OWEP 3/2014
Schwerpunkt:
Wege und Straßen
Editorial
Ganz selbstverständlich gehen und fahren die Menschen in allen Ländern und Kontinenten auf Wegen und über Straßen. In dieser OWEP-Ausgabe konzentrieren wir uns, dem Fokus unserer Zeitschrift verpflichtet, auf bekannte und weniger bekannte Wege und Straßen in den Städten und zwischen den Ländern Mittel- und Osteuropas.
Vielen wird der Freiheitsprospekt im ukrainischen Lemberg kaum bekannt sein. Er ist aber für die Menschen, die dort lebten und leben, zu einem eindrücklichen Symbol geworden. Gleiches gilt für den Newski-Prospekt in Sankt Petersburg. Eine Straße, die heute auch ein touristisches Highlight ist. Eine bewegte Geschichte hat auch die Stalinallee in Berlin. Wir bieten eine Spurenlese an.
Symbolische Bedeutung haben und reich an geschichtlichen Ereignissen sind die großen Straßen, die durch Europa führen, die Länder miteinander verbinden. Ihre Ursprünge reichen weit in die Tiefe der Geschichte hinab, so etwa die Via regia aus der Römerzeit, die Bernsteinstraße und der legendäre Autoput. Über die Wege durch Europa zieht sich nicht nur ein Geflecht von „guten“ und friedlichen Straßen. Die Balkanroute gehört zu den kriminellen Wegen und Straßen, die es gab, gibt und geben wird. Ihr widmen wir einen eigenen Beitrag.
Wege und Straßen waren und sind nicht nur funktionale, etwa dem Handel und der Wirtschaft verpflichtete Verbindungen. Sie waren und sind auch Pilgerwege, auf denen die Menschen bis heute dem Geheimnis ihres Menschseins auf der Spur sind. Als Beispiel gilt der Jakobsweg in Polen, Teil eines dichten Straßennetzes, das den ganzen Kontinent wie mit großen und kleinen Lebensadern überzieht. Am Ende des Heftes blicken wir schließlich auf die Seidenstraße. Heute ein Reiseziel im Angebot der großen Reiseveranstalter, gestern – und heute immer noch – eine Handelsstraße, auf der, weit über Europa hinaus, Waren, aber auch Religionen und Kulturen „transportiert“ wurden und werden: geheimnisvoll, erlebnisreich und exotisch. Über Fakten und geschichtliche Daten hinaus wollen wir darauf aufmerksam machen, dass Wege und Straßen mehr sind als Wege und Straßen.
Die Redaktion
Kurzinfo
Fortbewegung ist grundlegendes Kennzeichen menschlichen Lebens und lässt sich auch im übertragenen Sinn verwenden, etwa im Begriff des „Lebensweges“ oder im geflügelten Wort „Stillstand bedeutet Rückschritt“. Auf Wegen und Straßen spielt sich ein großer Teil des menschlichen Lebens ab. An ihnen lassen sich historische und kulturelle Entwicklungen ablesen, viele Wege haben ganze Epochen geprägt. Das aktuelle Heft der Zeitschrift OST-WEST. Europäische Perspektiven bietet eine keineswegs repräsentative, vielleicht aber doch interessante Auswahl von Wegen und Straßen, die für die genannten Aspekte stehen sollen.
Den Beiträgen vorgeschaltet ist eine Skizze, auf der einige der im Heft vorgestellten Routen bzw. Orte, deren Hauptachsen vorgestellt werden, erscheinen. Eine Betrachtung von Prof. Dr. Michael Albus, dem verantwortlichen Redakteur unserer Zeitschrift, leitet die Abfolge der Texte ein. „Ich fahr dahin mein‘ Straßen“ – unter diesem Motto umreißt er kurz die Bedeutung der Thematik für die menschliche Existenz.
Immer wieder werden Straßen im Zuge historischer und politischer Veränderungen umbenannt. Die ukrainische Soziologin Viktoria Sereda, Dozentin für Geschichte und soziologische Theorie an der Ivan-Franko-Universität in Lemberg, schildert die Geschichte des Freiheitsprospekts (Prospekt Svobody) in Lemberg von seiner Entstehung im frühen 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart; er wurde nicht weniger als elfmal umbenannt. Von einem Weg im engeren Sinne kann man beim nächsten Beitrag kaum sprechen, eher von einem ausgedehnten, ganz Europa überziehenden Netz: dem Jakobsweg. In seinem launig geschriebenen Essay wandert der in Berlin lebende Journalist Markus Nowak ein kleines Stück auf dem Jakobsweg in Polen, beschreibt die Geschichte des Pilgerns nach Santiago de Compostela und setzt sie in Beziehung mit traditionellen polnischen Pilgerzielen.
Der Blick geht im folgenden Beitrag nach Südosteuropa, näherhin in das Gebiet des ehemaligen Jugoslawien. Heutzutage ist der Begriff „Autoput“ kaum mehr bekannt, die ältere Generation hingegen verbindet damit Erinnerungen an Fahrten auf der durchgehenden Schnellstraße quer durch das Land Titos von der österreichischen Grenze bis nach Griechenland. Ihr Bau stand unter dem Motto „Brüderlichkeit und Einheit“, der kroatische Schriftsteller und Fotograf Edi Matić lässt seinen Onkel Leo, der selbst als Jugendlicher beim Bau der Schnellstraße mitwirkte, zu Wort kommen. Die Einheit des Staates ist blutig zerbrochen, es bleiben Erinnerungen an eine Straße, die die Menschen verband und nicht trennte. Das heutige Straßennetz in Südosteuropa – und damit auch der ehemalige Autoput – bildet leider auch den Transportweg für kriminelle Machenschaften aller Art, vom Drogen- und Waffenschmuggel bis hin zum Menschenhandel. Im Beitrag von Dr. Anna-Maria Getoš Kalac, Dozentin an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Zagreb, werden die Dimensionen der „Balkan-Route“ vorgestellt. Immerhin besteht zur Hoffnung Anlass, dass durch internationale Zusammenarbeit das ebenso international agierende Verbrechen eingedämmt werden kann.
Weit in die Vorgeschichte Europas führt Prof. Dr. Michael Erdrich, Dozent am Institut für Archäologie der Maria-Skłodowska-Universität Lublin, die Leser mit seinem Aufsatz über die „Tränen der Götter“ zurück. Bernstein von der Ostseeküste war schon in der Antike ein äußerst begehrter Schmuckstein und wurde über z. T. noch heute kaum erforschte Wege, die seit Ende des 18. Jahrhunderts summarisch als „Bernsteinstraße“ bezeichnet werden, in ganz Europa gehandelt und in unterschiedlicher Art und Weise genutzt. Der Autor lässt dazu die antiken Autoren sprechen und führt zahlreiche Beispiele für die Verwendung des fossilen Harzes an.
Zwei Straßen in zwei bedeutenden europäischen Metropolen stehen im Mittelpunkt der folgenden Texte. Zunächst stellt der aus Sankt Petersburg stammende Kulturwissenschaftler Alexey Gorin die Haupt- und Prachtstraße seiner Heimatstadt vor, den Newski-Prospekt. Bis in die Zeit Peters des Großen zurückgehend, mehrfach unterbrochen durch Zitate bedeutender Schriftsteller, vermittelt er einen tiefen Eindruck von Kultur und Geist, der den Prospekt und die Menschen, die auf und mit ihm lebten und leben, prägt. Im Anschluss daran beschreibt Prof. Dr. Jörn Düwel, Professor für Geschichte und Theorie der Architektur an der HafenCity Universität Hamburg, die Entwicklung der Architektur der DDR von ihren Anfängen unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg, den Auseinandersetzungen um die Art des Wiederaufbaus bis hin zur Erstarrung im zuletzt typisch gewordenen Plattenbau. Ein gutes Beispiel für diese Entwicklung ist die Anlage der Stalinallee in Berlin, an der sich die verschiedenen Stadien nachvollziehen lassen.
Zurück in die gesamteuropäische Geschichte lenkt der Text der in Görlitz lebenden Kunsthistorikern Dr. Katarzyna Zinnow. Auf der Via regia, der „Königsstraße“, die seit dem Mittelalter entlang der Nordseite des Mittelgebirgskamms verlief und Städte wie Leipzig, Görlitz, Breslau, Krakau und Lemberg miteinander verband, lassen sich wichtige Abschnitte der europäischen Kunst- und Kulturgeschichte aufzeigen. Die Via regia war auch in das System der Jakobswege eingebunden und wird heute, ebenso wie der Weg nach Santiago de Compostela, von vielen Menschen neu entdeckt.
Die Abfolge der Beiträge beschließt der an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg lehrende Osteuropahistoriker Privatdozent Dr. Rudolf Mark, der einen der ältesten und bedeutendsten Handelswege Asiens vorstellt, die Seidenstraße. Von der Antike bis in die Neuzeit verband sie Menschen und Kulturen. Handelswaren ebenso wie geistige Güter gelangten über sie vom Orient in den Okzident und umgekehrt.
Ein Hinweis auf das nächste Heft: Im November 2014 wird das vierte Heft des 15. Jahrgangs erscheinen, das sich mit der Ukraine vor dem Hintergrund der jüngsten Geschehnisse befassen wird.
Dr. Christof Dahm