GULag – stalinistischer Strafvollzug in der Sowjetunion

Dr. Matthias Stadelmann ist Privatdozent für Neuere und Osteuropäische Geschichte an der Universität Erlangen-Nürnberg und Professor (in Vertretung) für Mittel- und Osteuropäische Zeitgeschichte an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. einer seiner Arbeitsschwerpunkte ist die Geschichte der Sowjetunion, insbesondere des Stalinismus.

Zusammenfassung

Das Straflagersystem des GULag steht für die repressive Seite des Stalinismus. Zwischen 1929 und 1953 wurden an die 18 Millionen Menschen zur Zwangsarbeit unter härtesten Bedingungen verurteilt, die Mehrheit davon aus politischen Gründen. Der Beitrag führt in Geschichte und Interpretationen des GULag ein und versucht, den sowjetischen Strafvollzug in allgemeinen Entwicklungslinien der Landes zu verorten.

GULag ist ein schrecklicher Begriff. Schon im Klang scheint er eine Vorstellung vom dem Grauen zu geben, das sich hinter ihm verbirgt. Hinter geläufigen Ausdrücken wie „jemand verschwand im GULag“ erscheint geradezu lautmalerisch jene Hölle auf Erden, die diesen jemand erwartete. GULag – das klingt dumpf, brutal, grausam; spätestens seit Aleksander Solschenizyns beeindruckendem Opus wissen wir, dass es „im GULag“, im System der sowjetischen Straflager auch so war.1 Ungeachtet seines verstörenden Klanges ist das Wort für sich genommen freilich nur eines jener Akronyme, wie sie in der bewusst technokratisierten, funktionalistischen sowjetischen Sprache hundertfach vorkamen: GULag steht für Glavnoe Upravlenie Lagerej, für Hauptlagerverwaltung, und bezeichnet damit die administrative Seite des sowjetischen Straflagersystems. Das GULag (Upravlenie im Russischen ist grammatikalisch Neutrum) ist demnach schlichtweg eine Behörde, die sich mit einer bestimmten Sparte des Strafvollzugs in der Sowjetunion beschäftigte; ihr unterstanden Lager vom Polarkreis bis Usbekistan, vom Fernen Osten bis in die Ukraine. Doch der Begriff hat sich über die Jahrzehnte hinweg verselbstständigt, was etwa auch darin seinen Ausdruck findet, dass er im Verständnis vieler Autoren nicht nur für die behördliche Seite des Straflagersystems steht, sondern für den von Repression und Willkür geprägten sowjetischen Strafvollzug schlechthin.

Der folgende Beitrag setzt sich zum Ziel, auf der Grundlage neuerer Forschungsliteratur in die Geschichte des sowjetischen Lagersystems einzuführen.2 Dabei wird das Phänomen GULag in den historischen Kontext eingeordnet; mögliche Begründungen für die Entstehung des Systems werden genannt, die unterschiedlichen Strafvollzugstypen kurz vorgestellt sowie Zahlen zu den Insassen angeführt. Am Ende steht ein knapper Ausblick auf die weitere Entwicklung.

Historischer Kontext

Zwangsarbeit hat im russischen Strafvollzug eine lange Tradition. Schon seit etwa 1700, seit der Zeit Peters I., der alle Ressourcen seiner Untertanen maximieren wollte, hatten sich straffällig Gewordene mit harter Arbeit für den Staat an meist entlegenen Orten nützlich zu machen. Im schier endlosen, oft unwirtlichen, wenig erschlossenen und dünn besiedelten Sibirien fand sich genügend Raum, um verurteilte Straftäter unterzubringen, vom Rest der Gesellschaft zu isolieren und zu mehr oder weniger nützlichen Tätigkeiten für den Staat zu zwingen, etwa in Steinbrüchen, Bergwerken, Fabriken oder beim Straßen- und Wegebau. Eine mildere Form der Bestrafung bestand in der Verbannung in Russlands östliche Weiten. Hierbei ging es nicht um Zwangsarbeit, sondern um Zwangsansiedlung und das Verbot zur Rückkehr in das europäische Russland. Gerne wird die Kontinuität zwischen russländischem und sowjetischem Strafvollzug, gerade im Hinblick auf Sibirien, betont. Doch die Zahl von etwa 6.000 zur Zwangsarbeit Verschickten im Jahr 1906 deutet bereits an, dass der sowjetische Strafvollzug hier in ganz anderen Dimensionen operierte. Auch wenn die Zahl der Verbannten im Russischen Zarenreich des 19. Jahrhunderts in die Hunderttausende ging (und diese Gruppe von Verurteilten damit einen erheblich bedeutenderen Beitrag zur Kolonisierung Sibiriens leistete als die Strafgefangenen), war der Strafvollzug im Russischen Reich von gänzlich anderer Qualität wie Quantität als nach der Revolution von 1917.

Mit dem Erfolg von Lenins Bolschewisten, des radikalen Flügels der russischen Sozialdemokraten, im Bürgerkrieg (1918-1921) beginnt die Geschichte des sowjetischen Straflagersystems, auch wenn das GULag als Behörde erst 1929 ins Leben gerufen wurde.3 Schon seit 1918 verfolgten Russlands Revolutionäre das Ziel, politische Missliebige in Lagern zu „konzentrieren“. Neben einem unter neuen Vorzeichen fortgeführten herkömmlichen Strafvollzug in Gefängnissen richtete man unter behördlicher Kompetenz der VČK bzw. der GPU4 „Sonderlager“ ein. Eines konkreten Vergehens oder gar eines gerichtlichen Prozesses bedurfte es nicht: Als Grund für die Verhaftung reichte aus, dass man den verhassten Klassenfeinden angehörte: Adel, Bourgeoisie, Geistlichkeit – und anderer, wie es im Jargon der Zeit hieß, „menschlicher Müll“. Besonders prädestiniert für die Internierung waren Funktionsträger der alten Regierungen sowie Gegner des neuen Regimes, darunter wurden übrigens gerade Angehörige anderer sozialistischer Parteien besonders intensiv verfolgt. Ob sie die Internierten in den Lagern umerziehen wollten, wussten die Bolschewisten im Chaos der revolutionären Anfangsjahre wohl selbst nicht genau; wenn man den Eindruck hatte, die Eingesperrten seien unverbesserlich, kam es vor, dass man sie einfach erschoss. Der „Rote Terror“ herrschte auf Russlands Straßen und in den Lagern; von einem nachvollziehbaren, klar geregelten und begründeten Strafvollzug konnte bis mindestens 1922 nicht die Rede sein.

Obwohl man bereits 1923 ein groß angelegtes Konzentrationslager auf den Solowezki-Inseln im Weißen Meer anlegte, entzog sich die sowjetische Strafpolitik in den 1920er Jahren einer klar definierbaren Einheitlichkeit – und ordnete sich damit in allgemeine Zustände und Entwicklungen in der Sowjetunion auf den Gebieten von Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur ein. Nach der Durchsetzung im Bürgerkrieg, nach der Verabschiedung von einer schnellen Weltrevolution, nach der Konzentration auf den „Aufbau des Sozialismus in einem Land“ waren die sowjetischen zwanziger Jahre Jahre des Suchens, in denen man unbedingt die „richtigen“ sozialistischen Wege beschreiten wollte, in den wenigsten Fällen jedoch wusste, wie man auf diese Wege kam und zu welchen konkreten Zielen sie führten.5

Erst am Ende der 1920er traf die sowjetische Politik, die sich nun bereits unter einer Art Allmacht des Partei-Generalsekretärs Stalin befand, klare Entscheidungen über die künftige Richtung. Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur sollten forciert im sozialistischen Geist umgestaltet werden. Forcierte Schwerindustrialisierung des bis dato nach wie vor agrardominierten Landes, Zusammenfassung der traditionellen bäuerlichen Kleinwirtschaften in kollektiv organisierten Großbetrieben (Kolchosen und Sowchosen), Schaffung einer neuen, jungen, sowjetischen Elite in Kultur, Wissenschaft und Technik bei gleichzeitiger Hinausdrängung derjenigen Eliten auf diesen Feldern, die man aus schierem „Personalmangel“ heraus den Systemwechsel hatte überstehen lassen – zwischen 1927 und 1931 ereignete sich in der Sowjetunion eine abermalige „Revolution“, die „von oben“, d. h. in der Führungsebene der Partei, initiiert wurde und dem Land auf verschiedenen Sektoren noch größere strukturelle Umbrüche bescherte als das Jahr 1917. Dieser Kontext eines neuerlichen, mit äußerster Entschlossenheit und brachialem Zugriff durchgezogenen Umbruchs ist sehr wichtig, um die Entstehung des GULag ab 1929 adäquat einzuordnen.

Motivationen für die Schaffung des GULag

Das GULag und seine Straflager wurden nicht aus sadistisch-zynischer Bösartigkeit heraus ersonnen, um eine Hölle auf Erden entstehen zu lassen, auch wenn man letztere de facto schuf. Das Vorhaben Stalins und seiner Entourage, nun mit Macht und Konsequenz den Sozialismus aufzubauen, wurde in einer totalitären Qualität angegangen. Wer sich anders als die Partei positionierte, wer die Welt anders sah, wer andere Vorstellungen über den Sozialismus oder über die richtige Art zu wirtschaften und zu arbeiten hatte, wurde damit zum Feind, der mit seinem schädlichen Wirken das Erreichen des sozialistischen Zieles gefährden konnte. Wer den angestrebten Umwälzungen im Interesse „des Volkes“ im Wege zu stehen schien bzw. sie womöglich gar sabotieren und stören konnte, musste weg, da kannte die bolschewistische Führung weder Rücksicht noch Erbarmen, ob auf zentraler oder lokaler Ebene. Nicht ganz weg, freilich. Schließlich glaubten die Bolschewisten nicht nur an die Vision des Sozialismus als einzig zukunftsfähigem Weg zu Wohlstand und Gerechtigkeit, sondern sie glaubten auch an die prinzipielle Erziehbarkeit des Menschen, an die Formbarkeit der Gesellschaft. Wenn man also reale oder potenzielle Störenfriede aus der Gesellschaft entfernte, sollten diese, sofern ihre „Verbrechen“ an Staat und Gesellschaft nicht ihre physische Liquidierung einforderten, eine Chance erhalten, von nutzlosem, gesellschaftsgefährdendem Abschaum transformiert zu werden zu Menschen, die die Richtigkeit des sozialistischen Weges erkannten und an ihm teil hatten. „Arbeit macht frei“ schrieben die deutschen Nationalsozialisten über die Tore zu ihren Konzentrationslagern, um in zynischer Menschenverachtung ihre chancenlosen Opfer zu demoralisieren. An den sowjetischen Straflagereingängen stand dieser Satz nicht, aber die grundsätzliche Idee war im System mitgedacht. Dass beides, Strafe und Umerziehung, auch im Dienste des sozialistischen Aufbaus stehen sollte, war Teil des Konzeptes, weshalb die in das Straflagersystem eingewiesenen „Volksfeinde“ mit harter, gesellschaftlich nützlicher Schufterei in zeitweiliger Unfreiheit ihre (angebliche) feindliche Haltung gegenüber der Sowjetunion, ihre (vermeintlichen) Vergehen und Verbrechen, ihre „Schuld“ abarbeiten sollten – zum Nutzen der Staatswirtschaft (und damit, in bolschewistischer Lesart, zum Nutzen des Volkes), aber auch zum Nutzen ihrer selbst.6

Die „Geburt“ des GULag im Jahr 1929 ist also von den politisch-ideologischen Umständen in der Sowjetunion jener Zeit nicht zu trennen, ebenso wenig vom Ausschließlichkeitsanspruch totalitärer Regime im Europa des 20. Jahrhunderts, ebenso wenig von der brachialen Gewaltkultur bolschewistischen Regierens, wie es sich in Bürgerkrieg und Revolution herausgebildet hatte. Diese Feststellungen bedeuten nicht, dass das System der sowjetischen Zwangsarbeitslager in der Realität seiner Existenz nicht noch weitere Funktionen angenommen und erfüllt hätte. So betont etwa Anne Applebaum in ihrem beeindruckenden Opus „GULAG. A History“ von 2003 wie bereits etliche andere Experten gerade die ökonomische Dimension des sowjetischen Lagersystems.7 Die sowjetische Führung brauchte die Gefangenen, um Arbeiten in fernsten, unwirtlichen, im Winter unbeschreiblich kalten, im Sommer mückenüberfluteten Gegenden durchführen zu lassen, zu Bedingungen, für die freiwillig kein Mensch zu gewinnen gewesen wäre: Abbau von Gold oder Rohstoffen und Bodenschätzen im hohen Norden und fernen Osten; Eisenbahn-, Straßen-, Kanal- und Kraftwerksbau; holzwirtschaftliche Tätigkeiten in Sibiriens Wäldern; Aufbau schwerindustrieller Produktionsstätten und Mitwirkung an der Herstellung etwa von Rüstungsgütern, wie überhaupt die allmähliche Kolonisierung unbewohnter, wenig attraktiver Landstriche. Tatsächlich erreichten die Zwangsarbeiter des GULag durchaus beachtliche – absolute – Zahlen auf den genannten Feldern; die Effektivität und Produktivität der Zwangsarbeit jedoch war gegenüber der „zivilen“ Bewirtschaftung stets äußerst gering. Ob, wie von einigen Autoren postuliert, die ökonomische Funktion gar ausschlaggebend war für die Errichtung des GULag-Komplexes und für die enormen Verhaftungszahlen, bleibt bis heute Ansichtssache. In jedem Fall fügte sich die ökonomische Ausnutzung der Strafgefangenen gut in das Konzept vom Strafen, Abarbeiten und Umerziehen, mit welchem man der „Volksfeinde“ Herr werden wollte.

Ein anderer Zugang zum GULag besteht in seiner politischen Verortung. In dieser Auffassung ist das ökonomische Potenzial des Straflagersystems allenfalls ein Nebenprodukt eines in seiner Motivation ausschließlich politischen Anliegens. Das GULag diente der Festigung der Partei- und Personendiktatur, indem vermeintliche oder reale Gegner der Stalinschen Politik ausgeschaltet wurden. Letzteres ist in diesem Erklärungsmodell durchaus wörtlich zu nehmen: Der Tod der Inhaftierten wurde durch miserable Bedingungen bei harter Arbeit und gezielter Unterernährung nicht nur billigend in Kauf genommen, sondern sogar angestrebt. Man konnte Missliebige liquidieren, ohne sich aktiv die Hände dabei schmutzig zu machen. Dass unerwünschte Elemente für lange Zeit – ohne jede Rückkehrgarantie – verschwinden konnten, oder dass es keiner belastbar-konkreten strafrechtlichen Prozesse bedurfte, um Hunderte und Tausende ins Lager zu schicken – solche Konstellationen gaben den zentralen, aber auch regionalen Führungsorganen in Staat und Partei, Wirtschaft und öffentlichem Leben enorme Druckmittel in die Hand, um Vorstellungen durchzusetzen und gegenläufige Strömungen zu verhindern. Die These jedoch von unausgesprochenen Vernichtungslagern im GULag für Gegner Stalins und der Bolschewisten, die Rückführung der Lager vor allem auf die mörderische Bosheit eines amoralischen Regimes, führt – bei aller Erschütterung über Opferschicksale – in historischer Betrachtung nicht weiter, zumal die „Feinde“, die die Sowjetunion in die Lager schickte, grundsätzlich „zum Besseren“ transformierbar schienen, im Gegensatz etwa zu den Juden in Deutschland, für die der nationalsozialistische Rassenwahn als Option nur die Auslöschung vorsah.

Arten bzw. Orte des Strafvollzugs

Welche Arten des Strafvollzugs gab es in der Zeit des GULag? Die äußerste Form der Bestrafung bestand, wie in zahlreichen anderen Staaten der Zeit auch, in der Hinrichtung. Die sowjetischen Organe hatten keine Scheu, die Todesstrafe zu verhängen, wenn ein Schwerstverbrechen – ob politisch oder kriminell – verhandelt wurde und man dem Delinquenten keine Chance zur „Besserung“ oder „Abarbeitung“ geben wollte. Die zweite Stufe des Strafvollzugs bestand im Gefängnis. Damit sind hier nicht die Untersuchungsgefängnisse gemeint, in denen zum Teil mit unmenschlichsten Methoden Schuldeingeständnisse aus Arretierten herausgepresst wurden, sondern jene Haftanstalten, in denen man langfristig jene Verurteilten unterbrachte, die man für „besonders gefährlich“ und „unverbesserlich“ hielt. Die Insassen von sowjetischen Gefängnissen wurden unter miserabelsten Bedingungen in weitgehender Isolation voneinander gehalten, Gefängnis galt als schlimmste Form der Haft.

Die bekannteste Form des sowjetischen Strafvollzugs stellten die Arbeits- und Besserungsanstalten dar. Generell galt, dass Verurteilte mit Strafen über drei Jahren in Lager eingewiesen wurden, wer weniger als drei Jahre bekommen hatte, landete in sogenannten Kolonien. In letzteren saßen vorwiegend „gewöhnliche“ Kriminelle, da die aus politischen Gründen Verurteilten in der Regel nicht mit drei Jahren oder weniger davonkamen. Kolonien lagen meist nicht in den entferntesten Extremregionen und stellten eine etwas abgemilderte Form des Vollzugs dar. Die Lager dagegen bildeten den Kern des GULag – es handelte sich um jene stacheldrahtumwickelten Barackensiedlungen fernab der Zivilisation, deren Insassen unter widrigsten Bedingungen, von schlechter Ernährung über mangelnde Hygiene bis zu gezielten Demütigungen durch das Wachpersonal, härteste Arbeit leisten mussten. Das Überleben dieser Verhältnisse war möglich, wurde einem aber nicht leicht gemacht.8

Die mildeste Variante des Strafvollzugs bestand in den Sondersiedlungen. Obwohl formell nicht zur Behörde GULag gehörend, werden sie von der Geschichtsschreibung in den weiter gefassten Begriff von „Gulag“ als stalinistische Repressionsmaschinerie integriert. Die Sondersiedlungen gab es in erster Linie für die im Rahmen der Zwangskollektivierung von ihren Feldern vertriebenen wohlhabenderen Bauern („Kulaken“) sowie für die von Stalin, oft nur aus schierem Misstrauen und purer Abneigung, deportierten kleinen Völkerschaften (z. B. Krimtataren, Wolgadeutsche, Tschetschenen u. a.). Die Siedlungen lagen in Sibirien und Mittelasien, ihre Bewohner konnten sich vor Ort frei bewegen, hatten zu arbeiten, wofür sie auch bezahlt wurden, und mussten sich selbst um ihren Lebensunterhalt kümmern. Im Prinzip handelte es sich um die sowjetische Variante der „Verbannung“. Schließlich gab es auch noch die Verurteilung zu Zwangsarbeit ohne Freiheitsentzug, was vor allem bei kleineren Vergehen am Arbeitsplatz angewendet wurde.

Opferzahlen

Es wird wohl immer umstritten bleiben, wie viele Menschen zu Opfern des GULag wurden. Zunächst ist dabei zu betonen, dass das GULag ein Phänomen der Stalin-Zeit war. Mit dem Tode des allmächtigen Generalsekretärs 1953 begann die Phase der Auflösung des stalinistischen Lagersystems. Verschiedene Amnestiewellen leerten seit 1953 die Lager, Kolonien und Sondersiedlungen, zum Teil trugen auch Häftlinge mit groß angelegten Revolten zur Beschleunigung des Auflösungsprozesses bei. Stalins Erben, allen voran Nikita Chruschtschow, nahmen der Sowjetunion ihren außerordentlichen gewalttätigen Charakter. Organisatorische Neuregelungen des Strafvollzugs Anfang der 1960er Jahre markierten hierbei auch eine behördliche Zäsur. Selbstredend gab es weiterhin Straflager in der UdSSR, in denen man auch aus politischen Gründen landen konnte. Die Bedingungen des Strafvollzugs blieben hart – und sind es in den meisten Nachfolgestaaten der Sowjetunion bis heute.9 Die monströsen Dimensionen des GULag wurden jedoch nach Stalins Zeit nicht einmal annähernd wieder erreicht.

Doch auch wenn man die Geschichte des GULag in zeitlicher Dimension klar eingrenzen kann, ist die Frage nach Opferzahlen nicht leicht zu beantworten. Zunächst sei an dieser Stelle daran erinnert, dass es im sowjetischen Strafvollzug im Kontext des GULag nicht nur um politisch Missliebige ging, sondern auch um „gewöhnliche Kriminelle“ – selbstredend hatte auch die Sowjetunion ihre Diebe, Betrüger, Vergewaltiger und Mörder. Dass freilich auch bei „gewöhnlichen Kriminellen“ die Grenze zum Repressionsopfer fließend sein konnte, legen drastische Strafverhängungen für Kleindelikte nahe, etwa die Ahndung eines Lebensmitteldiebstahls mit fünf Jahren Arbeitslager. Doch auch jenseits solcher Überlegungen bleibt die Feststellung von Opferzahlen problematisch, sie hängt nicht nur von den zur Verfügung stehenden Materialien ab, sondern auch von Fragen der Berechnung. Man kann heute von etwa 18 Millionen Sowjetbürgern ausgehen, die zwischen 1929 und 1953 in Lager und Kolonien eingewiesen wurden. In Sondersiedlungen wurde zu Stalins Zeit insgesamt wohl an die 6 Millionen Menschen verbannt. Nicht eingerechnet sind hier etwa die ca. 4 Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen, Verschleppten und Expatriierten des Zweiten Weltkrieges, die nach ihrer Befreiung zunächst in spezielle Überprüfungslager eingewiesen, dann nach etwa einem Jahr zu ca. 80 Prozent entlassen und zu 20 Prozent weiteren Zwangsmaßnahmen zugewiesen wurden.

Besonders schwierig ist die Frage nach den Todesopfern. Wer gehört dazu, wer nicht? Wie sind zum Tode führende Krankheiten oder entsprechende Folgewirkungen zu bewerten? Hingerichtet aufgrund eines Todesurteils wurden zwischen 1934 und 1953 wohl an die 800.000 Menschen. Wie viele Todesopfer im Kompetenzbereich des GULag zu verzeichnen sind, ist nicht einfach festzulegen, die Zahlen pendeln sich zwischen 1,5 und 2,8 Millionen ein. Wenn in einzelnen Publikationen von 12 oder gar 20 Millionen Todesopfern sowjetischer Gewaltherrschaft die Rede ist, so kann man solche Zahlen, wenn überhaupt, nur unter Einbeziehung aller Umstände erreichen, die in der Sowjetunion zu unnatürlichem bzw. verfrühtem Tod führten, also etwa mit den Toten des Bürgerkrieges und verschiedener Hungersnöte. Die Zahlenakrobatik sei hier nicht fortgeführt. Es sind in jedem Fall astronomische Zahlen an Menschen, denen die sowjetische Politik nicht das versprochene Wohlergehen, sondern Verderben oder Tod brachte.

Fragen der Aufarbeitung

Umso verwunderter reagiert man außerhalb Russlands und der anderen Nachfolgestaaten der Sowjetunion auf den Umstand, dass es mit der Aufarbeitung dieses schrecklichen Kapitels nicht allzu gut bestellt ist. Sicher, es gibt individuelle Aktivisten und Institutionen – an erster und herausragender Stelle ist hier die Gesellschaft „Memorial“ zu nennen –, die sich der Dokumentation und Aufarbeitung des Terrors gegen die eigene Bevölkerung verschrieben haben und mit großem Engagement Verdienstvolles leisten.10 Es gibt lokale Initiativen, etwa an den Stellen ehemaliger Lager, die gegen Verdrängung und Vergessen kämpfen. Denkmäler und Museen sind entstanden, Erinnerungen und Berichte erschienen, Ausstellungen und Gedenkveranstaltungen durchgeführt worden. Das offizielle Russland betrachtet solche Maßnahmen eher unbeteiligt, von staatlicher Seite gibt es bislang kaum Schritte zu einer intensiven Aufarbeitungskultur. Und auch in der Gesellschaft bilden diejenigen, die nachforschen, nachfragen und erinnern wollen, eine oftmals skeptisch beäugte Minderheit.

Woran liegt das? Es liegt sicher nicht nur daran, dass die Menschen in Russland und seinen Nachbarstaaten oft mit anderen, elementareren, v. a. materiellen Dingen des Lebens beschäftigt waren, die ihnen für historische Aufarbeitung wenig Energien ließen. Die Gründe sind komplexer. Der eklatante Unterschied in der Aufarbeitungsdichte im Vergleich zu den Verbrechen des Nationalsozialismus erklärt sich dadurch, dass die Sowjetunion andere historische Wege genommen hat. Anstelle eines vollständigen Zusammenbruchs und Neuanfangs gab es in der nachstalinistischen Sowjetunion eine grundsätzliche politische, kulturelle und ideologische Kontinuität zur Epoche des GULag. Dies hatte nicht nur zur Folge, dass ein etwaiger Aufarbeitungsbeginn um fast 50 Jahre verzögert wurde, da die politische Führung der Sowjetunion – bei aller Entstalinisierung – an einer kritischen Durchdringung der eigenen Vergangenheit kein Interesse hatte. Die Kontinuität des Sowjetsystems hatte auch zur Folge, dass die Stalin-Zeit für viele Menschen schlichtweg „normaler Teil“ ihrer Vergangenheit wurde, eine Zeit, zu der es keinen moralischen Distanzierungszwang gab. In fast allen Staaten der ehemaligen Sowjetunion zählen Patriotismus und Nationalstolz sehr viel, dazu gehört auch Stolz auf und Identifikation mit der eigenen Vergangenheit. Gerade weil diese für den Einzelnen oft entbehrungsreich war, will man sich diese Vergangenheit nicht durch unangenehme Wahrheiten „kaputt reden“ lassen. Das Gedenken an die Stalin-Zeit ist in diesem Konzept dominiert vom Triumphgestus des Hitlerbezwingers Sowjetunion. Im Umkehrschluss bedeutet die Glorifizierung des Sieges im Zweiten Weltkrieg, dass Stalin sowie die sowjetische Politik und Gesellschaft anscheinend nicht alles schlecht und falsch gemacht haben können. So ist letztlich bis heute die Haltung Chruschtschows, dass im Stalinismus viele schlimme Fehler passiert seien, der Kurs im Grundsätzlichen aber schon richtig gewesen sei, weit verbreitet. Für eine tief gehende Auseinandersetzung mit den Schrecken und Ungerechtigkeiten jener Zeit ist unter diesen Voraussetzungen wenig Platz. Daher gibt es für Geschichtsforschung und Geschichtsvermittlung in Russland nach wie vor viel zu tun.


Fußnoten:


  1. Aleksandr I. Solzhenitsyn [Solženicyn]: The Gulag Archipelago 1918-1956. An Experiment in Literary Investigation. New York 1974. (Deutsche Ausgabe ebenfalls 1974). ↩︎

  2. Die Ausführungen zum GULag folgen vornehmlich Anne Applebaum: GULAG. A History. New York 2003; dies. (Hrsg.): Gulag Voices. An Anthology. New Haven 2011; Steven A. Barnes: Death and Redemption. The Gulag and the Shaping of Soviet Society. Princeton 2011; Oleg V. Chlevnjuk: The History of the Gulag. From Collectivization to the Great Terror. New Haven 2004. Weitere Hinweise finden sich in der Rubrik „Bücher“ in vorliegendem Heft (S. 159 der gedruckten Ausgabe). ↩︎

  3. Die Russische Sozialdemokratie hatte sich 1903 in zwei Flügel gespalten, auf dem entscheidenden Parteitag waren die Radikalen in der Mehrheit, die Gemäßigten in der Minderheit geblieben. Hieraus resultierten die Gruppen der Bolschewisten (russ. Bol’ševiki, Mehrheitler) und der Menschewisten (russ. Men’ševiki, Minderheitler). ↩︎

  4. VČK: Vserossijskaja Črezvyčajnaja komissija po bor’be s kontrrevoljuciej i sabotažem pri SNK SSR („Allrussische Außerordentliche Kommission zum Kampf mit Konterrevolution und Sabotage beim Rat der Volkskommissare der UdSSR“). Die VČK, oft auch nur „ČK“ (Tscheka) war die erste sowjetische geheimpolizeliche Organisation. 1922 wurde sie umstrukturiert in die GPU (Glavnoe političeskoe upravlenie pri NKVD RSFSR, „Politische Hauptverwaltung beim Volkskommissariat des Inneren der Russischen Föderativen Sowjetrepublik“), 1923 wurde, nach der Erweiterung Sowjetrusslands zur aus mehreren Republiken bestehenden Sowjetunion daraus die OGPU (Ob’edinennoe Glavnoe političeskoe upravlenie pri SNK SSSR, „Vereinigte Politische Hauptverwaltung beim Rat der Volkskommissare der UdSSR“). Sie existierte bis 1934, als eine erneute organisatorische Umstrukturierung der Innen- und Polizeibehörden stattfand. ↩︎

  5. Zur allgemeinen Geschichte der Sowjetunion vgl. Helmut Altrichter: Kleine Geschichte der Sowjetunion. München. 3. Aufl. 2007; Manfred Hildermeier, Geschichte der Sowjetunion 1917-1991. Entstehung und Niedergang des ersten sozialistischen Staates, München 1998; Dietmar Neutatz: Träume und Alpträume. Eine Geschichte Russlands im 20. Jahrhundert. München 2013. ↩︎

  6. Die Einordnung des GULag in Transformations- bzw. Formungsanliegen der sowjetischen Politik gegenüber der Gesellschaft zuletzt sehr überzeugend bei Steven A. Barnes: Death and Redemption. The Gulag and the Shaping of Soviet Society. Princeton 2011. ↩︎

  7. Vgl. dazu Anm. 2, oben S. 83. ↩︎

  8. Bildmaterial findet sich z. B. unter http://de.wikipedia.org/wiki/Perm-36_Gulag-Museum (letzter Zugriff: 30.10.2017). ↩︎

  9. Vgl. dazu den Beitrag von Caroline von Gall in vorliegendem Heft. ↩︎

  10. Siehe dazu etwas den Band GULAG. Spuren und Zeugnisse 1929-1956. Hrsg. v. von Volkhard Knigge und Irina Scherbakowa. Weimar 2012. ↩︎