OWEP 1/2006
Schwerpunkt:
Die baltischen Staaten
Editorial
Seit knapp zwei Jahren gehören die drei baltischen Staaten zur Europäischen Union. Aus der Sicht der Betroffenen ist damit historisches Unrecht beseitigt worden: Nach der widerrechtlichen Besetzung der zwischen den beiden Weltkriegen unabhängigen Republiken durch die Sowjetunion, dann durch die deutsche Wehrmacht und schließlich wieder durch die Rote Armee und nach der erzwungenen Eingliederung der Staaten in die UdSSR hatten sie nach dem Zerfall des Sowjetimperiums die Unabhängigkeit wieder erlangt, ja sie haben sogar durch ihre Vorreiterrolle in der Artikulierung nationaler Interessen entscheidend zum Ende der Sowjetunion beigetragen. Die Aufnahme in die europäischen Gremien besiegelte nur die Heimkehr dieser Staaten in das europäische Haus, dem sie gewaltsam entrissen worden waren.
Die westlichen Staaten haben während der Sowjetzeit stets ihre Reserven gegen das Schicksal der Balten ausgedrückt: Während die amerikanische Regierung diplomatische Beziehungen zu den Exilregierungen unterhielt, waren die Botschafter der Bundesrepublik Deutschland in Moskau gehalten, nicht in offizieller Funktion die baltischen Sowjetrepubliken zu besuchen. Deutschland trug schließlich auch eine gewisse Verantwortung für das Schicksal dieser Staaten, die das Molotow-Ribbentrop-Abkommen (der „Hitler-Stalin-Pakt“) der Interessensphäre Moskaus zugeschlagen hatte. Das Ende des traditionsreichen Deutschbaltentums war eine der Folgen dieser verhängnisvollen Politik.
Doch zeigt sich, dass der Prozess der Integration in die europäischen Strukturen nicht geradlinig erfolgt. Trotz guter Wirtschaftsdaten wird es noch dauern, bis das Lebensniveau westlicher Staaten erreicht ist. Der Umgang mit der Geschichte von 1940 bis 1990 und der mit den russischen Minderheiten in zweien der Staaten (in Litauen ist der russische Bevölkerungsanteil relativ gering) reißen Gräben in den Gesellschaften auf. Westliche Rücksichtnahmen in der Politik gegenüber Russland stoßen im Baltikum meist auf Unverständnis. Auch die Beziehungen zu anderen Nachbarstaaten sind zuweilen nicht unproblematisch. Diesen und anderen Aspekten dieser immer noch wenig bekannten Region im Nordosten Europas ist das vorliegende Heft gewidmet.
Die Redaktion
Kurzinfo
Auf dem Schachbrett der europäischen Mächte spielten die Völker des Baltikums jahrhundertelang nur die Rolle des Bauern. Deutsche, Dänen, Schweden, Polen und Russen haben der Region am Nordostrand der Ostsee ihren Stempel aufgedrückt, und mehr als einmal waren die einheimischen Völker der Litauer, Letten und Esten in Gefahr, völlig aufgesogen zu werden und damit von der historischen Bühne ganz zu verschwinden. Gerade im 20. Jahrhundert, wo sie zur Eigenstaatlichkeit gelangten, drohte im Gefolge der sowjetischen Expansionspolitik das Ende auch auf nationaler Ebene, gerieten doch besonders die Letten und Esten in Gefahr, in ihren eigenen Kerngebieten zur nationalen Minderheit herabzusinken. Die Wende von 1989/90 brachte die Freiheit, heute ist oft sogar von den „Tigerstaaten“ an der Ostsee die Rede. Dies darf aber die Tatsache nicht verdecken, dass alle drei baltischen Staaten trotz stürmischer wirtschaftlicher und politischer Entwicklung noch immer mit großen Problemen zu kämpfen haben. Diese werden in dem vorliegenden Heft aus unterschiedlicher Perspektive beleuchtet.
Zur Einführung beschreibt der Geograph Dr. Harald Standl, Universität Bamberg, die Region „Baltikum“ in ihren naturgegebenen Voraussetzungen. Die von der Eiszeit geformte Landschaft hat nur wenige Bodenschätze, verfügt aber Denkmäler einer reichen historischen Vergangenheit, sodass der Tourismus zu den Haupteinnahmequellen zählt. Vieles von der Geschichte des Baltikums, speziell der heutigen Staaten Lettland und Estland, ist von Deutschen mitgeprägt worden. Ihren Spuren von der mittelalterlichen Wirtschaftskultur der Hanse über die Veränderungen in der Reformation bis zur Rolle der Deutschbalten im Zarenreich geht der Historiker Prof. Dr. Michael Garleff, Universität Oldenburg, nach. Wieder mehr auf gegenwärtige und künftige Prozesse konzentriert sich der Volkswirtschaftler Arndt Kümpel M.A. aus Berlin, wenn er die wirtschaftlichen Rahmendaten skizziert und Chancen, aber auch Risiken in der Entwicklung der „Tigerstaaten“ aufzeigt.
Den baltischen Staaten gemeinsam ist das Bedürfnis nach Selbstbestimmung, verbunden mit dem Misstrauen gegenüber hegemonialen Ansprüchen anderer Mächte. So ist es nicht verwunderlich, wenn Litauen, Lettland und Estland nach ihrer wiedergewonnenen Unabhängigkeit mit besonderer Reserve russischen Ansprüchen – etwa im Blick auf die russischen Minderheiten – gegenüberstehen. Der litauische Publizist Andrius Navickas beschreibt diese Situation besonders aus der Sicht Litauens und verdeutlicht zugleich, warum die Bewohner des Baltikums zwar so schnell wie möglich in NATO und EU drängten, gleichzeitig jedoch außenpolitisch im Unterschied zu vielen Staaten Westeuropas die enge Anlehnung an die USA suchen. Dr. Markus Wehner, langjähriger Korrespondent der FAZ in Moskau, widmet sich diesem Problemfeld in Bezug auf Lettland und Estland. Ulrike Müller, Nachwuchswissenschaftlerin an der Universität Greifswald, geht einem historisch ebenfalls belasteten Verhältnis nach, nämlich den Beziehungen zwischen Litauen und Polen.
Verfasste Kirche und gelebter Glaube haben sich in den drei baltischen Staaten von jeher unterschieden. Litauen wurde erst im 14. Jahrhundert christianisiert, blieb infolge der Anbindung an Polen während der Reformationszeit katholisch und damit zugleich in der Sowjetunion das einzige geschlossen katholische Gebiet. Seit der Unabhängigkeit haben Kirche und religiöses Leben mit vielen Problemen zu kämpfen, die Pfarrer Dr. Hans-Friedrich Fischer, Studienpräfekt am Priesterseminar in Vilnius, beschreibt. Lettland hingegen ist bis heute stark evangelisch-lutherisch geprägt, hat allerdings auch eine bedeutende katholische Minderheit. Bischof Arvaldis A. Brumanis, Liepaja, beleuchtet in seinem Beitrag die Geschichte Lettlands im 20. Jahrhundert und geht besonders dem Schicksal der Letten im Exil von 1945 bis 1990 nach. Estland, vor dem Zweiten Weltkrieg ein nahezu geschlossenes evangelisch-lutherisches Land, zeichnet sich heute durch eine große religiöse Vielfalt aus, die der estnische Religionswissenschaftler Ringo Ringvee vorstellt.
Das Heft bietet außerdem aktuelle Länderinformationen zu den baltischen Staaten, die von den Renovabis-Länderreferenten Martin Buschermöhle (Litauen) und Martin Lenz (Lettland und Estland) verfasst worden sind. Abgerundet wird das Heft durch ein Porträt des bedeutenden estnischen Komponisten Arvo Pärt aus der Feder von Dr. Friedemann Kluge, Berlin, sowie einen außerhalb des Schwerpunktthemas stehenden Beitrag des Politikwissenschaftlers Prof. Dr. Paul Roth, München, über das heutige Selbstverständnis Russlands.
Dr. Christof Dahm