„Ich bin dann mal – kurz – weg“. Ein Selbstversuch auf dem Jakobsweg in Polen

aus OWEP 3/2014  •  von Markus Nowak

Markus Nowak arbeitet als Journalist in Berlin und berichtet besonders über Mittel- und Osteuropa. Er stellte auch die Abbildung zur Verfügung.

Zusammenfassung

Innerhalb weniger Jahre ist das Pilgern auf dem Jakobsweg in Deutschland sehr populär geworden – inwieweit nur als „Trend“ oder aus religiöser Überzeugung, sei dahingestellt. Auch in Polen gibt es eine lange Tradition des Pilgerns nach Santiago de Compostela. Der Autor wandert einen kleinen Teil des polnischen Jakobswegs, trifft Gleichgesinnte und stellt Beziehungen zur überlieferten Pilgertradition in Polen, etwa zur Schwarzen Madonna in Tschenstochau, her.

Der Vorstadtbus spuckte mich einige Kilometer vor der Stadt aus. Nun also befand ich mich auf ihm. Einen knappen Tag lang wollte ich es selbst mal testen, ihn selbst erlaufen: den Jakobsweg. Ich bin dann mal weg, im Schnelldurchgang. Nicht klassisch beginnend in Spanien oder Frankreich, sondern exotisch. In Polen, rund um die Stadt Toruń (Thorn). Die erste Ortschaft ist ein typisches Angerdorf. Auf einer Laterne nistet ein Storch, unweit der Bushaltestelle toben Kinder auf dem Spielplatz. Auf einem kleinen Hügel stehen alte Gräber mit rausgeritzten Inschriften: der alte evangelische Friedhof aus deutscher Zeit. Entlang der geteerten Straße stehen vereinzelte Häuser, manche aus Backstein. Tags zuvor saß ich noch im Auditorium der Thorner Universität. Die UMK, wie die Nikolaus-Kopernikus-Universität Toruń verkürzt heißt, lud zu einer Konferenz. Thema: Der Jakobsweg in Theologie, Kunst, Geschichte und Gegenwart. Die Referate beleuchteten Santiago de Compostela als touristische Stadt oder den Alltag der Jakobspilger im Mittelalter.

Austausch unter Freunden

Immer häufiger finden zwischen Oder und Bug Symposien mit der Jakobsweg-Thematik statt. Es ist ein wissenschaftlicher Austausch, aber auch ein Treffen unter Gleichgesinnten, manchmal gar Freunden. Oder aber Pfarrgemeinden und Touristikvereine laden dazu ein, einen Abschnitt des polnischen Jakobswegs gemeinsam zu gehen. Ein Wochenende in Poznań (Posen), am nächsten geht es rund um Piekary Śląskie (Deutsch Piekar) oder eben durch Toruń. Bei solchen Treffen können die Gespräche mit den Teilnehmern erhellend sein.

Mit Edward Czerna etwa, aus Bolesławiec (Bunzlau). Das Alter möchte der Rentner nicht verraten. Mit Stolz berichtet er, mindestens 2.500 Kilometer durch Polen gepilgert zu sein, zu Fuß. Also schon 2.496 Kilometer mehr, als ich entlang des Camino Polaco, wie dieser Teil des Jakobwegs zwischen Oder und Bug genannt wird, gelaufen bin. Auch in Deutschland, Tschechien und natürlich Spanien und Frankreich war Czerna auf dem Jakobsweg unterwegs. Früher war ich oft auf Wallfahrten. Aber ich habe das nicht ganz gespürt. Ich konnte mich da nicht wiederfinden, erzählt der Rentner. Da ist alles von A bis Z durchorganisiert. Hier wird das gebetet, dort wird heute das gegessen. Auf dem Jakobsweg ist das anders. Czerna kommt ins Schwärmen. Vor 20 Jahren begann der Rentner, noch als Bergmann, an organisierten Wallfahrten die Sanktuarien Polens zu besuchen. Częstochowa (Tschenstochau) etwa, oder das Heiligtum der Göttlichen Barmherzigkeit in Krakau-Łagiewniki. Durch einen Zufall erfuhr er vor zehn Jahren vom Jakobsweg, der in Polen gerade im Entstehen war: Erst als ich alleine von Jakubów nach Zgorzelec gegangen bin, habe ich gemerkt, was ich brauche: Stille. Czerna entdeckte den Camino für sich und wurde Opiekun Szlaku, wie er es nennt: Weg-Betreuer. Die Strecke Bolesławiec bis Nowogrodziec (Naumburg am Queis) ist sein Revier, rund 20 Kilometer entlang der Via regia, einer alten Handelsstraße, die mitten durch Schlesien führte.1 Im 13. Jahrhundert wurde diese erstmals als „strata regia" (königliche Straße) erwähnt. Ihre Anfänge sollen jedoch älter sein. Sie verband einst die Kiewer Rus‘ mit dem Westen Europas, war Fernhandelsweg, wurde wiederholt von Armeen als Militärstraße genutzt und war bereits im Mittelalter Pilgerroute nach Santiago de Compostela. Im Jahr 2005 wurde die Via regia vom Europarat zur europäischen Kulturstraße erklärt. Wer in Görlitz die wiederaufgebaute Altstadtbrücke überquert, kann von da aus über den Ökumenischen Pilgerweg und die westeuropäischen Jakobswege bis nach Santiago kommen.

Der EU-Beitritt Polens 2004 und die Brückenöffnung im gleichen Jahr ermöglichten erst den Anschluss der beiden Pilgerrouten, erklärt Waldemar Rozynkowski, Professor für mittelalterliche Geschichte an der Thorner Universität. Die EU hat uns eine breitere Perspektive gezeigt, denn jetzt ist es kein Problem mehr für uns, Grenzen zu durchqueren, sagt Rozynkowski.

Tradition oder mehr?

Immer lauter ist ein Rauschen zu hören, fast wie am Meer. Aber es sind Autos der nahenden A 1, der ich mich nähere. Die zweispurige Schnellstraße verbindet die Hauptstadt Warschau mit Danzig und der Ostsee. Eine Überführung führt über die Autobahn, rechts davon bellen wieder Hunde, diesmal auf einem großen Bauernhof. Stallgeruch dringt bis zur Straße. Von diesem Ort aus liegt Spanien bis heute am Ende der Welt.

Die Wallfahrtstradition auf dem Jakobsweg stammt aus dem Mittelalter. Der Name bezieht sich auf den Apostel Jakobus den Älteren und dessen Grabstätte in Santiago de Compostela. Jakobus war sowohl bei der Verklärung Jesu als auch im Garten Gethsemane zugegen. Überlieferungen zufolge verkündete er nach Pfingsten das Evangelium in der Gegend um Samaria und Jerusalem, später ging er als Missionar auf die iberische Halbinsel. Nach seiner Rückkehr wurde er enthauptet und somit zum ersten Märtyrer unter den Aposteln. Der Leichnam soll nach seinem Tod in einem Boot nach Galicien gebracht und dort begraben worden sein – in Santiago de Compostela. Seit dem 12. Jahrhundert wird die Pilgerfahrt zu seinem Grab im Jakobsbuch, einer wichtigen Quelle zur Verehrung des Heiligen, erwähnt. Jakobus ist der Schutzheilige von Spanien, aber auch Patron der Pilger und vieler anderer, wie Krieger, Arbeiter oder auch Hutmacher und Drogisten.

Einen mittelalterlichen Kult um den heiligen Jakobus gab es auch in Polen, erklärt Rozynkowski. Der große Teil der etwa 150 Jakobuskirchen im heutigen Polen wurde bereits im Mittelalter errichtet. Wir müssen also nicht alles erfinden, sagt Mittelalterhistoriker Rozynkowski. Es kann viel aus der Geschichte der einzelnen Ortschaften geschöpft werden. So liegen entlang jeder Teilstrecke des polnischen Jakobswegs bedeutende Kirchenbauten, wie etwa die St. Jakobus-Kirche im ermländischen Olsztyn (Allenstein) oder die Jakobuskathedrale im pommerschen Szczecin (Stettin).

Rozynkowski bezeichnet die Entstehung der Jakobuswege seit 2005 als Reaktivierung alter Pfade. Einschlägige Jakobswege wie der Camino Francés in Spanien seien aus Polen zwar nicht überliefert. Die Routen der polnischen Pilgerpfade verlaufen jedoch entlang alter Handelswege, wie der Via regia im Süden oder der Bernsteinstraße2 im Norden. Insgesamt 20 offizielle Camino-Wege gibt es derzeit in Polen. Der längste ist die bereits erwähnte Via regia, die mittlerweile von der ukrainischen Grenze bei Medyka über Krakau und den schlesischen Annaberg über 935 Kilometer bis nach Görlitz führt, von Osten nach Westen. Eine weitere Pilgerroute in gleicher Himmelsrichtung verläuft von Litauen aus durch die Wälder Masurens über Olsztyn nach Trzemeszno. Droga Polska (polnischer Weg) oder Camino Polaco wird dieser genannt.

Langes Wegenetz in Polen

Die polnischen Jakobswege haben zurzeit eine Gesamtlänge von 5.000 Kilometern. Neben den zwei langen Ost-West-Wegen verbindet der Großpolnische Jakobsweg seit 2006 auf 235 Kilometern Gniezno (Gnesen), die erste mittelalterliche Hauptstadt des Landes, mit der Via regia. Entlang der Ostsee besteht seit Sommer 2013 der Pommersche Jakobsweg, auch als Camino Polaco del Norte bezeichnet.3 Jährlich werden es immer mehr, aber wirklich lange Wege werden nicht mehr angelegt, glaubt Emil Mendyk. Der 42-Jährige ist Touristenführer und Übersetzer und gilt als der Initiator der polnischen Jakobswege vor zehn Jahren. Polen ist aus der Sicht der Jakobswege bereits gut erschlossen, sagt Mendyk. Von fast jedem Ort aus sind es keine 50 Kilometer zu einem der Muschel-Pfade. Denn auch in Polen werden die Jakobswege mit der Jakobs-Muschel markiert. Auf Hinweisschildern oder einfach mit einem Pfeil an einem Laternenmast zeigt sie den Pilgern den Weg. Wir wollen auch keine Inflation der Wege, sagt Mendyk, der zugleich Vorsitzender des Freundschaftsvereins der Jakobswege ist.

Der polenweit tätige Verband hat sich zum Ziel die Wiederbelebung, Organisierung und Propagierung der Jakobswege gesetzt. Und obwohl eine ganze Reihe kirchlicher Amtsträger – darunter auch der Vorsitzende der Polnischen Bischofskonferenz, Erzbischof Stanisław Gądecki – die Entstehung des Jakobsweg mit offiziellen Schreiben begrüßen, will der Verein einen „ökumenischen Charakter der Wege pflegen, damit er Raum für Menschen (ist), die auf der Suche nach Spiritualität auch außerhalb der Kirche sind“4.

Zwar wird in Polen von – statistisch – über 90 Prozent Katholikenanteil gesprochen, doch auch glaubende Polen seien häufig müde von der traditionellen Religion. Sie suchen neue Formen und Zeichen des Glaubens, und vielen kann der Camino gerade das bieten, glaubt Emil Mendyk. Hier liege eine Chance, den Pilgerweg auch in Polen zu etablieren. Dass dies allerdings noch nicht geschehen ist, belegen etwa Übernachtungszahlen in den Herbergen, wie Pfarrhäuser und Klöster, entlang der Route. Sie sind auf dem polnischen Jakobsweg nicht gerade überwältigend, gibt Mendyk zu. Aber Zahlen – oder Prozente, wir lassen uns oft davon blenden, erklärt der Camino-Freund. Auf dem Jakobsweg gehe es um die Erfahrung der einzelnen Menschen. Wenn es eine Person ist, dann ist das gut, wenn es mehr sind, dann umso besser, konstatiert Mendyk.

Konkret heißt das: Auf den 5.000 Kilometern Jakobsweg sind 2013 zwischen Oder und Bug 1.000 bis 1.200 Pilger unterwegs gewesen. Im gleichen Jahr haben mehr als doppelt so viele Polen (2.515, Fahrradfahrer eingeschlossen) Santiago di Compostela zu Fuß erreicht. Wobei auch diese Zahl angesichts der 192.488 Gesamtpilger (davon 164.778 zu Fuß) an das Grab des heiligen Jakobus noch immer relativ gering ist. Ohnehin sei das Zentrum der meisten Wallfahrer – zu Fuß – nicht Santiago, sondern in Polen, nämlich Tschenstochau, gibt Mendyk zu bedenken. Im Jahr 2013 sind 805.261 Menschen auf den Hellen Berg, wie das Paulinerkloster mit dem Bild der Schwarzen Madonna heißt, zu Fuß gegangen.

Politisches Bekenntnis und mehr

In Tschenstochau war ich auch schon mal. Jedoch eher als Tourist, denn als Wallfahrer. Damals noch als Kind. Beeindruckend waren die Hunderte von Rosenkränzen, Goldketten und Medaillons, die in der Nähe des Madonna-Bildes hingen. Sie seien Zeichen der Dankbarkeit, wenn Gebete und Intentionen erhöht wurden, machte mir meine Mutter bei dem Besuch klar. Wallfahrtsorte in Polen, aber auch manche Seitenaltäre in polnischen Kirchen, sind voll von diesen Dankesbekundungen aus Edelmetall.

Die kleine spätgotische Dorfkirche auf meinem Weg hat jedoch keinen Seitenaltar mit dutzenden Rosenkränzen. Ohnehin versperren Gitter den Zutritt zur Kirche. Dann eben keine Besichtigung, sondern weiter geht’s. Eine auf einen alten hölzernen Strommast aufgemalte gelbe Muschel zeigt den Weg über eine Brücke. Darunter fließt die Drwęca (Drewenz), ein Zufluss zur Weichsel. Die Straße verliert immer mehr ihren dörflichen Charakter, die Häuser werden immer größer und neuer. Die kleine Ortschaft verwandelt sich mit jedem Schritt in eine Vorstadt Toruńs.

Foto: Markus Nowak

Jeder Schritt eines polnischen Pilgers in Richtung der großen Wallfahrtsorte war in der Vergangenheit nicht nur Ausdruck der Volksfrömmigkeit, sondern hatte auch eine politische Dimension. Im 19. Jahrhundert, als Polen unter Österreich, Preußen und Russland aufgeteilt war, waren Wallfahrten auch ein nationales Manifest, um dafür zu beten, dass der eigene Staat wiedererstehen werde. Im 20. Jahrhundert – insbesondere in der Zeit des Kommunismus – waren Wallfahrten dann zweierlei: Ausdruck der Zugehörigkeit zu der von den kommunistischen Machthabern bekämpften katholischen Kirche. Zugleich ein Manifest des Missfallens gegen das Moskautreue Regime in Warschau. Eine Art politisch-religiöse Demonstration gegen die Volksrepublik. Angesichts dessen versuchten die Behörden in jener Zeit gerade die Fußwallfahrten nach Tschenstochau zu unterbinden oder zumindest zu behindern. Dennoch kamen etwa im August 1957 zu einer Gebetswoche die Rekordsumme von bis zu einer halben Million Gläubigen auf den Hellen Berg nach Tschenstochau.

Die Wallfahrten waren eine Auflehnung der Massen, resümiert Kirchenhistoriker Rozynkowski. Auf den Jakobsweg gehe man jedoch alleine. Der Camino-Weg ist – schon wegen der geringeren Zahlen – keine Konkurrenz zu den polnischen Massenwallfahrten. Das sind zwei verschiedene Welten, sagt Rozynkowski. So haben die großen Pilgergruppen immer auch eine Begleitung durch einen Geistlichen. Der Jakobsweg führe zwar an Kirchen, Klöstern und Kapellen vorbei, aber in die Gotteshäuser einzutreten, sei nur ein Angebot. Darin sieht auch Emil Mendyk eine neue Qualität des Pilgerns zwischen Oder und Bug. Es ist nicht mehr politisch, es treffen sich Linke und Rechte und unterschiedliche Konfessionen und auch Agnostiker. Der Camino sei nicht nur Weg, sondern ein Ort zum Treffen. Nicht nur von Menschen, sondern auch von verschiedenen Ebenen, von Kultur, Wirtschaft, regionaler Entwicklung, Identität.

Die religiöse Komponente ist aber – gerade in Polen – die wichtigste. 80 Prozent der polnischen Pilger sind aus religiösen Gründen unterwegs. Dagegen sind nur 50 bis 60 Prozent derjenigen, die bis Santiago laufen, aus religiösen Motiven unterwegs, erzählt Mendyk.

„Trend“ im Osten angekommen

Die Frage nach den Motiven stellt sich vor allem, wenn man jemandem von seinem Vorhaben berichten will, habe zumindest ich festgestellt. Ähnlich wie Hape Kerkeling habe auch ich Freunden angekündigt „Ich bin dann mal weg!“ – gewundert haben sich die meisten aber über den Zusatz: auf dem Jakobsweg in Polen.

Menschen, die sich auf den Camino machen, unterteilt Andrzej Kołaczkowski-Bochenek dagegen in drei Gruppen: Diejenigen, die Hape Kerkelings Buch „Ich bin dann mal weg“5 gelesen haben, somit seiner Meinung nach der größte Teil der Deutschen; diejenigen, die nach Paolo Coelho Jakobsweg-Lektüre6 losgepilgert sind, und den Rest der Welt. Kołaczkowski-Bochenek, der selbst in Deutschland lebt, hatte Hape Kerkeling zur Hand genommen und ist daraufhin nach Santiago aufgebrochen. Der Aufruf in seinem Buchtitel „Mensch, geh da nicht hin!“7 ist als Warnung zu verstehen, der Weg verändert Menschen. Kołaczkowski-Bocheneks ursprüngliche Motivation war eher touristisch und keineswegs religiös. Sein Buch ist eins von wenigen nicht von Priestern verfassten Berichten über den Jakobsweg in polnischer Sprache. Der Markt an Camino-Literatur ist – die Pilgerführer des polnischen Jakobsweg-Freundeskreises eingeschlossen – überschaubar. Erst „Ich bin dann mal weg“ popularisierte in Deutschland den Jakobsweg und ließ die Zahlen der deutschen Pilger steigen, obwohl eine erste Wiederbelebung der Pilgerfahrt nach Santiago bereits in den siebziger Jahren und spätestens mit dem Besuch von Johannes Paul II. 1982 in den achtziger Jahren stattgefunden hat.

Eine Wiederbelebung des einsamen Pilgerns sieht Emil Mendyk auch für Polen. Es ist eine späte Renaissance, im Vergleich etwa zu den Franzosen. Aber bei uns war die Freiheit auch später da, 1989. Polen erlebe seit der Wende eine Aufholjagd nicht nur wirtschaftlich, sondern auch in Bezug auf gesellschaftspolitische Veränderungen. Sie bringe eine geistige Not, die sich nun auch in Polen zeige, glaubt Mendyk. Pilgerfahrten sind seit Jahrhunderten eine Antwort auf religiöse oder innerliche Bedürfnisse, ergänzt Waldemar Rozynkowski. Im 21. Jahrhundert ist es der Camino, auf dem man übrigens auch der Natur nahekommt.

Von Natur kann, in Toruń angekommen, allerdings keine Rede sein. Rechts beginnt eine Plattensiedlung. Der Jakobsweg biegt links ab, neben einer Magistrale in Richtung Zentrum. Noch wenige hundert Meter und ich werde das Ziel erreicht haben: die Altstadt, UNESCO-Weltkulturerbe ebenso wie der Jakobsweg selbst. Die Jakobskirche ist wichtigste Anlaufstelle für die Camino-Pilger in der Stadt, ehe es zum Schlafplatz in einer Pfarrei oder weiter gen Westen geht.

Für mich ist es der Bahnhof die Anlaufstelle, dort wartet der Zug für die Heimreise. Schade, denke ich. In diesem Moment fährt erneut der Vorstadtbus vorbei, der mich raus aufs Land zum Jakobsweg gebracht hat. Nur kurz denke ich ans Einsteigen, denn mittlerweile ist ein neuer Gedanke in mir gewachsen: Camino, ich komme wieder. Und dann nicht nur für einen Tag. Dann bin ich wirklich mal weg.

Seit dem Mittelalter sind Pilgerreisen aus dem heutigen Polen nach Santiago de Compostela bekannt; zahlreiche Kirchen mit dem Patrozinium des heiligen Jakobus belegen die frühe Verehrung dieses Apostels. In den letzten 25 Jahren ist diese Tradition wiederbelebt worden. Die zahlreichen kleinen Pilgerpfade, die vielfach entlang alter Handelsstraßen verlaufen, werden ausgebaut und erfreuen sich wachsenden Interesses.


Fußnoten:


  1. Den ungefähren Verlauf der Via regia (und damit eines Teils des Jakobswegs) zeigt auch die Skizze im Editorial des vorliegenden Heftes. Ausführliche Hinweise bietet außerdem der Beitrag von Katarzyna Zinnow↩︎

  2. Vgl. dazu den Beitrag von Michael Erdrich in vorliegendem Heft und die Skizze im Editorial↩︎

  3. Einen Überblick über Routen und Pläne, aber auch Hinweise auf Tagungen und gemeinsame Pilgertouren bietet die Internetseite des polnischen Vereins „Freunde der Wege des heiligen Jakobs in Polen“ (Przyjaciele Dróg św. Jakuba w Polsce) http://www.camino.net.pl↩︎

  4. http://www.camino.net.pl/camino-polska/patronat/ (letzter Zugriff: 03.11.2017). ↩︎

  5. Erstveröffentlichung am 22. Mai 2006. ↩︎

  6. Paolo Coelho: Auf dem Jakobsweg. Tagebuch einer Pilgerreise nach Santiago de Compostela. Zürich 1999. ↩︎

  7. Andrzej Kołaczkowski-Bochenek: Nie idź tam, Człowieku! (Mensch, geh da nicht hin!). Krakau 2009, S. 5 f. ↩︎