Von der Utopie zur Realität. Positionen der Kirche zur Migration in Europa
Zusammenfassung
Ein Recht nicht nur auf Aus-, sondern Einwanderung ist als Utopie im Einklang mit katholischen Leitbildern, jedoch in der Umsetzung in dieser konkreten Welt höchst anfechtbar, auch aus sozialethischen Gründen. Ausgehend von der Europäischen Union als empirischem Exempel, wie zumindest regional und durchaus voraussetzungsvoll Freizügigkeit gewährt werden kann, werden anhand des Einsatzes der Kirche für irreguläre Migranten in Europa Möglichkeiten ausgelotet, die Geltung der Menschenrechte auf Menschen jenseits von EU-Angehörigen auszuweiten und gerechte Gründe für die Einwanderung von Flüchtlingen, Familienangehörigen und benötigten Arbeitskräften in die öffentliche Diskussion zu tragen.
Das Recht auf Einwanderung als Utopie
Johannes XXIII. erkannte im Jahr 1963 durch seine Enzyklika Pacem in terris (PT) die Menschenrechte an und gab damit einen entscheidenden Impuls für das Zweite Vatikanische Konzil. Verglichen mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (1948, Art. 13.2) findet sich im Bereich der Migrationspolitik jedoch eine entscheidende Abweichung. Während die Menschenrechtserklärung von einem Menschenrecht auf Auswanderung schreibt, postuliert Papst Johannes XXIII. zusätzlich ein Recht auf Einwanderung: „Ja, es muss [dem Menschen] auch erlaubt sein, sofern gerechte Gründe dazu raten, in andere Staaten auszuwandern und dort seinen Wohnsitz aufzuschlagen“ (PT, Nr. 12)1. Johannes Paul II. und Benedikt XVI. greifen seine Formulierung auf, immer begleitet von Hinweisen auf das Recht der Staaten, Migrationsströme zu lenken, und der Verpflichtung von Staaten, die Würde des Menschen zu achten (z. B. in den Botschaften zum Welttag des Migranten 2001 und 2013). Zu verstehen ist diese Abweichung nur vor dem Welt- und Menschenbild der katholischen Kirche. Wichtiger als die Staatsbürgerschaft ist für die Kirche die Mitgliedschaft in der Menschheitsfamilie. Durch ihren gemeinsamen Ursprung, ihre gemeinsame Berufung und ihre gleiche Würde sind sie zu Gemeinschaft, Solidarität und Gleichberechtigung bei der Nutzung der Erdengüter aufgerufen. Insofern steckt in dieser päpstlichen Sozialverkündigung eine Utopie, die eng mit dem Glauben an den Schöpfer dieser Einen Welt verbunden ist.
Gute Argumente für Staatsgrenzen in dieser Welt
Nun ist es nach der Katholischen Soziallehre Aufgabe der Christen vor Ort, die päpstlichen Orientierungen für ihr jeweiliges Land in den gegebenen Umständen zu konkretisieren. Bei der Prüfung des Rechts auf Einwanderung kommen Sozialethiker jedoch überwiegend zu einem ablehnenden Urteil. Erwägt man die praktischen Folgen, so liegen entscheidende Güter auf der anderen Waagschale. Ein allgemeines Recht auf Einwanderung würde de facto die Bedeutung von Staatsgrenzen auflösen und damit auch die in ihnen geschützten öffentlichen Güter gefährden; dazu gehören demokratische Partizipation, sozialstaatliche Leistungen, die Realisierung einer eigenen Rechts- und Gesellschaftsordnung und die Durchsetzung der Menschenrechte. Letztere werden nämlich erst dann rechtsfähig, wenn Staaten sie in diesem oder jenem Umfang als in ihren Grenzen für rechtsverbindlich anerkennen. Damit entstammt das für einen Sozialethiker triftigste Argument gegen ein Recht auf Einwanderung menschenrechtlichen Überlegungen: Das „Konzept einer moralischen Arbeitsteilung“ (R. E. Goodin) rechtfertigt eine nationalstaatliche, also partikulare Zuordnung von Verantwortungsbereichen im Rahmen globaler Solidarität, und zwar dann, wenn diese Zuordnung Menschenrechte effektiver verwirklicht als eine Welt frei von Staatsgrenzen. In diesem Konzept werden Spezialisierung und Arbeitsteilung, ein besserer Zugang zu Informationen und die faktische Durchsetzungsfähigkeit in Macht- und Einflusssphären berücksichtigt und auf das Ziel realisierter Menschenrechte hin gewichtet. Folgerichtig wenden sich diese Überlegungen gegen ein Recht auf Einwanderung genauso wie gegen eine bedingungslose Legalisierung von irregulär Eingewanderten und sich irregulär aufhaltenden Personen, die bezeichnenderweise so noch nie durchgeführt wurde.
Während die päpstliche Sozialverkündigung als allgemeine Orientierung utopisch abstrahieren darf und ein Ziel am Horizont entwirft, bleibt die christliche Sozialethik verpflichtet, die konkreten Umstände für eine Umsetzung hier und jetzt zu berücksichtigen. Angesichts der gegenwärtigen weltweiten Unterschiede bei den Lebensverhältnissen muss ohne Übertreibung angenommen werden, ein Recht auf Einwanderung würde Staaten die Fähigkeit rauben, ihre Ordnung aufrecht zu erhalten, und dadurch die effektive Verwirklichung von Menschenrechten gefährden.
Europa als teilweise Verwirklichung dieser Utopie
Ist ein Recht auf Einwanderung angesichts der realen Gegebenheiten dieser Welt schlichtweg nicht praktizierbar? Wer auf diese Frage vielleicht sogar spöttisch mit „Ja“ antwortet und alle anderen Positionen als naiv herabsetzt, der übersieht Entwicklungen, die als regionale Verwirklichung einer solchen Utopie verstanden werden müssen. Ich denke an die wachsende Einheit Europas in der Europäischen Union (EU). Hier ist für die Mitgliedsstaaten der EU tatsächlich die trennende Wirkung von Grenzen durch eine allgemeine Freizügigkeit ersetzt worden. Die EU-Osterweiterungen auf 25 bzw. 27 Länder 2004 bzw. 2007 waren auch (versteckte) aufenthaltsrechtliche Legalisierungen für alle sich irregulär aufhaltenden Personen aus den aufgenommenen Ländern Mittel-, Ost- und Südosteuropas. Institutionell wurde ein Verbund von Ländern mit zahlreichen Angleichungen gefunden, der subsidiär souveräne Staaten erhält (und unterstützt) und der unterschiedliche Rechts- und Ordnungsvorstellungen nebeneinander aufrecht erhält. Mit der Freizügigkeit als Recht auf Einwanderung ist die päpstliche Utopie in diesem begrenzten Rahmen verwirklicht, und zwar ohne die oben genannten gravierenden Auswirkungen. Die historischen Vorbehalte zuerst gegenüber den Südländern und später gegenüber den osteuropäischen Ländern wurden spätestens dann überwunden, als Fakten belegten, dass der mit viel Dramatik vorhergesagte große Zustrom an Zuwanderung sich in Grenzen hält. Nach den Zahlen des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 1. November 2012 liegt der Saldo des Zuzugs nach Deutschland aus den osteuropäischen Ländern (nach Wegfall der Übergangsregelungen zum 1. Mai 2011) zwischen 6.000 und 12.000 Zuwandernden pro Monat; allerdings müssten die Folgen der politischen Entscheidung, die wirtschaftlich schwächeren Länder Bulgarien und Rumänien aufzunehmen, genauer untersucht werden. Die prophezeite kulturelle Überfremdung jedenfalls blieb schlichtweg aus; gegenwärtig richten sich ähnliche Vorbehalte eher gegen die Aufnahme der Türkei.
Selbstverständlich ist der Schritt zur Verwirklichung einer solchen Einheit nur bei wirtschaftlich und politisch relativ homogenen Staaten möglich gewesen. Die Einwände aus der sozialethischen Diskussion behalten ihre Bedeutung unverändert bei, betrachtet man die aktuelle Bewährungsprobe für die EU und den Euro, und erst recht, wenn man sie auf einen weltweiten Kontext ausspannt, der ja auch dem Horizont der Utopie von Johannes XXIII. entspricht. Eine schrittweise Realisierung dieser Utopie liegt folglich auch darin, unter anderem durch Entwicklungszusammenarbeit einen gerechten Welthandel und mit Maßnahmen gegen Diktaturen die Voraussetzungen für eine solche Angleichung zu schaffen. Eine weltweite Angleichung der Lebensverhältnisse würde zudem ein noch vornehmeres Recht verwirklichen, nämlich das Recht, nicht aufgrund von Zwängen aus seiner Heimat auswandern zu müssen, sondern in seiner angestammten Heimat leben zu können. Die EU zeigt, dass eine schrittweise Umsetzung dieser Utopie möglich ist, aber gleichwohl Solidarität, Anpassungsleistungen und Verständigung über geteilte Werte als Voraussetzungen braucht. Doch wie entwickeln sich gemeinsame Werte dieser Art in der heute gegebenen EU jenseits der bürokratischen und institutionellen Anpassungen?
Geteilte Werte im Experiment Europäische Union
Nüchtern und in Anlehnung an Ernst-Wolfgang Böckenförde muss man allen Versuchungen, eine substanzielle normative Verankerung zur Grundlage zu machen, als illiberal und inkompatibel mit der Vielfalt Europas kennzeichnen, vor allem, wenn diese kulturelle Einheit „von oben“ verordnet werden soll. Im Einklang mit dem Philosophen Jürgen Habermas postuliert der Politikwissenschaftler Jan-Werner Müller daher einen Verfassungspatriotismus, der nicht auf eine geschriebene Verfassung, sondern auf universalistische liberal-demokratische Prinzipien rekurriert. Deren Lebendigkeit hängt allerdings von der gepflegten Verfassungskultur ab. Die EU bleibt als ein noch längst nicht abgeschlossenes transnationales Projekt darauf angewiesen, sich über gemeinsame Werte und deren Interpretationen stets neu zu verständigen, und zwar auf zivilisierte Weise und über weltanschauliche Grenzen hinweg. Dieses Verfahren sieht Habermas auch für Menschenrechte, Rechtsstaat und Demokratie als angemessen an, weil diese universalistischen Prinzipien immer in kritischer Auseinandersetzung konkretisiert werden müssen. Nur so kommt es, dass eine in den USA undenkbare Einschränkung der Meinungsfreiheit in Deutschland aufgrund der eigenen Geschichte durchaus legitim sein kann: die Strafbarkeit der Leugnung der Shoa.
Ein solcher Ansatz verbindet Liberalität mit der Notwendigkeit einer lebendigen Zivilgesellschaft, die neue Herausforderungen vor dem Hintergrund von Menschenrechten, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie öffentlich interpretiert und damit einen Raum für kirchliches Wirken schafft, und sei es als „schöpferische Minderheit“ (Joseph Ratzinger). Engagierte Verbände, Religionen und andere Weltanschauungen werden als gesellschaftliche Gruppen dringend benötigt, um die Zustimmung zu Menschenrechten, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit immer neu – und zwar freiwillig und aus Überzeugung! – hervorzubringen. Auch in den nachkommenden Generationen ist die Annahme dieser Ideale keine Selbstverständlichkeit, sondern braucht die Auseinandersetzung, den öffentlichen Streit, und bleibt dadurch dynamisch, um Positionen revidieren und neue Bewertungen vornehmen zu können. Folgerichtig braucht es eine Öffentlichkeit für einen europäischen und länderspezifischen Diskurs, dessen Ergebnisse manchmal auf europäischer Ebene umgesetzt, manchmal in den einzelnen Mitgliedstaaten implementiert werden müssen.
Illegale und verhinderte legale Migration nach Europa
Ein Beispiel für eine neue Interpretation der Menschenrechte möchte ich aufzeigen, nämlich den Einsatz der Kirche in Europa und in Deutschland (und anderen Ländern) für die Sans Papiers, Illegalen, Irregulären, Undocumented Persons, Clandestinos, Statuslosen usw., wie sie in den verschiedenen Ländern der EU genannt werden (die Begriffe verwende ich im Folgenden synonym). Es ist dies ein Beispiel für eine Auseinandersetzung um die Auslegung der Menschenrechte und ihren Geltungsbereich angesichts von staatlichen Grenzen.
Aufenthaltsrechtliche Illegalität betrifft die europäischen Länder und die Gesamtheit der EU schon lange als gemeinsames Thema, auch wenn es in unterschiedlichen Ländern mit anderen Ausprägungen in Erscheinung tritt. So waren nacheinander Spanien, Italien und heute Griechenland Ankunfts- und Transitländer von irregulär Zuwandernden; wenig später jedoch arbeiteten dort (bis zur Finanz- und Wirtschaftskrise) ungezählte illegale Migranten in der Landwirtschaft. Die osteuropäischen Länder waren vor ihrer Aufnahme in die EU vor allem Herkunftsländer irregulärer Migranten und zugleich Ankunftsländer für Migrantinnen aus weiter östlich liegenden Ländern in so genannten Pflegeketten. Daraus ergibt sich ein buntes und überaus komplexes Mosaik an Ursachen und Wechselwirkungen. Das Bild reicht von dramatischen Fällen zerrissener Familien bis zur humanen Pflege von Familienangehörigen in den Ankunftsstaaten, vom heimlichen Decken des einheimischen Arbeitskräftebedarfs bis zu ruinösen Verzerrungen im Wettbewerb, von Visa-Overstayern bis zu untergetauchten Flüchtlingen im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention und vielen weiteren Mosaiksteinchen. Die Herausforderung durch Sans Papiers stellt sich als gesamteuropäische Herausforderung dar, die gleichzeitig in den einzelnen Ländern völlig unterschiedliche Charakteristika aufweist und immer mit der Frage verbunden bleibt, welche Geltung Menschenrechte in diesen konkreten Fällen beanspruchen können und welche „gerechten Gründe“ für eine legale Zuwanderung politisch anerkannt werden sollten.
Der Einsatz der Kirchen für Sans Papiers
Im Folgenden zeichne ich den Einsatz der katholischen Kirche in Deutschland für „Statuslose“ nach. Zunächst müssen Christen sich verbergende „Statuslose“ überhaupt entdecken, um sie als gesellschaftliche, europäische und vor allem ethische Herausforderung zu identifizieren. Das Gespür für die ethische Dringlichkeit dieser Problematik verdankt Caritas Europa zunächst der spanischen Caritas, die durch die spanischen Enklaven Ceuta und Melilla an der afrikanischen Küste sowie durch Anlaufstellen der Caritas in Südspanien bereits intensiv in die Arbeit mit „Clandestinos“ involviert war. Die europäische Konsultation der Caritas trug diese Erfahrungen auch nach Deutschland. Dort wiederum begegnete die Kirche „Statuslosen“ bei pastoralen Anlässen wie Taufe und Hochzeit oder bei der Gewährung von Kirchenasyl. In ihrer Bera-tungstätigkeit wurden Diakonie, Caritas und Ärzte mit den gesund-heitlichen und sozialen Problemen „Statusloser“ konfrontiert. In Berlin wurden heimlich Kontakte zu „Statuslosen“ aufgenommen – das Thema „Menschen in aufenthaltsrechtlicher Illegalität“ war von Anfang an „heiß“. Der frühere Berliner Erzbischof, Georg Kardinal Sterzinsky, brach 1993 als erste Person des öffentlichen Lebens und als erster kirchlicher Würdenträger in Deutschland das Tabu des öffentlichen Redens über „Statuslose“.
1994 lud der Päpstliche Rat für die Seelsorge der Migranten und Menschen unterwegs zu einer europäischen Tagung ein, der Würdenträger aus dem Vatikan aufmerksam folgten. Die Einsichten der kirchlichen Akteure flossen in diese Tagung ein, verwirbelten sich mit den Kenntnissen von Fachleuten aus ganz Europa und mündeten in ein gemeinsames Schlussdokument „Einwanderer ohne Aufenthaltsstatus in Europa“. Motivierenden und aufrüttelnden Hintergrund für diesen Einsatz bildeten die kontinuierlichen Äußerungen Papst Johannes Paul II. zum Thema Migration; ein Höhepunkt ist seine ausführliche Besprechung des Themas zum „Welttag der Migranten 1995“ gewesen. Um die gesammelten Erkenntnisse wissenschaftlich zu untermauern und damit Gehör bei der bislang tauben Politik zu finden, gab der Jesuiten-Flüchtlingsdienst (Europa) 1996 drei Feldstudien in Europa in Auftrag, nämlich in Großbritannien, Spanien und Deutschland.
Dann war nach fast 10 Jahren intensiver Beschäftigung 2001 der Zeitpunkt gekommen, sich mit einem offiziellen Impulspapier an die Öffentlichkeit zu wenden und eine breite Diskussion anzuregen: „Leben in der Illegalität – eine humanitäre und pastorale Herausforderung“ der Kommission für Migrationsfragen der Deutschen Bischöfe. Der in Wissenschaft, Politik und Gesellschaft angestoßene Diskurs wurde konsequent fortgeführt in der Gründung des „Katholischen Forums Leben in der Illegalität“ im Sommer 2004. Doch die Vorbehalte der Politiker, dies sei das Steckenpferd einiger Bischöfe und Ordensleute, aber kein relevantes Thema im wahlberechtigten (Kirchen-)Volk, verhinderten weiterhin eine ernsthafte Befassung in der Bundespolitik. Daraufhin griffen Laienorganisationen wie das Zentralkomitee der deutschen Katholiken und Diözesanräte das Thema auf. Die katholischen Jugendverbände in Deutschland positionierten sich in dem einstimmigen Beschluss „Kinderrechte für Kinder und Jugendliche ohne Aufenthaltsrecht“ auf der BDKJ-Hauptversammlung 2006.
Welche Erfolge sind diesen kirchlichen Initiativen beschieden? Praktisch verwirklicht sich die Unterstützung für „Statuslose“ beispielsweise durch das Projekt für legale Haushaltshilfen des Caritas-Verbands Paderborn mit der Caritas in der polnischen Stadt Grudziądz/Graudenz, der MalteserMigrantenMedizin und in anderen Initiativen. Doch neben diesen Nothilfen ist das eigentliche Ziel eine Veränderung der menschenrechtlich bedenklichen Gesetzeslage. In Deutschland ist es vor allem die Übermittlungspflicht für öffentliche Stellen, die den formell gewährten Zugang zu einer minimalen Notfallmedizin, das Einklagen von Lohnansprüchen und anderen Menschenrechten de facto verhindert. Ihre Abschaffung ist ein erklärtes Ziel.
Nachdem in den Diskussionen um das neue Zuwanderungsgesetz die kirchlichen Impulse aus polit-strategischen Gründen zurückgewiesen wurden (2002) und der Prüfbericht im Koalitionsvertrag von CDU/CSU/SPD 2005 zu einem niederschmetternden Ergebnis kam (2007), ist es umso erfreulicher, dass im November 2009 die ersten Früchte dieser Mühen geerntet werden konnten. Eine Allgemeine Verwaltungsvorschrift erklärte die Übermittlungspflicht im Bereich Gesundheit für nichtig und schrieb die Straffreiheit humanitärer Hilfe endlich fest. Auch der Vorbehalt zur UN-Kinderrechtskonvention, der zu Ungerechtigkeiten im Asylverfahren führte und einer der Gründe für das Abtauchen von minderjährigen Flüchtlingen in die Illegalität war, wurde im Juli 2010 aufgehoben, ebenso im September 2011 die Übermittlungspflicht für Schulen und Kindergärten.
Fazit
Mittels aufwändiger Überzeugungsarbeit durch die Kirchen und andere gesellschaftliche Gruppen ist es gelungen, politisch eine substanzielle Verbesserung für irreguläre Migranten zu erwirken. So ist es erreicht worden, in der Interpretation der Menschenrechte und ihrer Reichweite diese auch für Menschen ohne Aufenthaltsstatus und ohne Duldung überzeugend zu begründen. Dem Charakter einer Vielfalt von Ländern geschuldet gab es anders vorgehende Kampagnen in Spanien, der Schweiz, Frankreich usw. Ein Wandel der Einstellungen von Menschen müsste empirisch untersucht werden; die Berichterstattung der Medien jedenfalls wandelte sich von ignorant zu sachlich bis mitfühlend, betrachtet man die hochgelobten neuesten Filmproduktionen „Le Havre“ (2011) und „Mama illegal“ (2012). Der politische Einsatz geht jedoch weiter, nicht nur weil die empirische Evaluation der Folgen der Reformen in Deutschland naturgemäß einige Jahre braucht, sondern auch weil die – in Europa einzigartige und niemals kopierte! – Übermittlungspflicht für „Statuslose“ in Deutschland weiterhin beim Standesamt, also bei der Beantragung einer Geburtsurkunde, gilt, und genauso, wenn „Statuslose“ bei der Polizei vorstellig werden, um Gewaltakte wie z. B. Sexualdelikte anzuzeigen; Anzeigen unterbleiben daher, um nicht selber aufgegriffen zu werden. Ist der Zugang zu diesen Menschenrechten auf nationaler Ebene zu verorten, so liegen einige der identifizierten Ursachen für irreguläre Migration und irregulären Aufenthalt auf europäischer Ebene: im verwässerten Flüchtlingsschutz, in der mit vielen Hürden versehenen Familienzusammenführung und vor allem in der Verhinderung einer gesteuerten Zuwanderung von benötigten Arbeitskräften. Hier ist unter anderem die Kommission der Bischofskonferenzen der Europäischen Gemeinschaft (COMECE) seit Jahren als Lobbyist mit Stellungnahmen in Brüssel tätig, hat aber noch nie einen koordinierten Schritt in die europäische Öffentlichkeit zur Meinungsbildung unternommen. In diesen Politikbereichen gilt es, gerechte Gründe darzulegen, wie Länder fair mit Zugewanderten umgehen können, wie die „Festung Europa“ Eckpfeiler für weltweite Mobilität gestaltet und wie weit die Solidarität mit Menschen außerhalb der eigenen Landesgrenzen reicht. Dabei ist gleichzeitig so behutsam mit fragilen Gemeinwesen umzugehen, dass Bevölkerungen die ethischen Ansprüche aus eigener Überzeugung mittragen und die gesellschaftlichen Strukturen und Systeme stabil bleiben. Dann wird sowohl der Utopie einer Menschheitsfamilie als auch der Realpolitik in dieser Welt Rechnung getragen.
Fußnote:
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Text in deutscher Sprache: http://www.vatican.va/holy_father/john_xxiii/encyclicals/documents/hf_j-xxiii_enc_11041963_pacem_ge.html, Nr. 12 bzw. Nr. 25 in „Texte zur Katholischen Soziallehre“. ↩︎