OWEP 4/2016
Schwerpunkt:
Migration – selbst gewählt und fremd bestimmt
Editorial
Zwei Selbstverständlichkeiten vorab. Zum einen: Wir leben in einer Migrationsgesellschaft – machen uns das aber oft nicht klar. Inzwischen (eigentlich schon seit längerem) sind wir sogar auf Einwanderung angewiesen. Aber auch das blenden wir gerne aus oder thematisieren es jedenfalls nicht. Zum anderen: Ein „Gegenbegriff“ von Migration ist Stagnation. Kulturelle, wirtschaftliche und politische Stagnation hatte historisch das Absterben ganzer Zivilisationen zur Folge. Migration gehörte und gehört daher zu den Überlebensbedingungen der Menschheit. Eine Kapitelüberschrift aus Jochen Oltmers Abhandlung über globale Migrationsprozesse [siehe Jochen Oltmer, Globale Migration – Geschichte und Gegenwart. 2. Aufl. München 2016], nämlich „Migrationsgeschichte als Menschheitsgeschichte“, darf man daher umdrehen und zuspitzen: Menschheitsgeschichte ist Migrationsgeschichte.
Die vorliegende OWEP-Ausgabe bricht den abstrakten Begriff „Migrationsgeschichte“ gewissermaßen herunter, sie erzählt konkrete „Migrationsgeschichten“, besser gesagt: lässt diese erzählen. Migranten geben selber Zeugnis von dem, was ihnen widerfuhr, als sie sich – freiwillig oder gezwungenermaßen – auf den Weg machten. Migration ist, mag sie oft oder zumeist auf äußeren Umständen, strukturellen Ursachen und objektiven Gründen beruhen, immer auch etwas sehr Persönliches, Individuelles, ja Subjektives. Das wollen die Beiträge der vorliegenden Ausgabe von „OST-WEST. Europäische Perspektiven“ deutlich machen. Mit dem Titel des Hefts „Migration – selbst gewählt und fremd bestimmt“ wird daher der Spannungsbogen angedeutet, der die Migrationserzählungen der Autorinnen und Autoren umfasst. Auch das Schicksal „Flucht“ spielt dabei durchaus eine Rolle. Aber das Heft will und kann nicht die weltweiten Fluchtbewegungen in ihrer Breite oder die globale Flüchtlingsfrage im Grundsätzlichen reflektieren.
Vielmehr zeigen die hier versammelten, ganz überwiegend im Osten Europas situierten Migrationsgeschichten höchst unterschiedliche, auch ganz unterschiedlich „verursachte“ Wanderungsschicksale und Wegbeschreibungen auf. Es sind – wie Reinhard Feiter in seiner glänzenden zusammenfassenden Betrachtung der einzelnen Geschichten sagt – „Narrative der Migration“. Sie geben besondere, persönliche Erfahrungen von Menschen wieder, die irgendwo aufbrechen, um irgendwo anzukommen. Das Aufbrechen ist mal selbstgewählt, ein anderes Mal auch verzweifeltes Davonlaufen. Die Wege, die beschritten werden, sind oft steinig, mühsam, nicht immer zielführend, manchmal geradezu odysseehaft. Ebenso lesen wir aber von geglücktem Ankommen und von Erfolgserlebnissen auf dem Weg. Es gibt, schreibt Reinhard Feiter, in diesen Geschichten „kontingente Vorkommnisse“, etwas, „das auch anders oder nicht hätte geschehen können“. Aber letztlich konvergieren die Schilderungen doch in einem gemeinsamen Punkt: „Das zentrale Narrativ aller Migrationsgeschichten“ ist, so Feiter, „einen Platz in der Welt zu finden“. Es geht um „Möglichkeiten zu leben und zu handeln“, um einen Ort, „wo mir das Recht eingeräumt wird, Rechte zu haben“.
Ergänzt wird das facettenreiche Bild von Migrationen, das diese OWEP-Ausgabe vorstellt, schließlich durch einen grundsätzlichen politischen Beitrag von Alois Glück. Mit Blick auf die aktuellen Flüchtlingsfragen nimmt er eine eher globale Perspektive ein, fokussiert dabei aber besonders auf die Verantwortung Europas. Angesichts der großen Zahl der Flüchtlinge und Migranten, die in ihrer Not zu uns kommen, seien für uns Europäer jetzt „Klärungsprozesse über unsere Maßstäbe, unsere Einstellungen und unsere Wertorientierung für das Handeln unausweichlich und dringlich“. Wir könnten nicht nur Nutznießer der Globalisierung sein wollen, sondern müssten auch zur Einsicht gelangen, „dass wir immer mehr und immer enger eine weltweite Schicksalsgemeinschaft sind“. Das gelte nicht nur in der Ökonomie oder für den Klimawandel. Es gelte – so Glück – „auch für die politischen Krisen und ihre Folgen. Die Flüchtlinge dokumentieren diese Wirklichkeit“.
Die Redaktion
Kurzinfo
Spätestens seit Mitte letzten Jahres beherrscht das Thema „Flüchtlinge“ die europäische Tagesordnung. Angesichts globaler Wanderungsbewegungen – Schätzungen gehen von bis zum 60 Millionen Menschen aus – gerät es leicht und schnell aus dem Blick, dass Migration ein ganz alltägliches Phänomen ist, das grundsätzlich zum menschlichen Leben gehört. Fast jeder verlässt irgendwann aus beruflichen oder privaten Gründen seine Heimat, manchmal unter Zwang, oft freiwillig. Vielfach sind die Grenzen zur Zwangsmigration (infolge von Gewalt aller Art, Naturkatastrophen oder ähnlichem) fließend. Mit dem vorliegenden Heft unter dem Schwerpunkt „Migration – selbst gewählt und fremd bestimmt“ soll anhand von Lebensgeschichten dieses Phänomen, das auch als „stille Migration“ bezeichnet wird, vorgestellt werden. Darüber hinaus wird aber auch die aktuelle Flüchtlingsproblematik aus verschiedenen Blickwinkeln thematisiert.
Eine erste Gruppe von Beiträgen wird eröffnet durch Dr. Marcin Wiatr (Braunschweig), dessen Lebensweg in Polen, genauer gesagt in Oberschlesien begonnen und ihn aus beruflichen Gründen nach Deutschland geführt hat. Es geht dabei aber nicht nur um eine normale berufliche Karriere: Der Autor blickt auch auf das komplizierte deutsch-polnische Verhältnis in Oberschlesien im 20. Jahrhundert und damit verbundene offene Fragen zurück. Verschlungene, teilweise schon kuriose Wendungen zeichnen die Biografie von Irena Wiśniowska (Krakau) aus. Die gebürtige Ukrainerin begann ein Studium in Moskau, das sie aber nicht beendete und stattdessen im Kleingewerbe tätig wurde, dann eher zufällig nach Polen ging, wo sie im Laufe der Jahre ihren Lebensmittelpunkt fand. „Mit offenen Armen empfangen“ wurde sie sicher nicht, vielmehr hat sie ihren Weg trotz mancher Umwege und Rückschläge gefunden. Dies gilt auch für die Ukrainerin Anna Wishiwanjuk (Moskau), die wie viele Ukrainer aus beruflichen Gründen nach Russland gegangen ist und trotz Verbundenheit mit der Heimat – Heimweh ist für sie wie für viele andere Ukrainer durchaus ein Problem – dort wohl auf Dauer bleiben wird. In mehreren kurzen Skizzen schildert sie die Situation anderer Ukrainer in Russland, die meist auf der Suche nach Arbeit ihre Heimat verlassen haben und weiterhin mit dem alten Zuhause in lockerer Verbindung stehen, jedoch wegen des Konflikts in der Ostukraine nur noch selten in die Ukraine zu reisen wagen.
Die Suche nach Arbeit war auch der ursprüngliche Anlass für die Armenierin Inga Gevorkyan (Rostow), ihre Heimat zu verlassen. Nachdem sie keine ihrem Studium gemäße Arbeitsstelle in Armenien gefunden hatte, reiste sie ihrem künftigen Ehemann nach, der in Rostow eine Anstellung gefunden hatte. Sie hat sich dort inzwischen eingelebt, zumal es in Rostow eine große armenische Diaspora gibt, und geht ganz in ihrer Familie auf – ihr Herz schlägt aber, wie aus der Erzählung deutlich hervorgeht, eher für ihre armenische Heimat als für Russland. Im letzten biografischen Text des Heftes ist die Geschichte auf den ersten Blick unspektakulär: Der serbisch-orthodoxe Student Nikola Erceg (Belgrad) stellt dar, welche Motive ihn zum Eintritt ins Priesterseminar und später zur Aufnahme eines Aufbaustudiums in Belgrad bewogen haben. Das eigentlich Interessante ist seine Herkunft aus Bosnien und Herzegowina, genauer gesagt aus der Republika Srpska, deren leidvolle, von Bürgerkrieg gezeichnete Geschichte er skizziert und daran Überlegungen über Migration als menschliche Grunderfahrung anschließt.
In eine bürokratisch nüchterne, für die Betroffenen aber äußerst schmerzvolle Realität führt der nächste Beitrag im Heft. Dr. Monika Kleck, Projektreferentin bei Renovabis, und Schwester Maria Christina Färber vom Kloster der Spirituellen Weggemeinschaft in Shkodra (Albanien) befassen sich mit dem Schicksal abgeschobener Albaner. Der Beitrag schildert zunächst die juristischen Grundlagen der in Deutschland z. Zt. geltenden Abschiebepraxis und beschreibt danach mehrere Fälle betroffener Familien, die an Tragik kaum zu überbieten sind. Kaum weniger dramatisch verlief die Jugend von Dr. Rupert Neudeck (Troisdorf), der in seinem Essay die Stationen der Flucht am Ende des Zweiten Weltkriegs aus Danzig nach Westdeutschland nachzeichnet und deutlich macht, wie schwierig sich das Zusammenleben von Einheimischen und Flüchtlingen trotz gemeinsamer Sprache und Kultur in den ersten Jahren nach 1945 gestaltete. Er knüpft daran Überlegungen und konkrete Vorschläge zum heutigen Umgang mit Flüchtlingen an, die, wie er betont, auch eine Pflicht zur Integration haben. Der Text ist gleichsam ein Vermächtnis, da Dr. Rupert Neudeck am 31. Mai 2016 verstorben ist.
„Einen Platz finden in der Welt – und nicht zum Feind werden“ hat Prof. Dr. Reinhard Feiter, Pastoraltheologe an der Universität Münster, seinen Beitrag im Heft überschrieben, der die vorangegangenen Texte unter verschiedenen Kategorien analysiert, um damit das Phänomen „Migration“ schärfer zu fassen. Alle Menschen streben nach einem sicheren „Platz in der Welt“, die Wege dorthin sind jedoch ganz unterschiedlich und oft sehr verschlungen. Alois Glück, engagierter Katholik und Politiker, zwischen 2009 und 2015 Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, ordnet in seinem Essay das Thema „Migration“ in den globalen Rahmen ein und fordert die Europäer zu verstärktem Engagement auf: Sie sollen sich den Flüchtlingsströmen und den damit verbundenen Herausforderungen stellen und darin auch Chancen erkennen.
Abgeschlossen wird das Heft mit einem Auszug aus dem im Frühjahr 2017 erscheinenden Buch „Schattendasein. Flüchtlinge berichten“. Elizabeth Fleckenstein und Michael Albus haben dafür mit Flüchtlingen gesprochen und stellen deren Schicksale vor.
Als Beilage enthält das Heft auch das Gesamtjahresverzeichnis des 17. Jahrgangs 2016.
Im Februar 2017 wird das erste Heft des 18. Jahrgangs erscheinen, das einer kulturhistorischen Thematik gewidmet sein wird. Vorgestellt werden „Berge in Mittel- und Osteuropa“, sowohl gewaltige Gipfel als auch Berge, die topografisch kaum ins Gewicht fallen, dafür jedoch umso größere historische oder religiöse Bedeutung haben. Der Bogen spannt sich vom Triglav (Slowenien) über den „Berg der Kreuze“ (Litauen) bis zum Ararat (Türkei/Armenien).
Dr. Christof Dahm
Inhaltsverzeichnis
Summary in English
Ever since the middle of last year, the issue of „refugees“ dominates the European agenda. Considering the global population movements (estimations assume up to 60 million people) it disappears from view that migration is a quite common phenomenon which actually is an inherent part of human life. Almost everyone eventually leaves his/her homeland for professional or private reasons, sometimes under constraint, often voluntarily. Frequently, the margins towards forced migration (due to violence of all kinds, natural disasters or the like) are vague. The current issue „Migration – self-chosen and externally determined“ includes a number of biographic articles that illustrate the different types of migration, and therefore signifies the range of this phenomenon.