OWEP 1/2013
Schwerpunkt:
Migrationsströme in Europa und ihre Folgen
Editorial
Etwas hölzern formulieren sozialwissenschaftliche Definitionen, unter Migration verstehe man „dauerhafte räumliche Bewegungen von Personen oder Personengruppen“. Doch was sich hinter dem eher theoretischen Migrationsbegriff verbirgt, das sind zahllose persönliche Geschichten und menschliche Schicksale. Da geht es ebenso um Erfahrungen von Not, Armut und Gewalt wie um Erwartungen und Hoffnungen auf Besseres, auf Neues. Und manchmal geht es auch um Enttäuschungen, ja um tragische Konsequenzen bei dem Versuch, anderswo eine neue Heimat zu finden …
Bevölkerungsbewegungen, Wanderungen oder Migrationen gab es zu allen Zeiten der Geschichte. Sie alle hatten ihre spezifischen Ursachen, ihre besonderen Herkunfts- und Zielorte. Die Globalisierung unserer Tage hat Migration zu einem geradezu omnipräsenten Phänomen werden lassen. Es ist üblich geworden, Menschen nach vorhandenen oder nicht vorhandenen „Migrationshintergründen“ einzugruppieren.
Die vorliegende OWEP-Ausgabe thematisiert vor allem jene Migrationen, die nach der Öffnung des so genannten „Eisernen Vorhangs“ 1989/90 in Europa in Gang kamen oder besondere Dynamik gewannen. Dabei sind sowohl Bewegungen über Grenzen wie auch Binnenmigrationen, legale und „irreguläre“ Wanderungen, es sind Emigrationen und Immigrationen, und es sind gravierende Migrationsfolgen sowie Integrationsprobleme im Blick. Analytische, historische oder auch normative Bemerkungen zu innereuropäischen Wanderungsbewegungen wechseln sich ab mit der Betrachtung regionaler Migrationsphänomene, auch solcher, die einzelne urbane Verdichtungsräume wie Berlin oder Sarajevo betreffen. Und schließlich werden einige bewegende persönliche Migrationserfahrungen geschildert.
Abschließend noch eine Bemerkung der Redaktion in eigener Sache: Ab dieser Ausgabe ziert jedes OWEP-Heft eine zum jeweiligen Schwerpunktthema passende Abbildung, eine – wie wir hoffen – schöne Abwechslung und optische Aufwertung unserer Titelseiten. „Variatio delectat!“
Die Redaktion
Kurzinfo
Sie leben mitten unter uns, oft betont unauffällig, und übernehmen doch häufig Aufgaben, die der so genannte „Normalbürger“ gerne anderen überlässt, beispielsweise Pflege- und Reinigungsdienste, vielfach unter erschwerten äußeren Bedingungen und schlecht bezahlt. Früher war in Deutschland der Begriff „Gastarbeiter“ verbreitet, eine ebenso beschönigende wie falsche Umschreibung der tatsächlichen Lebenssituation, denn wie „Gäste“ wurden diese fleißigen Zuwanderer selten behandelt, und – anders als Gäste – sind sie auch nicht für eine kurze Zeit geblieben, sondern leben hierzulande meist bereits in der dritten Generation.
Wovon ist also die Rede? Die Begriffe sind so diffus wie die Rechtslage der vorwiegend aus Mittel-, Ost- und Südosteuropa kommenden Menschen, die seit dem Wegfall des „Eisernen Vorhangs“ auf Arbeitssuche nach West- und Südeuropa, aber auch nach Übersee gehen, „migrieren“, und heute meist mit dem Begriff „Migranten“ bezeichnet werden. Das Phänomen „Migration“ ist wesentlich älter, denn schon im 16. und 17. Jahrhundert verließen in Europa viele Menschen aus unterschiedlichen Gründen ihre Heimat; Verfolgung aus religiösen Gründen, politische Unterdrückung oder aber auch Seuchen und Hungersnöte waren die Ursachen.
All das setzte sich bis in 20. Jahrhundert fort und entwickelte infolge des „Wirtschaftswunders“ nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland und anderen Ländern Westeuropas neue Formen, als der immer stärker steigende Arbeitskräftebedarf durch die bereits erwähnten „Gastarbeiter“ vorwiegend aus Südeuropa und der Türkei gedeckt werden musste. Speziell in Deutschland – aber nicht nur hier – leben inzwischen Millionen Mitbürger mit ausländischen Wurzeln, zu denen in wachsender Zahl weitere Zuwanderer vorwiegend aus dem östlichen Europa kommen, was zu vielfältigen Problemen, oft sogar Konflikten im Alltag führt. Unter dem Titel „Migrationsströme und ihre Folgen“ versucht das aktuelle Heft, möglichst viele Facetten der Thematik aufzuzeigen und auch Betroffene zu Wort kommen zu lassen.
Wichtig ist es, zunächst einmal die Fakten sprechen zu lassen, denn im Bereich „Migration“ herrscht vielfach Verwirrung und Unklarheit über Zahl und Rechtslage der betroffenen Menschen. Der einführende Beitrag von Prof. Dr. Jochen Oltmer, Vorstandsmitglied des Instituts für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) an der Universität Osnabrück, stellt die notwendigen Eckdaten vor. Darauf folgen zwei Beiträge, in deren Mittelpunkte Städte stehen, die seit jeher Ziel vieler Zuwanderer waren, Berlin und Sarajevo. Berlin hat sich, wie Prof. Dr. Eckart Stratenschulte, Leiter der Europäischen Akademie Berlin, andeutet, inzwischen vom „Ort der Hoffnung“ zum „Hafen der Frustration“ gewandelt. Über Sarajevo, in der frühen Neuzeit eine der bedeutendsten Stadt Südosteuropas, lässt sich nach der leidvollen jüngsten Vergangenheit ähnliches sagen. Zwei Autoren, Vater und Sohn, beschreiben das Schicksal ihrer Heimatstadt. Der Student Ivan Korić vermittelt einen historischen Überblick, der Schauspieler Davor Korić zeichnet auf dem Hintergrund der Familiengeschichte die Entwicklung der Stadt im 20. Jahrhundert nach.
Nach Osteuropa geht der Blick in den beiden folgenden Texten. Im Mittelpunkt des Beitrags von Prof. Dr. Pavel Polian, Zeithistoriker und Migrationsforscher aus Moskau, steht die Bevölkerungsentwicklung der Sowjetunion und ihrer Nachfolgerstaaten, die im vergangenen Jahrhundert großen Schwankungen unterworfen war. Millionen Sowjetbürger verließen teils freiwillig, teils unter Zwang ihrer Heimatdörfer und siedelten sich in den Ballungsräumen besonders um Moskau und Leningrad/Sankt Petersburg an. Im heutigen Russland zeichnen sich neue Migrationsströme ab. Einen völlig anderen Zugang zum Thema wählt Barbara Dreiling, Volontärin in der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit von Renovabis, mit ihren Ausführungen über die Folgen der Migration für Familien in der Ukraine. Anhand zweier Beispiele stellt sie die Situation von Familien vor, bei denen ein Elternteil im Ausland arbeitet, und skizziert Hilfsmaßnahmen für die Betroffenen, besonders seitens der Kirche. Damit ist ein wichtiges Stichwort gefallen: die Haltung der Kirche zum Problem der Migration. Ihr gilt der Beitrag von Dr. Andreas Fisch, Wirtschaftsethiker und Mitarbeiter der Kommende Dortmund, mit einem Überblick über die einschlägigen Aussagen von Papst Johannes XXIII. („Pacem in terris“, 1963) bis zu den Botschaften zum „Welttag der Migranten von Papst Johannes Paul II. 2001 und Papst Benedikt XVI. 2013. Der Autor analysiert weitere wichtige Stellungnahmen auf deutscher und internationaler Ebene und arbeitet heraus, inwieweit die Kirchen zur Verbesserung der rechtlichen Lage von Migranten beitragen.
Persönliche Zeugnisse von Betroffenen scheinen in den bisher beschriebenen Beiträgen des Heftes immer wieder auf. In der Rubrik „Erfahrungen“ schließen sich nun aber zwei sehr persönlich gehaltene Einschätzungen von Menschen an, die wohl nicht auf Dauer, aber doch für längere Zeit in einem fremden Land ihren Lebensmittelpunkt haben. Zu Wort kommen der aus Serbien stammende und in Deutschland lebende Student Pavle Aničić und der aus Deutschland stammende und in Polen lebende Journalist und Autor Uwe von Seltmann. Ähnlich und doch wieder anders ist die Erfahrung von Migranten in der Fremde, wenn sie literarisch verarbeitet wird. Dies geschieht im Essay „Der neue Mieter“ des serbischen Schriftstellers Bora Ćosić, der im sechzigsten Lebensjahr seine Heimat verließ und seit vielen Jahren in Berlin lebt.
Etwas außerhalb des Schwerpunkts und doch mit ihm verbunden steht das Interview, das Thomas Bremer mit Prälat Dr. Nikolaus Wyrwoll über das Ostkirchliche Institut Regensburg geführt hat. Diese Einrichtung hat in den vergangenen Jahrzehnten zahlreichen Studenten aus dem ostkirchlichen Raum zu fruchtbaren Kontakten zur westkirchlichen Tradition verholfen und ist damit zu einem wichtigen Brückenbauer zwischen Ost und West geworden.
Einige Literaturhinweise runden das Heft ab.
Ein Hinweis auf das nächste Heft: Im Mai 2013 wird Heft 2 erscheinen, das dem Schwerpunkt „Hafenstädte in Mittel- und Osteuropa“ gewidmet sein wird. Neben einem einführenden Beitrag zur Bedeutung von Hafenstädten für die Kultur- und Wirtschaftsgeschichte wird das Heft neun Hafenstädte vorstellen, darunter Riga, Triest, Odessa und Archangelsk.
Dr. Christof Dahm