Das Baltikum – ein kleiner landeskundlicher Überblick
In den Köpfen der meisten Mitteleuropäer ist das Bild vom Baltikum bestenfalls undifferenziert, nicht selten sogar nur schemenhaft ausgeprägt. Die baltischen Staaten mögen zwar vergleichsweise klein an Landesfläche sein, aufgrund ihres natur- und kulturräumlichen Potenzials sind sie jedoch überaus abwechslungsreich und höchst interessant.1 Dabei unterscheiden sich Estland, Lettland und Litauen zum Teil recht deutlich voneinander. Ein wesentliches Anliegen eines landeskundlichen Überblicks sollte insbesondere darin bestehen, die regionalen Charakteristika der drei Länder heraus zu arbeiten.
Der Ursprung des Begriffs „Baltikum“ ist mit letzter Sicherheit noch nicht geklärt. Beim römischen Geographen Plinius wird die fern im Norden gelegene Insel „Baltia“ erwähnt, von welcher der in der Antike äußerst begehrte Bernstein kommen soll. Im Mittelalter wird die Ostsee dann als „Mare Balticum“ bezeichnet, ein Begriff, der sich in vielen Sprachen bis heute gehalten hat. So spricht das Englische noch immer von „The Baltic Sea“. Im zaristischen Russland lautete die offizielle Bezeichnung „russische Ostseeprovinzen“ (Gouvernements). Nach dem Ersten Weltkrieg wurden die baltischen Staaten zwischen 1918 und 1920 erstmals unabhängig. Der 1939 geschlossene Hitler-Stalin-Pakt führte im Juli 1940 zur völkerrechtlich unrechtmäßigen Annexion Estlands, Lettlands und Litauens durch die Sowjetunion. Erst mit dem gescheiterten Putsch gegen Staatspräsident Gorbatschow im August 1991 wurden sie wieder aus der Sowjetherrschaft entlassen und konnten sich erneut als eigenständige Staaten gründen.
Physische Geographie der baltischen Länder
Geologisch betrachtet stellt das Baltikum den westlichen Teil der so genannten „Russischen Tafel“ dar, die aus alten Sedimentpaketen besteht. Im Bereich des Finnischen Meerbusens taucht der noch ältere „Baltische Schild“ unter die Russische Tafel ab. Der geologische Unterbau der baltischen Staaten ist daher äußerst einfach strukturiert und mit Ausnahme zahlreich vorhandener mineralischer Lagerstätten zur Nutzung als Baustoffe eher ressourcenarm. Lediglich Estland verfügt mit dem im Nordosten oberflächennah anstehenden Ölschiefer über einen bedeutenden Energieträger, der im Bereich von Kohtla-Järve sowohl unter Tage als auch im Tagebau gefördert wird. Anschließend wird er mehrheitlich in den beiden großen staatseigenen Kraftwerken bei Narva zur Stromgewinnung verheizt. Somit kann Estland nicht nur etwa 95 Prozent des eigenen Strombedarfs decken, sondern zudem überschüssige Energie an Lettland und an Russland verkaufen. Ein kleinerer Teil des Ölschiefers wird in der chemischen Industrie zur Gewinnung von Schieferöl und Phenolen verarbeitet. Die Rückstände werden schließlich auf großen Halden gelagert, was zu nicht unerheblichen Umweltproblemen führt.
Das Oberflächenrelief der baltischen Staaten wurde primär durch die letztkaltzeitliche Vergletscherung geprägt, wodurch sich eine variationsreiche Jungmoränenlandschaft ausgebildet hat. Die interessantesten glazial bedingten Geländeformen sind die in Schwärmen auftretenden Drumlins und Oser2 im östlichen Estland sowie die Endmoränenlandschaft im südlichen Litauen. Die höchsten Erhebungen finden sich in der „Livländischen Schweiz“, im Grenzbereich von Südostestland und Nordostlettland. Dennoch ist die maximale Erhebung dieser sanfthügeligen Landschaft, der estnische Suur Munamägi (318 Meter) wahrlich kein Riese. Weite Teile der drei baltischen Staaten sind eher flach und liegen meist nur wenige Meter über dem Meeresspiegel.
Die lange Küste des Baltikums ist u. a. der Erosionstätigkeit eines riesigen Gletschers während der Eiszeit geschuldet, der den Rigaer Meerbusen herauspräpariert hat. So besitzt Lettland auch insgesamt den längsten Küstenabschnitt aller drei Staaten, Litauen den kürzesten, jedoch mit dem Nordteil der Kurischen Nehrung sicherlich den attraktivsten. Diese spektakuläre, insgesamt 100 km lange Dünenlandschaft, die als Teil der Ausgleichsküste das Kurische Haff von der Ostsee trennt, gehört zur Hälfte zum Königsberger Gebiet (Oblast Kaliningrad/Russische Föderation); sie ist als Ganzes unter Naturschutz gestellt und zudem zum UNESCO-Weltkulturerbe der Menschheit erklärt worden. Lange und sehr schöne Sandstrände findet man aber nicht nur hier, sondern auch an zahlreichen Küstenabschnitten der östlichen Ostsee. Berühmte Seebäder haben sich daher im Baltikum schon im 19. Jahrhundert entwickelt, beispielsweise Palanga (Polangen) in Litauen, Jurmala (der Rigaer „Strand“) in Lettland oder das estnische Pärnu (Pernau). Zum Baden ungeeignet, aber landschaftlich äußerst reizvoll ist hingegen der nordestnische Küstenabschnitt, der sich als bis über 50 m hohe Steilküste („Glint“) wie eine mächtige Wand aus hartem Kalkstein über den Finnischen Meerbusen erhebt.
Klimatisch gesehen befindet sich das Baltikum in der Übergangszone vom ozeanisch zum kontinental geprägten Klimabereich bzw. vom warmgemäßigten Klima hin zum kühlen Schneeklima. Dies zeigt sich v. a. bei den Temperaturen. Die mittleren Werte liegen im Januar etwa bei – 5°C bis – 6°C. Es wurden aber auch schon absolute Tiefstwerte von – 31°C an der Küste bzw. – 43°C im südlichen Litauen gemessen. Die Durchschnittstemperatur im Juli liegt bei ca. 17°C, wobei die Sommerhöchsttemperaturen im Extremfall auch 32-34°C an der Küste bzw. sogar 37°C in Südlitauen betragen können. Der längste, jedoch ab Riga stromaufwärts nicht schiffbare Fluss im Baltikum ist die Düna (lettisch: Daugava). Weitere mehr oder weniger bekannte Gewässer sind die Flüsse Memel (litauisch: Nemunas) und der Peipus-See (estnisch: Peipsi järv), der im Grenzbereich zwischen Estland und Russland liegt.
Die Böden sind aufgrund eines noch jungen, sehr schwach ausgeprägten natürlichen Gewässernetzes nicht selten von Staunässe betroffen („vergleyt“). Um überhaupt Ackerbau betreiben zu können, muss in weiten Teilen des Baltikums der Grundwasserspiegel mit Hilfe von Entwässerungsgräben gesenkt werden. In Nordestland ist die Bodenbedeckung auf dem massiven Kalkuntergrund nur wenige Zentimeter mächtig, sodass dort kein Ackerbau möglich ist. Die fruchtbarsten Böden (Braunerden) finden sich im südlichen Lettland bzw. im daran angrenzenden zentralen Bereich Litauens. Hier liegt die „Kornkammer“ des Baltikums. Die sandigen Küstenbereiche bzw. diejenigen in Südlitauen sind hingegen eher karg und damit landwirtschaftlich wenig ertragreich. Daher kann nicht überraschen, dass das Baltikum insgesamt sehr waldreich ist. Grob gesagt ist fast die Hälfte der Landesfläche Estlands bzw. Lettlands mit Wald bestanden, die Litauens noch knapp zu einem Drittel. Neben den dichten Wäldern sind vor allem die in Estland zahlreichen Moorgebiete landschaftsprägend. Ihre Artenvielfalt ist ausgesprochen groß und somit ein Eldorado für Botaniker und Geoökologen. Interessierten Touristen sei unbedingt ein Besuch im Lahemaa-Nationalpark empfohlen, wo ein riesiges Moorgebiet durch einen ausgezeichneten Lehrpfad optimal erschlossen ist. Naturliebhaber kommen zudem auf den westestnischen Inseln (u. a. Saaremaa/Ösel und Hiiumaa/Dagö) mit ihren Wacholderheiden ebenso auf ihre Kosten wie im urwüchsigen lettischen Gauja-Nationalpark oder in den malerischen Seenlandschaften Ostlitauens.
Kulturgeographische Aspekte
Das Siedlungsmuster
Die baltischen Staaten sind nicht nur klein an Landesfläche, ihre Bevölkerungsdichte ist aufgrund der geringen Zahl an Einwohnern zudem sehr niedrig (vgl. die unten folgende Tabelle, Stand: 2002). Ein hoher Bevölkerungsanteil Estlands bzw. Lettlands lebt in der jeweiligen Hauptstadt. Tallinn (historisch: Reval) mit knapp 400.000 Einwohnern bzw. das lettische Riga (ca. 750.000 Einwohnern) sind die Dominanten im jeweiligen Siedlungssystem ihrer Länder. In Litauen hingegen spielt Vilnius (deutsch: Wilna) mit seinen ca. 575.000 Einwohnern eine weit weniger herausragende Rolle, denn die zweitgrößte Stadt Kaunas ist mit knapp einer halben Million Einwohner nur unwesentlich kleiner. Ferner ist das landesweite Siedlungsmuster von einigen größeren Mittelstädten (bis 100.000 Einwohner) sowie einer Vielzahl an Kleinstädten geprägt und somit weit ausgeglichener als in den beiden anderen, viel dünner besiedelten baltischen Staaten. Während das ländliche Siedlungsmuster in Litauen vor allem durch kleine Haufensiedlungen gekennzeichnet ist, sind in Estland und Lettland aus historischen Gründen primär Einzelhofsiedlungen vorherrschend.
Land | Territorium in km² | Bevölkerung in 1.000 | Einwohner pro km² | Anteil der Hauptstadtbewohner |
---|---|---|---|---|
Estland | 45.227 | 1.361 | 30 | 28 Prozent |
Lettland | 64.589 | 2.346 | 36 | 32 Prozent |
Litauen | 65.300 | 3.476 | 53 | 16 Prozent |
Der extreme Gegensatz zwischen boomenden Hauptstädten und verarmten ländlichen Peripherien
Aufgrund der Tatsache, dass das Baltikum seit dem Mittelalter in der Einflusssphäre der um die Vorherrschaft im östlichen Ostseeraum kämpfenden Mächte lag (u. a. Deutscher Orden, Dänemark, Schweden, Polen, Russland), die sich zu unterschiedlichen Perioden geopolitisch und wirtschaftlich dort festsetzen konnten, ist die Region überaus reich an geschichtlichem und kulturellem Erbe. Der besondere Stolz der Litauer gründet sich auf die Tatsache, dass das litauische Großfürstentum nicht nur dem Deutschen Orden erfolgreich Paroli bieten konnte, sondern sein Territorium im Spätmittelalter durch Eroberungen weiter Teile des heutigen Weißrussland und der Ukraine bis zum Schwarzen Meer ausdehnen konnte.
Hinsichtlich der Attraktivität an Sehenswürdigkeiten stellen die heutigen Hauptstädte mit Sicherheit die eigentlichen Höhepunkte dar. Die Altstadtbereiche von Tallinn, Riga und Vilnius sowie in der lettischen Hauptstadt sogar zusätzlich ein Großteil der Ende des 19. Jahrhunderts planmäßig konzipierten Stadterweiterung sind zwischenzeitlich zu Recht in die Liste der UNESCO als Weltkulturerbe der Menschheit eingetragen worden. Tallinn konnte wie kaum eine andere Stadt in Grundrissstruktur und Bausubstanz den Charakter einer mittelalterlichen Hansestadt bewahren. Neben der nahezu vollständig erhaltenen Stadtmauer sind insbesondere die gotischen Kaufmannshäuser von besonderem Reiz. Rigas Altstadt wurde im Verlauf der ökonomischen Wachstumsphase der Gründerzeit hingegen nahezu völlig modernisiert. Der im Zweiten Weltkrieg zerstörte und danach von den russischen Besatzern durch Sprengung abgeräumte Rathausplatz (mit dem berühmten Schwarzhäupterhaus) wurde Ende der 1990er Jahre in Teilen rekonstruiert. Die Altstadt von Riga und vor allem das gründerzeitliche Stadtzentrum sind bis heute durch imposante Jugendstil-Ensembles geprägt, die sich durchaus mit denen Prags messen können. In Vilnius, das die flächenmäßig größte Altstadt besitzt, wird der Besucher von der Vielzahl an beeindruckenden, zumeist barocken Kirchenbauten in den Bann gezogen, die jedoch noch einer tiefgreifenden Restaurierung bedürfen. Die hier ehemals bedeutende jüdische Kultur, ihre Träger und Denkmäler sind dem Holocaust zum Opfer gefallen; die dadurch in den Stadtkörper des ehemaligen „Vilne“ (jiddischer Ortsname) geschlagenen tiefen Wunden werden noch lange mahnend sichtbar bleiben.
Der internationale Fremdenverkehr in Estland und Lettland ist sehr stark auf die jeweilige Hauptstadt orientiert. Tallinn verbucht schon traditionell die Mehrzahl an landesweiten Übernachtungen ausländischer Gäste. Die Dominanz der estnischen Kapitale hat sich im Verlauf der letzten Jahre sogar noch verstärkt. Seit Beginn der 1990er Jahre wird die Stadt von finnischen Gästen regelrecht überflutet. Die Gäste kommen meist als Tagestouristen und Wochenendausflügler mit der Fähre, weil sich die kurze Distanz zwischen Helsinki und der estnischen Hauptstadt (ca. 80 km) binnen weniger Stunden an Bord bequem und preiswert überwinden lässt. Ihr Reisemotiv ist weniger das Sightseeing als der preiswerte Einkauf von Zigaretten, alkoholischen Getränken und Bekleidungsartikeln sowie die Inanspruchnahme von Dienstleistungen wie der Gang zum Friseur, in ein Kosmetikstudio, zur Massage oder in die zahlreichen Restaurants und Kneipen.
Vilnius hat von Seiten der internationalen touristischen Nachfrager zu viele Konkurrenten im eigenen Lande. So verbringen die deutschen Touristen ihren Urlaub am liebsten auf der Kurischen Nehrung. Daher ist es nicht überraschend, dass sich in der Region des ehemaligen Memellandes ein vergleichsweise hochpreisiger Fremdenverkehr herausgebildet hat, der sich auf deutsche Touristen spezialisiert. Infolgedessen sprechen die litauischen Beschäftigten im Hotel- und Gaststättengewerbe von Klaipėda (ehemals Memel) oder in Nida (Nidden) zumeist deutlich besser Deutsch als Englisch.
Im Gegensatz zu den Metropolen leiden die ländlichen Räume im Baltikum unter erheblichen strukturellen Defiziten. Die regionalen Disparitäten haben sich in den zurückliegenden fünfzehn Jahren permanent vergrößert. Vor allem die östlichen Landesteile in Estland und Lettland sowie der arme Süden Litauens sind von den Wachstumsprozessen weitgehend abgekoppelt. Ob hier Anpassungen erfolgen, wird die Zukunft erweisen müssen.
Fußnoten:
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Vgl. auch die Länderinfos (mit Karten) in vorliegendem Heft. Weitere Hinweise zu Geschichte und Wirtschaft bieten die Beiträge von Michael Garleff und Arndt Kümpel. Ergänzend sei auf das Themenheft „Die baltischen Staaten“ der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg verwiesen (unter: http://www.lpb.bwue.de/aktuell/bis/2_3_04/diebaltischenstaaten.pdf). ↩︎
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Drumlins und Oser sind durch Gletschertätigkeit entstandene ovale bzw. längliche Hügelformen (Anm. d. Redaktion). ↩︎