OWEP 2/2014

OWEP 2/2014

Schwerpunkt:
Strafvollzug in Mittel- und Osteuropa

Editorial

Die Thematik der vorliegenden Ausgabe von „OST-WEST. Europäische Perspektiven“ mag auf den ersten Blick vielleicht seltsam anmuten. Ein Heft zu Fragen des Strafvollzugs, der Gefangenenseelsorge, des Lebens „hinter Gittern“ in Mittel- und Osteuropa? Sicher ein Themenkomplex, der sich nicht gerade aufdrängt. Dennoch war es der Redaktion wichtig genug, hiermit eine Realität ins Auge zu fassen, die beim Blick auf die gesellschaftlichen Veränderungen in Mittel- und Osteuropa eher ausgeblendet wird. Auch 25 Jahre nach der „Wende“ ist (auch) die Transformation der Strafvollzugssysteme hin zu einer menschenwürdigen Behandlung inhaftierter Personen keineswegs abgeschlossen. So wurden zwar umfassende Gesetzesreformen – etwa in Russland – beschlossen, diese harren teilweise aber noch der Umsetzung, sodass es bisher nicht gelungen ist, europäische Mindeststandards im russischen Strafvollzug umzusetzen.

Im vorliegenden Heft werden Facetten des „stalinistischen Strafvollzugs“ ebenso beleuchtet wie das mancherorts noch nachwirkende geistige Erbe der kommunistischen Zeit, in der Haftstrafen vor allem der „Besserung“ oder „Umerziehung“ von Strafgefangenen galten. Fallbeispiele aus Russland, Albanien, Rumänien, Lettland und der Republik Moldau belegen dies und zeigen auch, wie verbreitet Willkür und Gesetzlosigkeit sowie psychischer und physischer Druck in den Strafvollzugssystemen heute noch sind.

Doch dass es auch „Licht im Schatten“ gibt, zeigen konkrete Projekte der Betreuung und Begleitung von Strafgefangenen (insbesondere Jugendlichen) in verschiedenen Gefängnissen der genannten Länder. Vor allem christliche Seelsorgerinnen und Seelsorger tun sich dabei hervor. Deren Engagement hat tiefe Wurzeln nicht nur im biblischen Glauben, sondern auch in der kirchlichen Verkündigung, nach der jedem Menschen, auch dem Straftäter, eine unantastbare Würde zukommt (siehe Beitrag Echtermeyer). Menschen in Haft haben Anspruch auf Achtung ihrer Würde und Grundrechte. Und es muss Sorge getragen werden, dass ihr Freiheitsentzug „nicht zu einer Zeit sozialer Vergeltung verkürzt wird“ (Papst Johannes Paul II.).

Die Redaktion

Kurzinfo

Menschen hinter Gittern – ein schwieriges Thema, zu dem sich sofort Bilder im Kopf bilden. Man sieht Gefängnisse, Sträflinge in typischer Häftlingskleidung, denkt an Szenen aus aktuellen reißerischen Fernsehserien und Filmproduktionen. Das Schicksal des Straftäters im Gefängnis ist meist zweitrangig, denn er wird schließlich, wenn ein ordnungsgemäßes Verfahren erfolgt ist, für ein Verbrechen bestraft. Was in ihm vorgeht, wie sich der Alltag im Gefängnis abspielt, was nach der Entlassung aus ihm wird, ist selten oder überhaupt kein Thema für Presse und Öffentlichkeit, die nur bei spektakulären Fehlurteilen oder Skandalen im Justizwesen reagieren.

Nun gibt es aber den „typischen“ Straffälligen gar nicht. Jeder trägt eine Lebensgeschichte mit sich, die nicht automatisch ins Gefängnis hätte führen müssen. In Gefängnissen, Zuchthäusern, Strafkolonien, Arbeitslagern – schon aus dieser Aufzählung werden Unterschiede deutlich – finden sich nicht nur Kriminelle, sondern oft auch politisch Verfolgte oder anderweitig missliebige Personen. Die Grenze zwischen schuldig und unschuldig ist oft wesentlich unklarer, als es auf den ersten Blick erscheint. Gerade der Strafvollzug in Mittel- und Osteuropa wurde in der Zeit des Kommunismus auch zur Unterdrückung systemkritischer Personen missbraucht; Namen wie Alexander Solschenizyn und Lew Kopelew stehen für ungezählte andere, die auf lange Jahre verschwanden oder sogar umkommen sind.

Seit der politisch-gesellschaftlichen Wende wurden das Justizwesen und damit auch der Strafvollzug in diesen Ländern grundlegend reformiert, wobei jedoch die Praxis der Theorie vielfach noch hinterherhinkt. Das aktuelle Heft der Zeitschrift OST-WEST. Europäische Perspektiven geht der historischen Entwicklung des Strafvollzugs in einzelnen Ländern nach und zeigt einige Beispiele dafür, wie seitens engagierter Christen versucht wird, die Lage der Häftlinge in den Gefängnissen zu erleichtern und ihnen bei der Wiedereingliederung in die Gesellschaft zu helfen.

Am Anfang steht notwendigerweise die Untersuchung der historischen und juristischen Hintergründe. Einen Überblick über das System des „GULag“ in der Sowjetunion, dessen Entstehung und Nachwirken bis in die Gegenwart vermittelt der Beitrag von Dr. Matthias Stadelmann, Privatdozent für Neuere und Osteuropäische Geschichte an der Universität Erlangen-Nürnberg. Prof. Dr. Caroline von Gall, Juniorprofessorin für öffentliches Recht und Ostrecht der Universität zu Köln, legt die gesetzlichen Grundlagen des Strafvollzugs im heutigen Russland dar, in dem trotz einiger Erleichterungen immer noch zahlreiche Elemente des sowjetischen Gefängnis- und Lagersystems erkennbar sind, was gravierende Folgen für das Schicksal der Häftlinge hat.

In den beiden folgenden Texten wird das Schicksal von Häftlingen aus einer nicht ganz alltäglichen Perspektive beleuchtet. Prof. Dr. Sascha Feuchert, Leiter der Arbeitsstelle Holocaustliteratur an der Justus-Liebig-Universität Gießen und Vizepräsident des deutschen PEN-Clubs, schildert das Engagement dieser internationalen Schriftstellervereinigung zugunsten bedrohter und verfolgter Schriftsteller und Journalisten durch das 1960 gegründete „Writers in Prison“-Committee. Der Beitrag von Diakon Heinz-Peter Echtermeyer – er ist seit 25 Jahren in der Gefangenenseelsorge tätig – befasst sich mit biblischen und pastoralen Aspekten des Themas und erläutert außerdem das Programm „Art and Prison“, das darauf abzielt, Gefangene durch künstlerische Tätigkeit zu motivieren und zur Reflexion zu bewegen.

In der zweiten Hälfte des Heftes werden anhand von Beispielen aus fünf Ländern die Bemühungen von engagierten Christen zur Verbesserung der Haftsituation und zur Resozialisierung vorgestellt. Bedrückend ist der Bericht, den Don Marjan Lumçi, zuständig für die Gefangenenseelsorge in Tirana, über die Gefängnisse in Albanien vorlegt: Die Zustände sind oft im wahrsten Sinn des Wortes menschenunwürdig, und Geistliche und Ordensschwestern müssen häufig auch die Familien der Häftlinge mit betreuen. Etwas besser sieht es in Rumänien aus, wo allerdings durch den Anstieg der Kriminalität in den vergangenen Jahren der Staat und die Gesellschaft vor große Aufgaben gestellt sind. Pfarrer Cristian Pavel von der Rumänischen Orthodoxen Kirche erläutert die Bemühungen der orthodoxen Kirche durch Einrichtung einer regelmäßigen Gefangenenseelsorge und Unterstützung von Hilfsprojekten, etwa einer Bäckerei, die den Gefangenen eine berufliche Perspektive nach ihrer Entlassung bieten sollen. Die Psychologin Emilia Moraru beschreibt die gesellschaftliche Entwicklung in der Republik Moldau seit der „Wende“, die zum Verfall der Familienstrukturen geführt hat, in deren Folge viele Jugendliche auch in die Kriminalität abgerutscht sind. Für jugendliche Straftäter gibt es inzwischen besondere Förderungsprogramme, die sie kurz vorstellt. Schwester Hannah Rita Laue OP aus der Gemeinschaft der Dominikanerinnen von Bethanien – diese Gemeinschaft widmet sich besonders straffällig gewordenen Frauen – schildert ihre Arbeit mit weiblichen Häftlingen in Riga. Auch hier gilt: Diese Betreuung ist viel mehr als Seelsorge, sie unterstützt den Menschen bei der Bewältigung des Gefängnisalltags, umfasst Ausbildungsmaßnahmen und kulturelle Programme und bemüht sich auch um Hilfe nach der Haftentlassung.

Abgeschlossen wird die Reihe der Beispiele mit einem ausführlichen Bericht von Erzpriester Alexander Stepanov von der Russischen Orthodoxen Kirche in Sankt Petersburg. Er beschreibt die Realität des Alltags in russischen Gefängnissen (damit knüpft sein Text an die Ausführungen von Dr. Stadelmann und Frau Professor von Gall an) und erläutert ein Projekt der Kirche für jugendliche Häftlinge. Leider überwiegt, wie er feststellt, bis heute in Russland die Meinung, der Gefängnisaufenthalt diene in erster Linie der Bestrafung; der Aspekt der Erziehung und, damit verbunden, Wiedereingliederung in die Gesellschaft kommt immer noch zu wenig zum Tragen.

Einige Literaturhinweise finden sich am Ende des Heftes. Über die Beiträge verstreut sind mehrere Abbildungen, die auf Gemälde von Häftlingen zurückgehen; auch das Motiv auf dem Umschlag des Heftes gehört dazu. Die Vorlagen hat Diakon Heinz-Peter Echtermeyer über seine Tätigkeit bei „Art and Prison“ (vgl. oben) zur Verfügung gestellt.

Ein Hinweis auf das nächste Heft: Im August 2014 wird das dritte Heft des 15. Jahrgangs erscheinen, das dem Schwerpunkt „Wege und Straßen“ gewidmet ist. Vorgestellt werden darin u. a. große Handelswege wie die Bernsteinstraße, die Seidenstraße und die „Via regia“, daneben aber auch bedeutende Straßen in Berlin, Lemberg/Lviv und Sankt Petersburg.

Dr. Christof Dahm

Inhaltsverzeichnis

82
GULag – stalinistischer Strafvollzug in der Sowjetunion
Matthias Stadelmann
93
Verbrechen und Strafe – zu den rechtlichen Grundlagen des Strafvollzugs in Russland
Caroline von Gall
104
Das „Writers in Prison“-Committee der Schriftstellervereinigung PEN
Sascha Feuchert
110
Mit dem Blick der Barmherzigkeit. Aspekte der Gefangenenpastoral
Heinz-Peter Echtermeyer
122
Gefängnisse in Albanien – der lange Schatten der kommunistischen Vergangenheit. (Fallbeispiel)
Marjan Lumçi
127
Gefängnisse in Rumänien – Orte der „Erlösung“? (Fallbeispiel)
Cristian Pavel
135
„Unsere Zukunft lilegt in unseren Händen“. Jugendliche Straftäter in der Republik Moldau. (Fallbeispiel)
Emilia Moraru
141
Aus dem Glauben Hoffnung vermitteln. Gefängnisarbeit in Riga. (Fallbeispiel)
Hannah Rita Laue
147
Der Dienst der Kirche in russischen Gefängnissen. (Fallbeispiel)
Alexander Stepanov
159
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OWEP-Redaktion

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