Sarajevo – Stadt der zwei Gesichter
Zusammenfassung
In Sarajevo bündelt sich wie in nur wenigen anderen Städten die Tragik der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Zwei Menschen aus Sarajevo, Vater und Sohn, beschreiben die „Stadt der zwei Gesichter“ in einem Überblick zur historischen Entwicklung und in einem Erlebnisbericht über die jüngste Vergangenheit.
Der geschichtliche Hintergrund der Migrationen in Sarajevo
Durch den blutigen Zerfall des ehemaligen Jugoslawien assoziieren heutzutage viele Menschen Sarajevo und überhaupt Bosnien und Herzegowina noch immer mit Vertreibungen, Krieg und Zerstörung. Dabei sind sich viele der einzigartigen kulturellen und geschichtlichen Vergangenheit der Stadt und des Landes oft nicht bewusst. Der jugoslawische Nobelpreisträger Ivo Andrić bezeichnete Sarajevo, wo er einige Zeit selber lebte, als Stadt der zwei Gesichter: „Eines ist dunkel und streng, das andere hell und anmutig.“
Tatsächlich ist Bosnien und Herzegowina ein einzigartiges europäisches Land mit einer besonderen politischen und multikulturellen Geschichte. Zum großen Teil ist diese Geschichte wie die des Balkans überhaupt eine Geschichte von verschiedenen Migrationen, die im Laufe der Jahrhunderte die ethnische Struktur der gesamten Region immer wieder verändert haben. Schon in der Antike war das Gebiet des heutigen Bosnien und Herzegowina von verschiedenen Völkern besiedelt; im Laufe der Zeit haben sich dort die großen Religionen und Mächte Europas überlagert und überschnitten. Das Römische Reich, das Karolingerreich, das Osmanische Reich und Österreich-Ungarn hinterließen alle ihre Spuren.
Der Untergang der antiken Zivilisationen und die Einwanderung slawischer Völker im 7. Jahrhundert stellten eines der wichtigsten Ereignisse der frühmittelalterlichen Geschichte des Landes dar. Die illyrischen Ureinwohner konnten sich anfangs noch behaupten, vermischten sich aber nach und nach mit den Slawen. Vor allem die geographische Lage des Landes ermöglichte das Eindringen vielfältiger kultureller und ethnischer Strömungen, da die Region eine natürliche Brücke zwischen Mitteleuropa und dem Mittelmeerraum sowie dem Orient und Westeuropa bildet. Entsprechend wurde Bosnien und Herzegowina häufig auch als Mikrokosmos des Balkans oder als „Klein-Jugoslawien“ bezeichnet. Sarajevo, die Hauptstadt des Landes, steht symbolisch für das kulturelle Zusammentreffen verschiedener Kulturen und Religionen in Bosnien und Herzegowina, die alle ihre Spuren in der Stadt hinterlassen haben.
Wie das gesamte Land Bosnien und Herzegowina ist Sarajevo ein Ort der Begegnungen. Der bosnische Schriftsteller Ivan Lovrenović schrieb über Sarajevo als den Ort, an dem sich der Osten mit dem Westen berührt und vermischt und wo sich Menschen unterschiedlicher Kulturen begegnen und kennen lernen.
Die Geschichte der Stadt beginnt mit der Ankunft der Osmanen, die sie 1461 gründeten. Der erste osmanische Herrscher von Bosnien und Herzegowina Isa-Beg Isaković hat mehrere Dörfer zu einer Stadt vereinigt und zum Zentrum des Landes gemacht. Er ließ wichtige Objekte bauen, so die erste Moschee der Stadt, einen überdachten Markt, ein öffentliches Bad, eine Herberge, eine Bibliothek und natürlich die Herrscherresidenz (Saraj), die der Stadt ihren Namen verlieh. Die Herrschaft und das Vorrücken der Osmanen nach Westeuropa ist die Zeit des Erblühens von Sarajevo, das schnell zu einem der wichtigsten Handelsorte des gesamten Balkans heranwuchs. Während des 16. und 17. Jahrhunderts war es schließlich die größte und wichtigste Stadt des Osmanischen Reichs auf dem Balkan. Damals verfügte Sarajevo über mehr als 100 Moscheen und Schulen, zahlreiche katholische und orthodoxe Kirchen, eine Synagoge und viele große Märkte und Bäder. Manche dieser Bauten, die bis zum heutigen Tag erhalten geblieben sind, zeugen von der Entwicklung und Größe des damaligen Sarajevo. Fremde Reisende und Kaufleute beschrieben Sarajevo als vielbevölkerten, reichen und schönen Ort mit einer wichtigen Vermittlerfunktion im Handel zwischen Ost und West.
Zu dieser Zeit siedelten sich auch viele sephardische Juden in Sarajevo an, die während der „Reconquista“ aus Spanien vertrieben worden waren. Die osmanische Verwaltung hatte ihnen religiöse und bürgerliche Freiheiten zugesprochen, und so wurde im Jahre 1550 die erste jüdische Gemeinde in Sarajevo gegründet. Während des 19. Jahrhunderts zogen mit Beginn der österreich-ungarischen Herrschaft außerdem viele aschkenasische Juden aus dem Osten Europas zu. Vor dem Zweiten Weltkrieg lebten rund 14.000 Juden in Sarajevo und nahmen auch hohe Positionen in der Verwaltung des Landes ein. 1902 wurde die heute noch erhaltene Synagoge erbaut. Somit stehen in Sarajevo neben zahlreichen Moscheen auch katholische und orthodoxe Kirchen und die Synagoge nahe beieinander, und die Stadt bekam die Bezeichnung „Klein-Jerusalem“.
Das Schicksal Sarajevos als Stadt zwischen den Welten und als Schmelztiegel der Zivilisationen hat im Sinne von Ivo Andrić helle und dunkle Seiten. Als das Osmanische Reich bei seinem Vorrücken nach Westen 1683 an seine Grenzen stieß, folgte der Feldzug des berühmten österreichischen Feldherrn Prinz Eugen von Savoyen. Ihm gelang es, das osmanische Heer zurückzuschlagen; im Jahre 1697 nahm er Sarajevo ein. In seinem Tagebuch notierte Prinz Eugen, dass Sarajevo völlig niedergebrannt wurde; so endete die Blütezeit der Stadt.
Im Jahre 1878, nach dem Berliner Kongress, wurde nach über 400-jähriger Herrschaft das Osmanische Reich durch die österreich-ungarische Herrschaft abgelöst. Ivan Lovrenović bezeichnet diesen Übergang als epochales Ereignis für Bosnien und Herzegowina, das einen zivilisatorischen Wechsel bedeutete: „So wie am Ende des 15. Jahrhunderts durch die Eroberung des Osmanischen Reiches das Land aus dem europäischen Kontext herausgezogen und in die orientalisch-islamische Zivilisation eingeführt wurde, so wurde es nach kurzer Blütezeit wieder aus dieser Zivilisation herausgezogen und in die österreich-ungarische, mitteleuropäische Zivilisation eingeführt.“ Nun zogen Menschen aus anderen Teilen der Monarchie nach Bosnien und Herzegowina und nach Sarajevo, unter anderem Ungarn, Tschechen, Österreicher, Italiener und vor allem Slowenen. Der Hauptgrund dafür war der Bedarf an Fachkräften in verschiedenen Bereichen; so kamen Ingenieure, Architekten, Ärzte, Pharmazeuten, Bergarbeiter und Händler nach Sarajevo. Die Habsburgermonarchie drückte einem Teil der Stadt ihren Stempel auf, indem sie die Stadt im Geiste der Moderne ordnete, „zivilisierte“ und durch zahlreiche Neubauten modernisierte. Sie fand jedoch ein schnelles Ende mit dem verhängnisvollen Attentat auf den österreich-ungarischen Thronfolger Franz Ferdinand.
Sarajevo – die Stadt, die aus der eigenen Asche geboren wird
Die turbulente und dramatische Geschichte Sarajevos markierten am Anfang und Ende des 20. Jahrhunderts die Schüsse aus der Pistole des revolutionären Studenten Gavrilo Princip, durch die er den Thronfolger Franz Ferdinand und seine Gattin Sophie am 28. Juni 1914 tötete, sowie die Schüsse von den umliegenden Bergen, auf denen die Einheiten der ehemaligen Jugoslawischen Nationalarmee und serbische paramilitärische Einheiten Stellung bezogen hatten, um die Stadt zu bombardieren und zu terrorisieren. Wegen dieses zweiten historischen Ereignisses suchten meine Frau und meine Kinder Zuflucht in Deutschland, wohin auch ich nach eineinhalb Jahren, die ich im belagerten Sarajevo verbracht habe, gekommen bin. Von dem ersten historischen Ereignis, über das so viel geschrieben worden ist, da es kurz danach zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs kam, habe ich vor allem von meinem Großvater Ivan Kranjčević erfahren – einem Mitglied der fortschrittlichen nationalen Jugend, der Bewegung „Mlada Bosna“; als einer der am Attentat Beteiligten war er zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt worden. Dieser Bewegung gehörte in seiner Jugend auch der wichtigste und bekannteste Schriftsteller der jugoslawischen Völker Ivo Andrić an.
Nach den lebendigen Erzählungen meines Großvaters strebte die bosnische und herzegowinische Jugend nach Befreiung vom Adel, der katholischen Priesterschaft und den Habsburgern in dem Bewusstsein, dass es keine Freiheit ohne Opfer geben könnte. Mein Großvater erzählte mir, dass die Jugend in ihrer Begeisterung und dem Bestreben, der Tyrannei ein Ende zu setzen und den slawischen Völkern die Freiheit zu ermöglichen, revolutionär wurde und immer heftiger demonstrierte. Auf die repressiven Methoden der Regierung der Monarchie und ihre Gewalt antwortete die Jugend in gleicher Weise. Nach den Aufzeichnungen meines Großvaters stammte die Jugend, die damals in Sarajevo studierte, aus verschiedenen Gebieten Bosniens und Herzegowinas; die Idee von der Vereinigung aller Südslawen und der Befreiung vom österreichischen Joch war jedoch allgegenwärtig. Nach vier Jahren Haft in Terezin/Theresienstadt (Böhmen) erlebte mein Großvater, dass er als ein freier Mensch im gemeinsamen Staat der Serben, Kroaten und Slowenen, dem ersten Jugoslawien, leben und arbeiten konnte. Mir blieb er als strenger, gerechter Mensch in Erinnerung, der der Idee von Brüderlichkeit und Einheit sehr treu war und heftig auf jede Form von nationaler Intoleranz und Chauvinismus reagierte.
Als ich die Grundschule und später das Gymnasium in Sarajevo besuchte, wurde der Geist des Zusammenlebens, der Brüderlichkeit und der Einheit, der Toleranz und der Akzeptanz der anderen zu einer Wirklichkeit und nicht länger nur das Ideal, für das die jungen Menschen aus der Generation meines Großvaters ihr Leben zu opfern bereit gewesen waren. Der Sieg der jugoslawischen Volksbefreiungsarmee im Zweiten Weltkrieg festigte die „Brüderlichkeit und Einheit“ der Völker in Bosnien und Herzegowina. In Sarajevo erwuchs daraus oft ehrliche Freundschaft zwischen jungen Menschen, verbunden durch jungenhafte Wünsche und Versuchungen des Lebens. In meiner Generation, den in den fünfziger Jahren Geborenen, wurde nie darauf geachtet, ob jemand diesem oder jenem Volk, dieser oder jener Religion angehörte. Šefik und Mirsad, Darko und Dinko, Silvio und Žarko – in den Schulbänken waren alle gleich; der Hauptmaßstab war, wer der bessere Schüler, treuere Freund, erfolgreichere Sportler und kreativere Künstler war. Der einzige Unterschied war, ob jemand in unserer Stadt geboren oder von woanders zugezogen war. Nach der Befreiung Sarajevos am 6. April 1945 ließen sich wie nach dem Ende eines jeden Krieges viele Menschen vom Land in der Stadt nieder, getragen vom Wunsch nach einem besseren Leben und gelockt von dem damaligen kommunistischen Regime, das auf die Industrieentwicklung in den größeren Zentren Wert legte.
Der Prozess der Emanzipation dieser Ankömmlinge verlief nicht schmerzfrei, sodass es immer eine gewisse Ablehnung der städtischen Bevölkerung gegenüber denen gab, die sich schwerer damit taten, die Gewohnheiten des urbanen Milieus anzunehmen. Für diejenigen, die die Gepflogenheiten des städtischen Lebens nicht akzeptieren wollten, benutzten die alteingesessenen Sarajevoer die abwertende Bezeichnung „papak“ („Weichei“). Wir als Kinder der Stadt waren besonders neugierig, wenn ein neuer Schüler in unsere Gegend kam. So war es auch, als in die letzte Klasse der Grundschule, die ich besuchte, ein Junge namens Miroslav Ateljević (ein typisch serbischer Name) kam, der als Sohn eines Militärs von Stadt zur Stadt zog, je nachdem, wohin sein Vater versetzt wurde. Und während wir Jungen ihn mit Argwohn und die Mädchen ihn aufgrund seiner Statur und seines hübschen Aussehens mit Neugier beäugten, eroberte er schnell mit seiner Art und Unkompliziertheit unsere Herzen und wurde in unserer Klasse sehr beliebt. Alle wollten mit ihm reden, verkehren und spielen und luden ihn ein, sie in der Freizeit zu besuchen. Keinem war dabei sein Name, seine Volkszugehörigkeit oder Religion wichtig. Wer weiß, wohin der Weg Miroslav weiter geführt hat, als sein Vater nach einem Jahr die Versetzung bekam, aber ich glaube, dass Sarajevo in seinem Herzen eine schöne Erinnerung geblieben ist, weil er dort dazugehören konnte.
Obwohl Belgrad als Hauptstadt und Zagreb als zweitgrößtes urbanes Zentrum in Jugoslawien auf jeden jungen Menschen, der eine Karriere anstrebte, große Anziehungskraft ausübten, erfuhr auch Sarajevo als drittgrößte Stadt in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts eine Entwicklung in allen Lebensbereichen. Junge Menschen, vorwiegend Studenten, Sportler und Künstler, suchten ihre Chance in den Großstädten, und so kamen Jugendliche aus allen Gebieten Bosniens und Herzegowinas sowie aus anderen Städten Jugoslawiens nach Sarajevo und entwickelten hier ihre kreativen Potenziale. Da ich in der Stadtmitte aufgewachsen bin – in jenem magischen Viereck, das die katholische Kathedrale, die orthodoxe Kirche, die Synagoge und die Moschee bilden –, hatte ich bereits als Gymnasiast die Möglichkeit, viele Formen der dynamischen Stadtentwicklung zu betrachten. Meine Nachbarin Jelena wurde häufiger von einem der bekanntesten Chansoniers, Dragan Stojnić, der später nach Belgrad übersiedelte, besucht; ab und zu kickte beim Vorbeigehen der Fußballer Zijad Arslanagić mit unserem Ball, mit dem wir als Kinder im Hof unseres Wohnhauses spielten. In jenen Jahren gewannen die Fußballteams „Sarajevo“ und „Željezničar“ die jugoslawische Meisterschaft, das Basketballteam „Bosna“ wurde Europameister, und die legendäre Band „Indexi“ schuf ihre Musik, die im Trend der populären „Beatles“ lag.
Es war eine Zeit der schnellen Entwicklung und des Fortschritts, sodass zahlreiche Künstler im Sarajevoer Volkstheater ihre Anstellung fanden und die avantgardistischsten Gruppen aus Europa und der Welt beim „Festival der kleinen und experimentellen Szenen – MES“ zu Gast waren. Die Entfaltung der Medien, vor allem des Fernsehens und des Films, trug zu dieser dynamischen Stadtentwicklung bei; den Höhepunkt stellte die Organisation und Austragung der XIV. Olympischen Winterspiele dar, die im Orwellschen Jahr 1984 Sarajevo in eine sportliche und kulturelle Metropole von Weltrang verwandelten. Gleichwohl wusste Sarajevo auch seine dunkle Seite zu zeigen, etwa im Fall des Verbots der Komödie „Djelidba“ (Teilung), die der Revolutionsdichter Skender Kulenović aus Krajina schrieb, der nach dem Krieg das Volkstheater leitete. In der Komödie, in der Kulenović mit der Metapher von der Aufteilung der Kriegsreparation in einem abgeschiedenen Dorf auf die Gefahr der nationalen Aufteilung in Serben, Kroaten und Muslime hinwies, erkannten die damaligen kommunistischen Anführer nicht das wahre Problem, kehrten es unter den Teppich und verboten die Aufführung des Theaterstücks. Als ich im Jahr 1991, zu einer Zeit, als die herrschende kommunistische Partei in vielen Ländern des Ostblocks ihre Glaubwürdigkeit und Macht verloren hatte, diese Komödie des schwarzen Humors inszenierte, versuchte ich, den Schriftsteller und sein Werk zu rehabilitieren. Ich wollte auch auf die Tatsache hinweisen, dass das Problem, vor dem er bereits 1948 gewarnt hatte, wie ein aus der Flasche gelassener Geist gewachsen war, der uns ein Jahr später in den von nationalistischer Hysterie angeheizten Strudel des irrsinnigen brudermörderischen Krieges hineinzog.
Der blutige Zerfall Jugoslawiens, inspiriert von der mittelalterlichen Idee der ethnischen Säuberung, traf Bosnien und Herzegowina mit voller Wucht. Die Hauptstadt Sarajevo geriet am 6. April 1992 (an diesem Datum ist im Jahr 1945 die Stadt von der Nazi-Okkupation befreit worden) in eine vierjährige Blockade und wurde zum Ziel der Zerstörung jeglicher Form des multiethnischen Lebens. Während der Belagerung waren die Lebensbedingungen fast unerträglich, sodass viele Bewohner vorübergehend oder für immer Sarajevo verließen. Europa wurde in diesen Tagen von dem größten Flüchtlingsstrom seit 1950 heimgesucht; Sarajevo hatten über 250.000 Bewohner verlassen, von denen die meisten nie wieder zurückgekehrt sind. Aus Angst vor Granatenbeschuss und Heckenschützen verließen zu Beginn der Belagerung Bewohner aller Nationalitäten die Stadt. Flüchtlingsströme flossen, aufgeteilt nach „nationalem Schlüssel“, ins benachbarte Serbien und Kroatien; andere gingen ins europäische Ausland oder nach Übersee, wo sie vorübergehend oder dauerhaft Zuflucht gefunden haben. Der Ring, der am 6. April 1992 um Sarajevo geschlossen wurde, zerbrach erst 1995 unter dem Druck der Verhandlungen in Dayton.1 Viele Serben siedelten 1996 auf das Territorium Ost-Sarajevos über, jene Teile von Vorkriegs-Sarajevo, die nach dem Daytoner Friedensvertrag der Republika Srpska zugeteilt wurden und jetzt den Namen „Serbisch-Sarajevo“ trugen.
Die ethnische Struktur Sarajevos hat sich nach dem Kriegsausbruch grundlegend verändert, ist aber bis heute noch immer Gegenstand gegenseitiger serbisch-bosniakischer Beschuldigungen und wird für tagespolitische Zwecke ausgenutzt; willkürliche Daten werden genannt und die Umstände, die zu diesem neuen ethnischen Stadtbild geführt haben, werden ignoriert. Während die Bevölkerung aus dem engeren Stadtkern, vorwiegend gebildete und hochqualifizierte Menschen und häufig Angehörige von nationalen Mischehen, die Stadt verlassen haben, flohen Kolonnen von gewaltsam Vertriebenen aus kleinen ländlichen, vorwiegend muslimischen Gegenden, nach Sarajevo. Nach der Volkszählung, die im Jahr 1991 durchgeführt wurde, lebten vor dem Krieg in Sarajevo etwas mehr eine halbe Million Bewohner, von denen sich 250.000, also fast 50 Prozent, als Muslime bezeichneten. Serben gab es ca. 30 Prozent, Kroaten nahezu 7 Prozent; diejenigen, die sich als Jugoslawen bezeichneten, umfassten mehr als 10 Prozent und die anderen fast 4 Prozent. Die Angaben mehrerer Nichtregierungsorganisationen über die Zahl derer, die Sarajevo verlassen haben oder nach Sarajevo zugezogen waren, sind unzuverlässig, und Bosnien und Herzegowina ist wegen der Teilung in zwei Entitäten und der Tatsache, dass die Regierung weiterhin von Nationalparteien gebildet wird, einer der wenigen europäischen Staaten, die keine neue Volkszählung durchführen.
Gefangen im Korsett des Abkommens von Dayton, das zwar den Krieg beendete, in Wahrheit jedoch die Folgen der ethnischen Säuberung anerkannt hat, befinden sich Bosnien und Herzegowina und damit auch Sarajevo heute in einer absurden Lage, in der die internationale Gemeinschaft keine Verantwortung für dieses Protektorat übernehmen will; die einheimischen Politiker treten ausschließlich als Vertreter der drei Ethnien auf und können und wollen sich über nichts einigen, was von gemeinsamem Interesse wäre. Während die internationale Gemeinschaft als Bedingung für die Annäherung an die euroatlantischen Prozesse neben Verfassungsänderungen mit dem Ziel der Gleichberechtigung aller Nationalitäten auch eine neue Volkszählung fordert, blocken die Vertreter der Nationalparteien, besonders die bosniakischen, diese Aktion ab. Als Ausrede führen sie auf, dass dadurch die ethnische Säuberung legalisiert würde und die Folgen des Krieges, des Tötens und der Vertreibung, besonders in der Republika Srpska, Bestätigung finden würden. Ihr wahres Ziel ist es, ihre jetzigen Positionen zu bewahren, da die Machtaufteilung und die Implementierung der Wahlergebnisse auf Basis der Volkszählung von 1991 stattfinden.
Obwohl viele Hilfs- und Nichtregierungsorganisationen in Bosnien und Herzegowina, die den Rückkehrprozess der Flüchtlinge unterstützen, aktiv sind, wurden in Sarajevo und Banja Luka gleichzeitig Migrationszentren geöffnet, die es zum Ziel haben, die regulären Migrationen in die Länder der Europäischen Union zu fördern. Wegen mangelnder Perspektive und Arbeitslosigkeit wird das Land vor allem von jungen und gebildeten Menschen auf der Suche nach einer besseren Zukunft verlassen. Ob der Rückkehrprozess weitergeht oder, was viel wahrscheinlicher ist, sich der Prozess des „brain drain“ fortsetzen wird, und, zuletzt, ob Sarajevo trotz allem seinen Geist der Toleranz und Multiethnizität aufrechterhalten wird, werden die kommenden Jahre zeigen. Gewiss ist nur das, was der Nobelpreisträger Ivo Andrić über diese Stadt geschrieben hat: „Egal um welche Tageszeit, egal von welcher Erhebung man einen Blick auf Sarajevo wirft, man denkt unbeabsichtigt das Gleiche. Es ist eine Stadt. Eine Stadt, die verfällt und stirbt und zugleich neu geboren wird und sich verwandelt.“
Deutsch von Berislav Župarić.
Fußnote:
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Vgl. zum Folgenden auch David Roth: Geschichte von Bosnien und Herzegowina: betont gegensätzlich oder betonte Gegensätze? In: OST-WEST. Europäische Perspektiven 12 (2011), H. 4, S. 242-249, besonders S. 248 f. (der gedruckten Ausgabe). ↩︎