Unabhängige zivilgesellschaftliche Organisationen in Russland

Zusammenarbeit in schwierigen Zeiten
aus OWEP 2/2005  •  von Elisabeth Weber

Dr. Elisabeth Weber war von 1984 bis 2003 Wissenschaftliche Mitarbeiterin der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen und ist in vielen Bereichen der deutsch-russischen und der deutsch-polnischen Zusammenarbeit engagiert.

„Im Zentrum der neueren Diskussion über ‚Zivilgesellschaft‘ steht der Raum gesellschaftlicher Selbstorganisation zwischen Staat, Markt und Privatsphäre, ein Bereich der Vereine, Zirkel, Netzwerke und Non-Governmental Organizations (NGOs), von dem angenommen und erwartet wird, dass er ein Raum öffentlicher Diskussion, Konflikte und Verständigung, eine Sphäre der Selbständigkeit von Individuen und Gruppen, ein Bereich der Dynamik und Innovation und ein Ort der Anstrengung für das Gemeinwohl sein kann ...“ (Jürgen Kocka, in: Europäische Zivilgesellschaft in Ost und West. Frankfurt am Main, New York 2000, S. 21).

I.

In Deutschland gibt es verschiedene Bilder und Vorstellungen von Russland, die sich nicht zu einem Gesamtbild fügen: Die große russische Literatur, die Musik und die Filme. Daneben die Erzählungen aus den Familien von Krieg, Kriegsgefangenschaft und Begegnungen mit den Soldaten der Roten Armee, dann in der DDR den Soldaten der Sowjetischen Streitkräfte. Weiterhin Bilder der wunderbaren Landschaft und die Begegnung mit der Gastfreundschaft einfacher Menschen, gewonnen aus eigenen Reiseerfahrungen oder aus den großen Fernsehfilmen, besonders von Gerd Ruge und Klaus Bednarz. Ganz unabhängig davon sind die meist sehr kurzen und nicht zu tieferem Kennenlernen führenden Begegnungen mit Menschen aus Russland, die in Deutschland leben. Und wieder unabhängig davon die Politik: Putin, der Krieg in Tschetschenien, die Gleichschaltung des staatlichen Fernsehens in Russland – nicht sehr vertrauenerweckend. Dass es in Russland eine kleine, aber wachsende und aktive Zivilgesellschaft gibt, ist jedoch in Deutschland zu wenig bekannt. Ich freue mich über die Gelegenheit, etwas darüber berichten zu können.

II.

Beginnen will ich mit der Erzählung des Weges, wie ich Menschen und dann auch Organisationen der russischen Zivilgesellschaft kennen gelernt habe. Entscheidend war für mich die Begegnung und dann Freundschaft mit Raissa Orlowa, die 1982 zu mir in den Deutschunterricht an der Universität Köln kam, und dann auch mit ihrem Mann, Lew Kopelew. Beide kämpften mit Leidenschaft gegen das damals weit verbreitete Bild, dass in der Sowjetunion ein Volk von Sklaven leben würde. Beide erzählten eindringlich und leidenschaftlich von ihren Moskauer Freunden, von den Küchen-Gesprächskreisen, den „Zirkelchen“, wie Raissa Orlowa sie nannte. Sie berichten in ihren Büchern über die Stimmung von Aufbruch und Hoffnung, die sich in Moskau nach dem 20. Parteitag der KPdSU 1956 und der Auseinandersetzung mit den Verbrechen Stalins entwickelte. Sie erzählen von den ersten Begegnungen mit Heinrich Böll und anderen Besuchern aus dem Westen. Sie berichten von der grossen Bedeutung der Veröffentlichung von Solschenizyns Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch, 1962, in dem erstmals unverfälscht für ein breiteres Publikum über das Leben im GULAG berichtet wurde. Lew Kopelew und Raissa Orlowa berichten auch, wie Breschnew das Land mit einer Welle von Repressionen neu zu fesseln versuchte, viele Gesprächsfäden aber trotzdem nicht mehr abrissen. In Deutschland wird dieser widerständige Geist oft auf die kleine Zahl der Dissidenten reduziert. Diese waren aber lediglich der mutigste Teil einer Schicht von Menschen, die sich nicht mehr einschüchtern ließen. Besonders Raissa erzählte immer von der Arbeit der Lehrerinnen und Bibliothekarinnen, die unauffällig, doch unermüdlich versuchten, den Geist des freien Denkens an einige Schüler oder Bibliotheksbesucher weiter zu geben. Ohne diese Erfahrung hätten die Ziele von Glasnost und Perestrojka kein solches gesellschaftliches Echo gefunden.

Angeregt von den vielen Gesprächen und Erzählungen fuhr ich im Dezember 1988 zusammen mit Susanne Nies, einer viel jüngeren Freundin, die ich aus der kurz vorher gegründeten Heinrich-Böll-Stiftung kannte, zum ersten Mal nach Moskau. Wir hatten einige Kontaktadressen gesammelt, und Raissa Orlowa hatte mir einige Personen genannt, die ich unbedingt treffen sollte. Ihre Tochter Swetlana half uns, die Gespräche zu organisieren. In einer knappen Woche lernten wir eine Stadt im Umbruch kennen. Wir trafen sehr konspirativ Vertreter der 1978 gegründeten „Freien Interprofessionellen Vereinigung der Werktätigen“ (SMOT), einer im Untergrund arbeitenden gewerkschaftlichen Organisation. Wir besuchten Natan Ejdelman, einen faszinierenden Historiker, der uns die neu beginnenden Debatten über die Oktober-Revolution erklärte, trafen Katja Genieva und andere von einer Gesellschaft zur kulturellen Wiedergeburt, wir sprachen mit Vertretern der „Vertrauensgruppel“, einer unabhängigen Friedensgruppe, trafen Vertreter sich neu gründender Parteien, vor allem aber redeten wir einen langen Abend mit Arsenij Roginskij von der Gesellschaft „Memorial“ und besuchten am nächsten Tag ihr winziges Büro. „Memorial“1 war für mich die beeindruckendste Organisation, die in ihren Mitgliedern die Brücke der Generationen verwirklichte: von Andrej Sacharow, Atomphysiker aus der Stalin-Zeit und späterer Menschenrechtler, über Arsenij Roginskij, Historiker und Vertreter der mittleren Generation, bis zu Lena Schemkowa, einer jungen Frau, die in den achtziger Jahren angefangen hatte, Biographien von Opfern des Stalinismus zu erfragen. In diesen Gesprächen lernten wir Vertreter einer sich neu herausbildenden, eigenständigen Zivilgesellschaft in Russland kennen. Für uns war es der überwältigende Eindruck einer plötzlich aus dem Dunkel des Verbots und des verordneten Schweigens aufbrechenden Bewegung, von deren Kraft wir vorher keinerlei Vorstellung hatten.

III.

In den Umbruchsjahren 1988-1993 hatten diese „informellen Gruppen“, wie sie damals genannt wurden, vor allem in Moskau große politische und organisatorische Bedeutung. Höhepunkt waren die Demonstrationen 1991 gegen den Putsch zur Entmachtung Gorbatschows. In den neunziger Jahren nahm die große Bedeutung zivilgesellschaftlicher Organisationen jedoch wieder ab. Der „Dschungel“ der Jelzin-Zeit führte zu sichtbarem Reichtum weniger und zu spürbarer Armut vieler, die auf die Tiefe des Umbruchs nicht vorbereitet waren. Da dieser Umbruch oft mit dem Etikett „Demokratie“ versehen war, führten die Erfahrungen, dass das Leben schwerer wurde, oft zu einer schleichenden Diskreditierung des Wortes „Demokratie“. Besondere Einschnitte waren die Beschießung des russischen Parlaments 1993 und der Beginn des ersten Tschetschenien-Krieges. Manche Organisationen lösten sich auf, andere gründeten sich neu, wieder andere konsolidierten sich. In der ersten Jelzin-Zeit gab es eine Reihe von staatlichen Gremien, in die wichtige Personen der Dissidenz und der unabhängigen zivilgesellschaftlichen Organisationen berufen wurden. So wurde Sergej Kowaljow Menschenrechtsbeauftragter der Russischen Föderation, Anatoli Pristawkin Vorsitzender der Begnadigungskommission. In der zweiten Hälfte der neunziger Jahre wurden diese Kontakte dünner. Kowaljow legte sein Amt aus Protest gegen den ersten Tschetschenien-Krieg nieder. Dennoch gab es in dieser Zeit viel Freiraum für die Herausbildung unabhängiger Organisationen.

Einige davon sind inzwischen auch in Deutschland bekannt: die Baikalwelle, die Soldatenmütter, das Helsinki-Komitee oder „Memorial“. Zwei davon seien exemplarisch vorgestellt.

Komitee „Migration und Recht“

1990 wurde in Moskau das Komitee „Bürgerbeteiligung“ gegründet, das sich vor allem auf Beratung und humanitäre Hilfe für Flüchtlinge und Migranten konzentrierte, die aus Teilen der auseinanderbrechenden Sowjetunion nach Moskau flüchteten. Konkrete Hilfe bedeutete beispielsweise zweierlei: Das Komitee organisierte Schulunterricht für Kinder von Flüchtlingen, denen der Schulbesuch in Moskau durch schikanöse Meldebestimmungen unmöglich gemacht wurde. Gleichzeitig klagte das Komitee gegen diese Bestimmungen und gewann den Prozess. Später wurde zusätzlich das Komitee „Migration und Recht“ gegründet, das Hilfe für Flüchtlinge auch außerhalb von Moskau anbietet. Das Netzwerk arbeitet inzwischen in 57 Städten Russlands, davon in fünf Städten in Tschetschenien und in Inguschetien. Die Rechtsberatung für Flüchtlinge aus dem Kriegsgebiet bezieht sich beispielsweise auf Schwierigkeiten bei der Registrierung, auf das Ausbleiben der Rentenzahlung und auf Hilfe bei Prozessen, in denen die Polizei mit gefälschten Beweisen arbeitete.

Als Vertreterin des Komitees besuchte Swetlana Gannuschkina mehrfach Deutschland, um dort über die Situation der innerrussischen Flüchtlinge zu informieren. Sie ist heute Mitglied des von Präsident Putin einberufenen „Rates für Menschenrechte“ und versucht, auch auf dieser Ebene die Lage der Flüchtlinge in Russland zu verbessern.

Gesellschaft für atomare Sicherheit

Diese Bewegung ist ein 1989 gegründetes Netzwerk ökologisch arbeitender Organisationen, die im Ural und in Sibirien Beratung und Aufklärung über die Gefährdung vieler Menschen durch die atomare Rüstungsindustrie leisten. Ihr Hauptsitz liegt im Gebiet Tscheljabinsk, in dem über 200.000 Menschen in der Atomindustrie arbeiten. 1957 explodierte in diesem Gebiet ein Tank mit flüssigen radioaktiven Abfällen, eine Katastrophe, über die erst in den späten achtziger Jahren offen diskutiert und geforscht werden konnte.

Die großen, russlandweit arbeitenden Organisationen haben sich inzwischen zu einer Art Diskussions- und Koordinierungsforum zusammen geschlossen, der „Narodnaja Assambleja“ („Volksversammlung“), tauschen ihre Erfahrungen aus und beraten über weiteres Vorgehen. Daneben gibt es eine Fülle kleiner Initiativen in einzelnen Orten. Alexander Daniel schätzt die Zahl stabiler Organisationen auf 20.000 bis 30.000. Ihre Aufgabenfelder sind in der Regel Rechtsberatung, soziale Hilfe und Hilfe beim Umgang mit den Behörden.

Meine Beispiele bieten nur kurze Ausschnitte, und ich habe bewusst Beispiele von aktiven Menschen erwähnt, die wir nach Köln eingeladen haben, um zu zeigen, wie interessant solche Einladungen und Gespräche sind und wieviel wir dadurch über die Zivilgesellschaft in Russland erfahren konnten. Erwähnen könnte man etwa auch feministische Organisationen, Organisationen für Pressefreiheit, für Verbraucherschutz, große Umweltschutzorganisationen, eine Internet-Zeitschrift zur Parlamentsbeobachtung. Allen diesen Organisationen ist gemeinsam ein Geist von Selbstverantwortung, von sozialem und demokratischem Engagement, der dazu berechtigt, von einer lebendigen Zivilgesellschaft im heutigen Russland zu sprechen.

IV.

Mit dem Amtsantritt von Putin und besonders seit seiner Wiederwahl im März 2004 geht die Jelzin-Ära der vergleichsweise regellosen System-Änderung zu Ende. In nahezu allen Bereichen sind die Ergebnisse widersprüchlich. Kremlabhängige Staatsunternehmen stehen neben eigenständigen Privatunternehmen, Zusammenarbeit mit den USA und mit der EU stehen neben dem Versuch, das GUS-Imperium wiederzubeleben. Auf der Ebene der Zivilgesellschaft heißt das: Auf der einen Seite gibt es die staatstreuen Organisationen, die postsowjetische „Gesellschaft als staatliche Veranstaltung“, die wir unter westlichen Kriterien wegen der fehlenden Unabhängigkeit eher nicht als Zivilgesellschaft bezeichnen würden. Auf der anderen Seite gibt es die von mir vorgestellten unabhängigen zivilgesellschaftlichen Vereinigungen. Putin versucht, mit dem Konzept der „gelenkten Demokratie“, die Veränderungsprozesse „einzufangen”. Mit der Verhaftung von Chodorkowski wird ein Oligarch, der zu unabhängig wurde, auf brutalste Art auf die realen Machtverhältnisse gestoßen. Die sehr selbstständig gewordenen Gouverneure sollen gemaßregelt werden. Ob dieser Prozess im Sinne Putins ausgeht, ist meiner Ansicht nach noch nicht entschieden.

Auch für die Arbeit der unabhängigen zivilgesellschaftlichen Organisationen verändern sich die Rahmenbedingungen. Einerseits versucht die Kreml-Administration, die unabhängigen Organisationen einzubinden, stärker zu kontrollieren und in die „Vertikale der Macht“ einzugliedern. Instrumente dieser Kontrolle und teilweise auch der Einschüchterung sind vor allem die Steuergesetze, die hohe Steuern auf Fördergelder verlangen und außerordentlich arbeitsaufwändige Registrierungsverfahren vorsehen. Zu nennen sind aber auch undurchsichtige Mieterhöhungen für die Büroräume und sogar gewaltsame Übergriffe auf einzelne Personen. Mit Igor Sutjagin und Valentin Danilow wurden zwei russische Wissenschaftler, die Informationen über ökologische Schäden weitergaben, wegen „Geheimnisverrats“ zu langjährigen Gefängnisstrafen verurteilt. Ein Raum der Rechtsfreiheit ist vorhanden, den wir mit großer Aufmerksamkeit beobachten und anprangern müssen. Andererseits aber wird deutlich, dass sowohl die zentralen als auch viele föderative und kommunale Machtorgane in Russland die Arbeit der unabhängigen Organisationen brauchen. Die zunehmenden Proteste gegen Einschnitte in der Sozialgesetzgebung zeigen, wie schnell die Zustimmung zu Putin kippen kann. Den zivilgesellschaftlichen Organisationen kommt dadurch die Rolle zu, wichtige Forderungen vieler Menschen auszudrücken; sie werden zu gesellschaftlichen Akteuren, mit denen die Machthabenden das Gespräch suchen.

Deutlich zeichnet sich dieser Widerspruch zwischen einerseits Kontrolle/Einbindung und andererseits Gebraucht-Werden an der Geschichte des „Bürgerforums“ ab. Die Idee eines solchen Treffens entwickelten Kreml-Experten, die eine Show-Veranstaltung unpolitischer oder kremltreuer Organisationen planten, um diese als authentisches Treffen der Zivilgesellschaft und als Beweis für deren Übereinstimmung mit der Politik des Kreml ausgeben zu können. Durch die Mitarbeit unabhängiger Organisationen wurde dieses kremlhörige Konzept zu einem offenen Treffen von 4.000 Mitgliedern verschiedenster Organisationen im Kreml verändert. So entstanden etwa Bündnisse politischer und unpolitischer Organisationen. Eine Reihe von Arbeitsgruppen zu Themen wie Ziviler Ersatzdienst, Schule und Bildung und sogar Tschetschenien wurden gebildet, an denen Vertreter von Ministerien und Vertreter zivilgesellschaftlicher Organisationen teilnahmen. Inzwischen ist die Tätigkeit dieser Arbeitsgruppen mit Ausnahme derjenigen zum Thema Bildung/Schule ergebnislos abgebrochen worden.

Der Prozess der Herausbildung einer Zivilgesellschaft und der zwiespältigen Reaktion des Kreml darauf geht weiter. Seine Wege sind jedoch verworren, die Reaktionen des Kremls zwiespältig. Ich halte es durchaus für möglich, dass Menschen aus der Zivilgesellschaft schikaniert, angeklagt oder sogar unter dem Vorwand verhaftet werden, sie hätten gegen unklare Steuervorschriften oder andere intransparente Vorschriften verstoßen. Möglich ist aber auch, dass das Ansehen und die Achtung, die die unabhängigen Organisationen schon jetzt genießen, zunehmen und die Zivilgesellschaft zu einem wirklich wichtigen Faktor des politischen und sozialen Lebens in Russland werden wird.

V.

In Deutschland gibt es eine große Zahl von Menschen und Organisationen, die mit Partnern in Russland Kontakte haben oder auch kontinuierlich zusammenarbeiten. Nach meiner Kenntnis sind dies in der Regel Kontakte von Institution zu Institution, seien es Universitäten, Städtepartnerschaften oder Ministerien. Daneben gibt es eine Fülle privater Kontakte, vor allem konzentriert auf vielfache Projekte humanitärer Hilfe. Aus Köln, wo ich wohne, sind mir beispielsweise die Projekte der wissenschaftlichen, humanitären und kulturellen Zusammenarbeit im Rahmen der Städtepartnerschaft Köln-Wolgograd bekannt. Diese Begegnungen sind wichtig und hilfreich. Ich möchte ihre Bedeutung nicht schmälern. Zugleich ist mir in vielen Gesprächen aber ein sehr statisches Russlandbild aufgefallen. Ich würde es so beschreiben: „Russland braucht einen starken Staat. Demokratie und Freiheit entsprechen nicht der russischen Geschichte.“ Und das heißt dann entweder: „Russland ist wichtig, politisch und wirtschaftlich. Um die Beziehungen nicht zu gefährden, schweigen wir über Verstöße des russischen Staats gegen Demokratie und Rechtsstaatlichkeit“. In solchen Momenten habe ich den Eindruck, dass in Deutschland das Denken des Kalten Kriegs weiterlebt und es eine Art Sehnsucht nach der politischen wie moralischen Einfachheit der damaligen Situation gibt. Die Herausbildung einer unabhängigen Zivilgesellschaft in Russland, die sich für Rechtsstaatlichkeit und Demokratie in Russland einsetzt, für die individuelle Freiheit und soziale Verantwortung wichtige Werte sind, sollte dazu beitragen, dass dieses eindimensionale Russland-Bild bei uns differenzierter wird.

Drei Dinge will ich unterstreichen:

  1. Ich möchte auf die Möglichkeiten und begeisternden Erfahrungen des Kontakts und der Zusammenarbeit mit Menschen und Organisationen der russischen Zivilgesellschaft aufmerksam machen. Ich habe selbst fast zwanzig Jahre lang als Mitarbeiterin der grünen, dann bündnis-grünen Bundestagfraktionen im Bereich Außenpolitik gearbeitet. Dies ist natürlich eine sehr privilegierte Position, um Menschen aus Russland einzuladen und zu besuchen. Ich möchte deshalb lieber zwei Beispiele anführen, die ich aus ehrenamtlicher Arbeit kenne:

* Das erste Beispiel betrifft die Zusammenarbeit von „Memorial“ und der Heinrich-Böll-Stiftung bei der Aufklärung der Schicksale der Ostarbeiter. Die Idee zu einem solchen Projekt entstand bei dem ersten Treffen mit Arsenij Roginskij im November 1988, als wir ihm vom Historikerstreit in Deutschland erzählten und über Hitler und Stalin diskutierten. Wir sprachen über die Opfer beider Diktaturen, und Arsenij Roginskij erzählte, dass viele zur Zwangsarbeit nach Deutschland verschleppte Bürgerinnen und Bürger der Sowjetunion nach ihrer Rückkehr verfolgt und diskriminiert wurden. Durch einen Artikel in einer russischen Zeitung über die Schicksale der Ostarbeiter, der die Fehlinformation enthielt, dass „Memorial“ Entschädigungen auszahlen würde, wurde „Memorial“ mit Briefen (inzwischen über 410.000) überschüttet, in denen Menschen sich erstmals trauten, über ihre Schicksale unter Hitler und unter Stalin zu berichten. Damit war der Anstoß zu einer festen Zusammenarbeit beider Organisationen gegeben. Das breite Wissen, das in dieser Zusammenarbeit entstand, wurde sehr hilfreich, als Deutschland die Entschädigungszahlungen für ehemalige Ostarbeiter beschloss. Lena Schemkowa („Memorial“) ist heute Mitglied des Aufsichtsrats der russischen Stiftung, und sie kann darauf achten, dass die Gelder wirlich den betroffenen Menschen zu Gute kommen. * Das zweite Beispiel ist ein Praktikantenprogramm der Organisation Deutsch-Russischer Austausch (DRA). Der DRA, eine Organisation junger, oft ehrenamtlich arbeitender Menschen, hat schon einige Jahre deutsche Freiwillige an russische zivilgesellschaftliche Organisationen vermittelt. Seit zwei Jahren gibt es jetzt auch ein Programm für Mitglieder russischer Menschenrechtsorganisationen, die ein mehrmonatiges Praktikum bei deutschen Menschenrechtsorganisationen absolvieren können. In diesen Programmen entwickelt sich eine Zusammenarbeit „auf Augenhöhe“. Auf die Qualität dieser zivilgesellschaftlichen Zusammenarbeit greift inzwischen auch die EU zurück, in deren Auftrag der DRA ein großes Programm in Russland über interethnische Toleranz zusammen mir russischen Partnern durchführt.

  1. In der Zusammenarbeit mit russischen zivilgesellschaftlichen Organisationen ist für mich die Zusammenarbeit mit Menschen, die Bereitschaft zum Gespräch und zum gemeinsamen Gedankenaustausch entscheidend. Natürlich ist auch die finanzielle Seite wichtig, wichtiger ist aber das Bewusstsein, dass die deutsche Seite auch ideell bei der Sache ist. Die Mitglieder der russischen Zivilgesellschaft sind keine Dissidenten mehr, in der Regel können sie sich alleine wehren. Unterstützung und aufmerksames Begleiten von unserer Seite aber gehört dazu. Für ebenso wichtig aber halte ich es, dass wir ihre Arbeit hier und damit dann auch in Russland sichtbarer und bekannter machen. Der amnesty-Menschenrechtspreis an Swetlana Gannuschkina, der Lew-Kopelew-Preis für Frieden und Menschenrechte 2002 und der Alternative Nobelpreis 2004 für „Memorial“ sind Beispiele der Hochachtung und auch der Selbstverpflichtung zur weiteren Aufmerksamkeit. Inzwischen gehört es glücklicherweise zum politischen Alltag, dass Joschka Fischer in Moskau auch Vertreter der russischen Zivilgesellschaft trifft. Wichtiger noch scheint mir, dass auch bei Besuchen in der russischen Provinz solche Treffen in die Besuchsprogramme einbezogen werden. Anfragen beim Außenministerium, bei der Deutschen Botschaft in Moskau, welche zivilgesellschaftlichen Organisationen es in der jeweiligen Stadt gibt, sollten zur Reisevorbereitung dazugehören.

  2. Gespräche zwischen Präsident Putin und Bundeskanzler Schröder sind und bleiben wichtig. Russland befindet sich nach wie vor in einer Phase schmerzhafter Umbrüche. Die Asymmetrie der Reaktionen auf die Ereignisse in der Ukraine – zustimmende Begeisterung in Deutschland, Sorge und Verlustschmerz bei vielen Menschen in Russland – sind nur ein Beispiel dafür. Eine Ausgrenzung Russlands hilft den Demokraten in Russland nicht. Aber gleichzeitig trete ich für ein deutlicheres Vertreten und Sichtbar-Machen unserer Werte ein. Toleranz, Offenheit, Transparenz, Rechtsstaatlichkeit, Zustimmung zur gesellschaftlichen Vielfalt, Bereitschaft und Möglichkeit zur Übernahme von Verantwortung – diese Werte müssen wir bei uns selbst entwickeln und nach außen vertreten. Die Kreml-Administration liebt es, Attrappen zu bauen, Gesprächsforen ohne wirkliche Gespräche. Wenn wir dies nicht durchschauen, verlieren wir die Substanz unserer eigenen Werte auch bei uns.


Literaturhinweise

  • Hildermeier, Manfred / Kocka, Jürgen / Conrad, Christoph (Hrsg.): Europäische Zivilgesellschaft in Ost und West. Frankfurt am Main, New York 2000.
  • Deutsches Institut für Menschenrechte (Hrsg.): Russland auf dem Weg zum Rechtsstaat? Berlin 2003. (Mit Hinweisen zu den Organisationen, Adressen und Internet-Links)
  • Schiffer, Stefanie / Siegert, Jens: Bürgergesellschaft ohne Bürger. Wie zivil ist die russische Gesellschaft?, in: Internationale Politik 59 (2004), H. 3, S. 51-58.

Fußnote:


  1. Zur Tätigkeit von „Memorial“ vgl. auch den Beitrag von Irina Scherbakowa, Die sowjetische Vergangenheit in den Augen der Jugend, in vorliegendem Heft; außerdem dies., „Memorial“ und „Opfer zweier Diktaturen“, in: OST-WEST. Europäische Perspektiven 3 (2002), H. 1, S. 12-18. ↩︎