OWEP 2/2005
Schwerpunkt:
Russland – eine Herausforderung für Europa
Editorial
Russland übt seit jeher eine besondere Faszination auf seine westlichen Nachbarn aus. Dies gilt gleichermaßen für Religion und Literatur, für die Menschen wie für die Landschaft. Seit der Erweiterung der Europäischen Union im vergangenen Jahr stellt sich für die Unionsbürger mehr denn je die Frage des Verhältnisses zwischen Russland und dem übrigen Europa. Umgekehrt darf Russland für sich beanspruchen, als gleichberechtigter Partner des Westens ernst genommen zu werden. Es mag wie ein Klischee klingen: Russland ist ein Teil Europas, aber es steht auch neben und außerhalb von Europa.
Bildet Russland eine Herausforderung für Europa? In vorliegendem Heft nähern sich Menschen aus unterschiedlichem Blickwinkel dieser Frage. Hohe kirchliche Würdenträger kommen ebenso zu Wort wie Vertreter von Menschenrechtsorganisationen, Wissenschaftler nehmen Stellung zu religionspolitischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Themen. Ein Beitrag gilt der russischen Literatur der Gegenwart. Im Porträt wird Mstislaw Rostropowitsch gewürdigt, einer der bedeutendsten Cellisten des 20. Jahrhunderts.
Drei Texte heben sich ein wenig von den übrigen ab. Die russische Tschetschenienpolitik wird in Russland ebenso wie in Westeuropa kontrovers diskutiert. Ähnliches gilt für die „Visa-Affäre“, in der es zwar um die Ukraine und Deutschland geht, die jedoch zugleich ein Licht auf die Problematik der deutschen Visa-Vergabe in allen GUS-Staaten wirft. Schließlich rührt das 1918 von Alexander Block verfasste Gedicht „Die Skythen“ noch einmal grundsätzlich an das Verhältnis zwischen Russland und Europa. Ist es ein Miteinander, ein Ineinander oder ein Nebeneinander? Kann es auf diese Frage überhaupt eine eindeutige Antwort geben?
Die Redaktion
Kurzinfo
Russland ist ein naher und doch auch ein fremder Nachbar in Europa. In Europa? Gehört Russland denn überhaupt dazu oder ist es eigentlich eher eine asiatische Macht? Gerade auf die Deutschen übt das große Land im Osten eine besondere Faszination aus, und umgekehrt waren Deutschland und seine Kultur seit dem 18. Jahrhundert Orientierungspunkte auf dem Weg des Zarenreiches in die Moderne. Trotz aller Katastrophen und Verwerfungen des 20. Jahrhunderts hat sich daran wenig geändert. Nach dem Zerfall der Sowjetunion und der Osterweiterung der Europäischen Union steht das Verhältnis Russlands zu seinen westlichen Nachbarn, mit denen es eine nicht einfache Geschichte verbindet, vor neuen Herausforderungen. Das vorliegende Heft will dem Rechnung tragen.
Schon unter den Zaren spielte die orthodoxe Kirche eine staatstragende Rolle in Russland, und nach jahrzehntelanger Unterdrückung und Verfolgung während der Sowjetära erlebt sie derzeit eine Renaissance. Dies kommt deutlich im Beitrag von Bischof Hilarion, dem russischen orthodoxen Bischof von Wien und Österreich, zum Ausdruck; zugleich richtet er den Blick auf die Bedeutung der Orthodoxie für das übrige Europa und betont die Notwendigkeit der Zusammenarbeit der Konfessionen angesichts der säkularen Gegenwart. Der Osteuropaexperte Peter Wittschorek stellt noch einmal die grundsätzliche Frage nach der Rolle Russlands in und mit, vielleicht aber auch gegenüber Europa, und beschreibt Formen der Zusammenarbeit. Stärker politisch und auch ökonomisch setzt sich der Beitrag von Prof. Dr. Henning Schröder, Universität Bremen, mit der heutigen Rolle Russlands in der Welt auseinander, „ein Akteur, der trotz seiner ökonomischen Kraftlosigkeit auch als Großmacht wahrgenommen werden will“.
Seit jeher war das Verhältnis der orthodoxen Kirche in Russland zur katholischen Kirche problematisch. Die Errichtung von vier katholischen Bistümern im Februar 2002 führte zu einer starken Abkühlung der Beziehungen zwischen „Moskau“ und „Rom“. Inzwischen haben sich die Beziehungen zwar wieder etwas entspannt, doch gestaltet sich das Miteinander beider Kirchen weiterhin auf dünnem Eis. Ursachen und Verlauf des Konflikts wie auch mögliche Wege aus der Krise zeichnet Dr. Johannes Oeldemann, Johann-Adam-Möhler-Institut Paderborn, nach. Vertiefende Gedanken über das Verhältnis der Konfessionen zueinander und über die geistigen Prozesse im heutigen Russland entfaltet der Beitrag von Prof. Dr. Józef Życiński, Erzbischof von Lublin/Polen.
Trotz aller Fortschritte seit 1990 muss man wohl die Demokratie in Russland als ein gefährdetes Gut betrachten. Die Aufarbeitung der kommunistischen Vergangenheit lässt, so gewinnt der kritische Beobachter, vielerorts zu wünschen übrig. Die Presse unterliegt immer häufiger Einschränkungen, Kritik an politischen und wirtschaftlichen Missständen ist oft unerwünscht. Die Beiträge von Dr. Irina Scherbakowa, „Memorial“, und der Osteuropaexpertin Dr. Elisabeth Weber zeigen zahlreiche Defizite auf und warnen vor falsch verstandener Rücksichtnahme gegenüber der russischen Staatsführung. Konkret wird Ekkehard Maaß, der sich seit vielen Jahren für Tschetschenien engagiert: Mit scharfen Worten geißelt er die Politik Russlands und das Wegschauen des Westens im Kaukasus.
Abgeschlossen wird das Schwerpunktthema mit drei Beiträgen aus den Bereichen Literatur und Musik. Die Literaturwissenschaftlerin Elena Kantypenko, Universität Münster, vermittelt einen Eindruck in die Literatur der modernen russischen Avantgarde. Der Publizist Dr. Friedemann Kluge zeichnet Leben und Werk des weltberühmten Cellisten Mstislaw Rostropowitsch nach. Mit dem Gedicht „Die Skythen“ von Alexander Block (1880-1921) enthält das Heft einen der bedeutendsten literarischen Texte zum Selbstverständnis Russland, der bis heute Gültigkeit hat. Fortbestand hat schließlich auch das Problem des Visamissbrauchs, das im Interview mit Andrij Waskowych, dem Leiter der Caritas Ukraine thematisiert wird. Eine befriedigende Lösung gibt es weder für die Ukraine noch für Russland.
Dr. Christof Dahm