verdienstmöglichkeiten hierher kamen. Viele von ihnen gründeten gemischte Familien mit Russen. Und wenn es ihnen gelang, die Frage einer Unterkunft zu entscheiden (eine Wohnung ist ein sehr wichtiger Aspekt – das ist nicht nur der Ort des Lebens, sondern auch der Ort der Registrierung, unverzichtbar für eine legale, langfristige Arbeitsaufnahme und für die medizinische Versorgung), dann siedelten sie sich in Russland an. Als ich mich im Jahre 2007 im russischen Konsulat in Kiew um die russische Staatsbürgerschaft bewarb, war ich erstaunt über die Menge der Ukrainer, in der Regel mittleren Alters (es sah so aus, als seien es nicht weniger als die, die die russische Staatsbürgerschaft anstrebten), die eine Erklärung über die Ablehnung einer früher erworbenen russischen Staatsbürgerschaft abgaben. Alle begründeten ihre Entscheidung mit dem Fehlen einer Wohnung in Russland. Hier muss daran erinnert werden, dass zwischen der Ukraine und Russland (als Staaten der GUS) die Möglichkeit einer doppelten Staatsbürgerschaft nicht existiert.

Die Arbeiten, zu denen die Ukrainer herkommen, sind in der Regel gering qualifiziert – etwa im Baugewerbe oder im Dienstleistungsbereich. Städte der Niederlassung sind am häufigsten Moskau, seltener Sankt Petersburg, aber auch Orte in Gebieten der Erdölgewinnung.

Fallbeispiele

Erwähnen möchte ich die Verwandten meiner Schwägerin, der Frau meines Bruders. Der Vater ist Wladimir K. (58) aus dem Bezirk Iwano-Frankiwsk, die Mutter Natalja K. (56) aus dem Bezirk Tula (Russland). In den Sowjetjahren lebte ihre Familie in Komsomolsk am Amur. Anfang der 1990er Jahre kehrten die Familienoberhäupter in das Heimatdorf in der Ukraine zurück. Allerdings fiel die Familie dann im Verlauf einiger Jahre auseinander. Die Mutter ging zum Geldverdienen nach Italien. Die Tochter (die Frau meines Bruders) blieb in der Ukraine im Haus der Großmutter (mütterlicherseits), wo sie auch als Familie lebten. Und der Vater mit dem Sohn Sergej K. (er ist jetzt 36 Jahre alt) begaben sich Anfang der 1990er Jahre zur Arbeit nach Moskau. In jener Zeit erwarb der Sohn die russische Staatsbürgerschaft, nachdem er als Erbe das Haus seines Großvaters in der Nähe von Tula bekommen hatte, und arbeitet seither in Moskau in einer Firma für Außenreklame. Er wohnt in einem angemieteten Zimmer und beabsichtigt nicht, in die Ukraine zurückzukehren. Interessant ist es, dass er in der persönlichen Kommunikation die russische Sprache bevorzugt, obwohl er das Ukrainische ausgezeichnet beherrscht. Der Vater hat die Aussicht auf eine Aufenthaltserlaubnis in Russland, er wohnt dauerhaft in Adler1, verwaltet ein privates Eigenheim und das dazu gehörige Gelände, wo er auch wohnt. In die Ukraine kommt er selten, und für die nächste Zeit beabsichtigt er nicht zurückzukehren.

Viele Ukrainer sind wegen fehlender Zukunftsperspektiven nach Russland ausgewandert. Stellvertretend für verbreitete Hoffnungslosigkeit stehen diese Bauruinen in Lemberg (Foto: Renovabis-Archiv)

Aleksandra M. (38) ist unverheiratet. Sie entstammt einer russischen Familie, die während der Sowjetzeit in der Ukraine, in Lemberg, wohnte. Seit 2006 lebt und arbeitet sie in Moskau als Verkäuferin oder Schneiderin. Sie kam nach Moskau aus zwei Gründen: den Traum der Familie (die aus ihr selbst, der Mutter und dem Bruder besteht) von einer Rückkehr in die historische Heimat zu verwirklichen und die materielle Lage zu verbessern. Lange Jahre versuchte sie vergeblich, die russische Staatsbürgerschaft nach dem Rückkehrprogramm für die eigenen Landsleute zu erwerben. In Moskau lebt sie gemeinsam mit Freundinnen in einem Zimmer. Um überhaupt arbeiten zu können, kauft sie bei kommerziellen Unternehmen in Moskau eine Registrierung und eine Arbeitserlaubnis für Ausländer. Ungeachtet der schweren Bedingungen des Moskauer Lebens bleibt sie absichtlich in Russland. Sie plant, demnächst die Wohnung in Lemberg zu verkaufen, im Moskauer Umland eine Unterkunft zu erwerben und die Mutter zu sich zu holen.

Zwei leibliche Schwestern (die ältere, Ljudmila B., ist 30, die andere, Natalja T., etwas jünger) sind gebürtig aus einer ländlichen Ortschaft im Bezirk Chmielno (Westukraine). Die ältere lernte durch Dorfnachbarn, die in Moskau arbeiten, vor zehn Jahren ihren zukünftigen Ehemann Kirill B. aus dem Moskauer Bezirk kennen. Als sie heiratete, zog sie in das Haus des Mannes. Inzwischen haben sie drei Kinder. Sie ist in einer örtlichen Bäckerei für die Bestellungen zuständig; ihr Ehemann arbeitet dort als Geschäftsführer. In der Annahme, dass es wegen der russophoben Stimmung der Bevölkerung gefährlich sei, dorthin zu reisen, erlaubt der Mann seiner Frau nicht, mit den Kindern die Eltern in der Ukraine zu besuchen. Interessant ist aber, dass Kirill B. lange vor den Ereignissen von 2014 auf den Namen seiner Frau in ihrem Heimatdorf zwei Hektar Land mit Haus erwarb und dort alljährlich einige Monate verbrachte.

Die jüngere Schwester Natalja T. ist verheiratet mit einem 32-jährigen Mann, Nikolaj T., der auf der Krim geboren wurde. Seit 2012 lebt auch sie im Moskauer Umland in einer gemieteten Einzimmerwohnung unweit der älteren Schwester. Der Ehemann arbeitet ebenfalls als Bäcker im gleichen Betrieb. Natalja widmet sich der Erziehung der minderjährigen Kinder und geht nicht zur Arbeit. Nach der Annexion der Krim durch Russland erhielten sie zusammen mit den Kindern (sie haben auch drei Kinder) die russische Staatsbürgerschaft. Sie haben die Absicht, auf Kredit eine kleine Wohnung im Bezirk Moskau zu kaufen.

Über die Perspektiven einer Übersiedlung in die Ukraine sprechen beide Familien – hauptsächlich die Männer – sehr pessimistisch, indem sie auf die ungünstige politische Lage hinweisen, obwohl die Orte, in denen die Schwestern geboren wurden, ihnen sehr gefallen.

Zwei Brüder aus dem Bezirk Dnjepropetrowsk, Maxim B. (30) und Aleksandr B. (26), sind ebenfalls in einer Bäckerei tätig. Seit 2010 fahren sie zur Arbeit nach Moskau. Nach 2014 waren sie um den Erwerb der russischen Staatsbürgerschaft bemüht, um der Einberufung in die ukrainische Armee zu entgehen. Zur Beschleunigung dieses Prozesses erwarben sie zusammen 2016 in der tiefsten russischen Provinz ein altes Haus. In Moskau leben sie in einem gemieteten Zimmer. In die Ukraine zurückzukehren haben sie in der nächsten Zeit nicht vor, ungeachtet dessen, dass sie dort die elterliche Wohnung bekommen könnten.

Dann möchte ich noch Nikolaj G. (49) aus dem Bezirk Lugansk erwähnen, ein Gebiet, das gegenwärtig stark umkämpft ist. Im Laufe von 20 Jahren arbeitete er lange auf Baustellen und lebte in Moskau und im Moskauer Umland. Er hat Familie; die Frau blieb mit den zwei Töchtern in der Ukraine in einem eigenen Haus. Vor den Ereignissen von 2014 hatte Nikolaj eine gut bezahlte Stellung als Wächter eines Restaurants in einer Stadt nahe des Lugansker Bezirks. Seit Sommer 2014 verbringt er fast die ganze Zeit in Moskau und arbeitet als einfacher Arbeiter in einem Unternehmen des Ernährungsbereichs. Er lebt im Bezirk Moskau in einer Mietwohnung. Seine Familie in der Ukraine besucht er regelmäßig, aber er verlässt das Haus nicht für lange, nur für ein paar Tage. Die Rückkehr zur Arbeit in Moskau erklärt er mit der Abneigung, am bewaffneten Konflikt teilzunehmen (einerseits entzieht er sich der Einberufung in die ukrainische Armee; andererseits fürchtet er, zu einer ungesetzlichen Arbeit durch Lugansker „Freischärler“ gezwungen zu werden). Er beabsichtigt, im Falle einer Verschlechterung der Situation in der Heimat seine Familie ganz nach Moskau zu holen.

Ein Paar mittleren Alters mit Kindern aus Dnjepropetrowsk – beide Eltern tätig im Bereich der höheren Bildung – siedelte 2014 nach Moskau über. Ich hörte von ihnen, dass sie aus Furcht um ihr Leben und wegen der unsicheren Zukunft der Ukraine nach Russland umgezogen seien. Unter vier Augen deuteten sie jedoch an, sie würden in Moskau interessante Arbeitsbedingungen erhalten. Sie arbeiten jetzt in einer Stiftung für internationale kulturelle Beziehungen. Mit den Bedingungen ihres Lebens in Moskau wie auch mit der Arbeit sind sie zufrieden, blieben allerdings als Gesprächspartner wortkarg, wenn es um Details ging. In nächster Zeit beabsichtigen sie nicht, Moskau zu verlassen, andere Perspektiven haben sie zurzeit nicht im Blick.

Wie gelangen die Ukrainer nach Russland? Hier ist alles sehr einfach und zugleich typisch. Für die Niederlassung in Russland brauchen die Ukrainer als Bürger der GUS keine Visa oder ergänzenden Dokumente, es reicht der Reisepass. Für die Dauer von 90 Tagen können Bürger der Ukraine in Russland verbleiben, nachdem sie sich am Aufenthaltsort haben registrieren lassen. Die Mehrheit der Ankömmlinge kauft die Registrierung in speziellen, halblegalen Firmen. Für eine Arbeit muss man sich um ergänzende Dokumente kümmern: ein Patent und die Arbeitserlaubnis, für die man bestimmte Gebühren bezahlt. Die maximale Gültigkeitsdauer der Arbeitsdokumente beträgt ein Jahr, eine Verlängerung ist möglich. Die häufigste Transportart aus der Ukraine nach Russland ist die Bahn, seltener der Autobus.

Aus dem Russischen übersetzt von Friedemann Kluge.


Fußnote:


  1. Ort in der Nähe von Sotschi in Südrussland. ↩︎