„Brüderlichkeit und Einheit“: Der Autoput
Zusammenfassung
In den fünfziger Jahren als Magistrale quer durch das damalige Jugoslawien entstanden, war der Autoput mehr als nur eine Schnellstraße. Er verband die verschiedenen Teilrepubliken unter dem Motto „Brüderlichkeit und Einheit“ und steht in der Erinnerung des Protagonisten folgender Erzählung – des Onkels des Autors – für das, was binnen weniger Jahre nach dem Tode Titos durch die Unvernunft der Menschen untergegangen ist: das friedliche Zusammenleben verschiedener Ethnien und Religionen im Südosten Europas.
Hm, über den Autoput, die Autobahn „Brüderlichkeit und Einheit“, soll ich schreiben – das ist wie eine Reise in die Vergangenheit.1 In Gedanken habe ich die 1.100 Kilometer zwischen Jesenice und Gevgelija abgezählt, an denen über 335.000 Jugendliche, Ingenieure, Bauarbeiter und Soldaten gearbeitet haben. Ich habe die möglichen Tonnen Asphalt notiert und die Städte, durch welche der berühmte Autoput geht, und alles in allem ein paar Tage lang intensiv Erinnerung und Phantasie bemüht. Bis völlig zufällig Onkel Leo vorbeikam.
An diesem Sonntag hatten wir uns wieder im Haus meiner Eltern zum Familienessen getroffen. Ein Vergnügen für die Rentner, die sich die Gesellschaft der Kinder und Enkel wünschen, und sehr praktisch für uns, die wir sonntags nicht gerne kochen – auch nicht an anderen Tagen. Onkel Leo hatten wir schon seit einigen Jahren nicht gesehen. Er ging seiner Wege und war auf eine Insel gezogen, wo er Oliven anbaute. Er fehlte mir all diese Jahre, er war einer der Helden meiner Kindheit und Jugend, derentwegen ich das ziellose Reisen lieben gelernt habe, die Stones hörte, Gitarre spielte und an Arbeitseinsätzen teilnahm. Beim Mittagessen tauchte er überraschend auf, als ob er geahnt hätte, dass ich seit Tagen über den bestellten Text grübelte.
„Onkel, du kennst doch die Straßen, erzähl mir doch etwas über die Autobahn ‚Brüderlichkeit und Einheit‘!“
Leo dachte nach, nahm den Becher mit Wein und füllte ihn langsam nach, als ob er sich dadurch vorsichtig in die Abgründe der Vergangenheit hinunterlassen würde. Er hob das Glas auf Augenhöhe und blieb so, ohne ein Wort zu sagen oder einen Schluck zu trinken. Ich zählte bis zehn, dann bis zwanzig, aber auch weiterhin kamen keine Worte. Nur ein Tropfen zog von dem taufeuchten Glas in sein Auge um. Oder es schien mir nur so. Mutter stand auf, um Kuchen und Kaffee zu bringen, die Kinder meiner Schwester saßen schon vor dem Fernseher, und ich wartete weiter. Leo murmelte etwas und seufzte tief.
„Und?“ - „Sei ruhig, Kleiner!“ – Ich ahnte, dass es einen Teil der Geschichte gibt, weswegen er warten wollte, bis wir unter uns waren; gleichzeitig begann ich auf der Serviette die Umrisse des ehemaligen Jugoslawiens zu malen. Ich markierte Jesenice in Slowenien als Ausgangspunkt, von wo die Autobahn durch vier Republiken zog, und Gevgelija in Makedonien als Endpunkt.
„Jovana hieß sie. Und die schönsten Geschichten von der Autobahn hängen mit ihr zusammen“, flüsterte er, während er sich über den Tisch beugte, um den Aschenbecher zu erreichen und sich umzusehen, ob jemand in der Nähe war, „aber darüber reden wir unter vier Augen.“
Mit einer Gruppe von Schulfreunden hatte er sich zum Arbeitseinsatz gemeldet. Er suchte sich nicht aus, wo oder was er arbeiten sollte. Es war nur wichtig, sich nützlich zu fühlen, neue Bekanntschaften zu machen und einige Zeit weit weg von Zuhause zu verbringen, und die Arbeitseinsätze boten all das. Im Sommer 1960 fuhr er nach Makedonien und half dort beim Bau der Autobahntrasse zwischen Grdelica und Skopje. Später erzählte er, wie sie mehr als 100 Stunden nach Skopje unterwegs waren, mit Zügen, Bussen, Lastwagen und dann wieder Zügen, aber als er auf der Baustelle die Camps mit den Baracken sah, in denen tausende Jugendlicher wohnten, waren die durchwachten Nächte und die heißen Tage sofort vergessen.
„Die Jugendlichen heute haben keine gute Perspektive“, sagte er, während er den Rauch seiner Zigarette ausatmete, „man sollte wieder solche Arbeitseinsätze organisieren. Damit sie sich wichtig und nützlich fühlen, damit sie begreifen, was Disziplin und Verantwortung ist.“
Das Leben in den Camps war streng, aber gut organisiert. Wecken war jeden Morgen um vier Uhr, danach wurden die Baracken aufgeräumt, dann gab es Morgenwäsche, Gymnastik und Frühstück, und schließlich ging es los auf die Baustelle. Fast jeden Abend gab es in den Camps Unterhaltungsprogramm, etwa Konzerte, Auftritte von Ensembles oder von Schauspielergruppen. Müde von der anstrengenden Arbeit, aber voller Lebensfreude erwarteten sie die Abendstunden des Ausruhens und der Erholung. Er zeigte seine Handflächen und erzählte, wie sie in den ersten Tagen voller blutiger Blasen waren, aber das hinderte ihn ebenso wenig wie die anderen daran, jeden Tag aufs Neue zur Schaufel zu greifen und an der unübersichtlichen Trasse zu graben, als ob er vorhatte, sie alleine zu bahnen. Tatsache ist, dass Leo und seine 46.698 Genossen Brigadiere und Jugendlicher („omladinci“) es geschafft haben, 138 Kilometer der Wegstrecke zwischen Grdelica und Skopje auszugraben, einzuebnen und fertigzustellen. Natürlich mit Hilfe von Maschinen, aber dennoch waren menschliche Kraft, Wille und Entschlossenheit die wichtigsten Faktoren für den Erfolg der Arbeit. Brigadierblusen, sogenannte „brigadirke“, waren in Mode, sie wurden mit Stolz auch nach Abschluss des Arbeitsdienstes mit Abzeichen und gestickten Emblemen der Brigade auf dem rechten Ärmel getragen.
Die Jugendlichen waren überall dabei, wo in Jugoslawien gearbeitet wurde. Von Eisenbahnstrecken über Wasserkraftwerke und Fabriken bis zu lokalen Straßen. Die ersten Arbeiten am Autoput begannen direkt nach dem Zweiten Weltkrieg und dauerten bis 1950, als sie wegen der Wirtschaftsblockade Jugoslawiens unterbrochen wurden.
Der Aufruf von Josip Broz Tito am 27. Januar 1958, dass der Ausbau der Autoputs fortgesetzt werden sollte, leitete eine neue Phase der Arbeitseinsätze ein. Mit wenigen oder gar keinen Maschinen, unter den dürftigen Bedingungen in Unterbringung und Verpflegung, aber mit riesigem Enthusiasmus wurde unter dem Slogan „Keine Erholung, solange die Erneuerung andauert“ der Ausbau der neun Meter breiten Straße auf einer Strecke von 382 Kilometern zwischen Zagreb und Belgrad begonnen.
„10 Jahre, mein Kleiner, 10 Jahre, jeden Monat ein Treffen auf der Autobahn.“ – „Und?“ – „Na, mit Jovana. Ich erinnere mich an unsere Übernachtung in Batrovci. Genau auf der heutigen Grenze zwischen Kroatien und Serbien …“– „Warte, warte. Gibt’s diese Geschichte auch mit einem Anfang? Ich verstehe gar nichts. Welche Jovana, welches Batrovci?“
„Sei ruhig, Kleiner, frag nicht zu viel. Du weißt, dass ich mein Arbeitsleben an guter Stelle im Wasserkraftwerk verbracht habe, und Verträge mit der Baufirma zu verhandeln bedeutete auch ständiges Reisen. In Belgrad habe ich Jovana kennengelernt und ihr danach ohne Probleme eine Anstellung im Einkauf der Fabrik Zastava2 besorgt, sodass sie auch häufig reisen konnte. Wie ich ihr die Stelle besorgt habe? Na, mein Kleiner, ich war bei den Jugend-Arbeitseinsätzen der jüngste ‚Stoßarbeiter‘. Das brachte Kontakte mit einflussreichen Menschen, und das war wichtig im Sozialismus, genauso wie heutzutage. Also, um es kurz zu machen, von Jovana konnte ich mich nicht trennen, aber wir konnten auch nicht zusammenkommen, aus einem damals seltsamen Grund, und das waren unsere Eltern. Ihre hätten mich niemals in ihr Haus aufgenommen, weil ich Kroate bin, aber auch meine sie nicht, als Serbin. Ja, so waren sie. Alles „Brüderlichkeit und Einheit“ in der Öffentlichkeit, aber Schwiegersöhne und -töchter nur aus dem eigenen Volk. Ist es dir jetzt klar?“
Es war mir nicht ganz klar, aber dafür hatte ich meine Geschichte vom Autoput. Leo dachte sich, neben seinen sowieso häufigen Geschäftsreisen, einmal im Monat eine Verpflichtung aus und verschwand für ein paar Tage. Er setzte sich in seinen Dienstwagen, einen Fiat 132, und fuhr über die Autobahn von Zagreb nach Belgrad. Schon in der Nähe von Ivanić-Grad, dreißig Kilometer außerhalb von Zagreb, begann das Ruckeln auf den Betonplatten, aus denen die Autobahn gebaut war. Zehn Jahre zuvor hatte man begonnen, in Etappen die notwendige Asphaltierung dieser verkehrsreichen Trasse nachzuholen, aber bis in die Achtziger, als mein Onkel sich zu seinen Liebesabenteuern aufmachte, begleitete das Ruckeln auf den Betonplatten mit einem Geräusch wie das eines Waggons auf Gleisen die Fahrer auf dem größeren Teil des Weges.
Er fuhr vier Stunden ohne Pause und erreichte Batrovci. Ein kleiner Rastplatz auf der rechten Seite, eine Tankstelle und ein Restaurant mit Parkplatz. Ein idealer Platz, an dem der Bus aus Belgrad sicher halten würde, Jovana würde seinen blauen Fiat sehen und aussteigen. Immer das gleiche Szenario.
Er sah aus dem Fenster des Restaurants, wie sich die Türen des schlammbespritzten Busses öffnen, aus ihm steigt erst eine Wolke Zigarettenrauch, danach der Fahrer, der rief „Fünfzehn Minuten Pause!“, und hinter ihm die Reisenden, vorsichtig über die Regenpfützen steigend. Nur ein Schritt stach aus der Menge ungeschickter Beine hervor, wie wenn man in einen Schwarz-Weiß-Film ein feuerrotes Kleid und lange Beine in glitzernden Nylonstrümpfen hineingeschnitten hätte, die sich eifrig durch die Masse drängen. Er bezahlte die Rechnung und ging zu seinem Auto, wo er sie mit einem langen Kuss und einer festen Umarmung begrüßte. Der letzte Monat musste nachgeholt werden und diese Raststätte, mit einigen geparkten Sattelschleppern, Opeln von Gastarbeitern mit Anhängern und neugierigen Blicken der Reisenden, war nicht der allergünstigste Ort dafür. Nur ein paar Kilometer weiter, am Fluss Bosut, befand sich ein anderes, ruhigeres Restaurant mit Gästezimmern. Deshalb liebte er diese Autobahn. Sie verband verschiedenste geographische Welten und Zonen, von den kalten slowenischen bis zu den trockenen und heißen im Süden Makedoniens, über versteckte Oasen, wie die Ebene mit Pappeln am Bosut.
Sobald sie losgefahren waren, zog Jovana ihre Schuhe aus, setzte sich seitlich und legte ihre Beine in seinen Schoß. Allein deswegen zahlte sich das stundenlange Ruckeln auf der Autobahn aus. Sie sagten kein Wort. Sie sah ihn fest im Profil an und er starrte auf die Straße, während er ihre durchfrorenen Füße massierte. Dort angekommen, bestellten sie Wild, erzählten sich von Glücksfällen und Missgeschicken, verschwiegen die Probleme, die sie zuhause gelassen hatten, schauten sich verliebt an und tranken ihren Wein.
Mutter nutzte eine Werbepause in der Seifenoper, wischte den Tisch ab, servierte eine neue Runde Kuchen und Kaffee und gesellte sich zu uns, während Leo mit lauter werdender Stimme seine Geschichte fortführte.
„All das, was heute Maschinennamen wie A 3, E 70, A 2 oder E 75 trägt, liegt auf der Trasse unseres Autoputs. Sie haben neue Fahrbahnen hinzugefügt, Millionen Tonnen Asphalt verbaut, Überführungen, Mautstationen, grelle Lichter und bunte Schilder, aber alles auf dem Fundament, das wir mit unserer bloßen Kraft und jugendlichem Willen gebaut haben. Gut, wahrscheinlich ist etwas Wahres an den Geschichten, dass außer uns an den Trassen zahlreiche politische Gefangene und Systemgegner ‚freiwillig‘ arbeiteten, aber wir haben sie nie gesehen. Aber wegen dieser zwei Monate, die ich bei der Brigade verbracht habe, und dem Abzeichen für hervorragende Arbeit, das ich erhalten habe, habe ich all diese Kilometer Autobahn wie meine eigenen empfunden. Genau wie all die anderen 250.000 Brigadiere, die gespürt haben, dass sie dazugehören. Dieses vergangene System war reich an Zugehörigkeiten – mit sieben Jahren bist du Pionier geworden, später im Jugendverband, dann Student, dann in der Selbstverwaltung. Mit jedem neuen Schritt im Leben gehörtest du irgendwo hin und irgendetwas an. Das fühlen die heutigen Fahrer nicht, die auf der supermodernen Straße rasen, auch nicht die von früher, die langsam über den Untergrund aus Beton durch die Ebene der umliegenden Felder krochen, während Kühe und Schafe gelegentlich die Straße blockierten.“
Diese Straße hieß wegen ihrer Wichtigkeit für den Staat, aber auch visionär, in Erwägung langfristiger Pläne, „Autobahn“, auch wenn sie das von ihrer Art zunächst nicht war, da sie nur zwei Spuren hatte, Kreuzungen auf der gleichen Ebene waren und sie weder einen Standstreifen noch schützende Leitplanken zwischen den Fahrtrichtungen hatten.
Der Autoput war am Anfang für täglich 9.000 Fahrzeuge geplant. Gelegentlich wurde diese Zahl, insbesondere im Sommer und zu Feiertagen, erheblich überschritten. Gäste aus der damaligen Tschechoslowakei, Ungarn und Polen belegten im Sommer einzelne Teilstrecken Richtung Adria, die Gastarbeiter besetzten am Wochenende die ganze Trasse, um sie in Zagreb nach Kroatien zu verlassen, bei Slavonski Brod und Brčko Richtung Bosnien abzubiegen oder um bis Gevgelija Richtung Griechenland und Türkei zu fahren. Als sich der Bedarf und der Verkehr vermehrten, wurde die zweispurige Autobahn zu eng für die immer größere Zahl von Lastwagen, Bussen und Autos. Bis zu den achtziger Jahren wurde sie auf voller Länge vierspurig mit Standstreifen ausgebaut, mit einer neuen Auslastung von 40.000 Fahrzeugen täglich. Natürlich wurde zuerst aus den Zentren Richtung Peripherie gebaut: Durch Belgrad zum Flughafen, von Zagreb nach Ivanja Reka, Belgrad – Batočina, Skopje – Veles, Ljubljana – Kranj …
Leo erzählte mit nostalgischer Stimme, wie vorher die Szenen mit den Kolonnen tschechischer Škodas oder polnischer Fiats 126 (ihr Spitzname war „Bügeleisen“) lustig aussahen. Wenn man ihnen entgegenfuhr, konnte man sie nicht zählen, und ständig schien es, dass man an denselben vorbeifährt. Er erzählte, wie sich „unsere“ Fahrer und Reisenden damals auf den Rastplätzen überlegen fühlten, als aus winzigen Fahrzeugen Großfamilien von Ostblock-Touristen ausstiegen, das Gepäck durchsuchten und Töpfe und Geschirr mit dem Mittagessen herausholten, während sie aus ihrem Mercedes, Opel oder Volkswagen, ja sogar auch Zastava ausstiegen und zum Mittagessen ins Restaurant gingen. Da zeigte sich auch deutlich und im Alltag der Unterschied zwischen einem sozialistischen und einem kommunistischen System. Zusätzlicher Stolz auf die Straße wurde über die Jahre dadurch erreicht, dass die Beschäftigten (und man muss nicht daran erinnern, dass damals praktisch alle beschäftigt waren) freiwillig einen Teil des Gehalts in die so genannten Selbsteinzahlungen und Obligationen für den Autoput im Bau einzahlten. Ein nicht geringer Teil gab bis zu einem ganzen Monatsgehalt. Leo erinnerte sich, dass er zweimal seinen halben Lohn eingezahlt hat, wofür er Obligationspapiere erhielt, die wie alte Diplome aussahen. Er bewahrte sie über Jahre in der Erwartung auf, dass der Staat das „geliehene“ Geld mit der versprochenen Rendite zurückzahlt; doch während dieses Wartens wandelte sich der Stolz in Zorn, weil er sich, wie andere auch, betrogen fühlte.
Auf der Autobahn, insbesondere zwischen Zagreb und Belgrad, sah man, dass die Idee von Brüderlichkeit und Einheit auch im ökonomischen Sinn funktionierte. Vier von sechs Republiken waren durch den Autoput als dem wichtigsten Infrastrukturprojekt des sozialistischen Jugoslawiens verbunden, während Montenegro und Bosnien und Herzegowina abgeschnitten und somit etwas isolierter blieben. Aber es war Teil des internationalen Korridors aus Westeuropa Richtung Griechenland. Lastwagen mit Waren fuhren in beide Richtungen, Produkte wurden ausgetauscht und kamen auf die Regale der Läden in allen Republiken, bis sie der Krieg vollkommen zertrennte und für einige Jahre isolierte.
Mutter hat sich wieder vor den Fernseher gesetzt, Leo blickte sich um, räusperte sich und neigte sich zu mir. „Diese Straße hat großartige Momente geboten. Ich glaube, sie bietet sie denen noch immer, die das Reisen genießen können, aber heutzutage gibt es davon wenige; alle eilen irgendwohin, alle fahren nur, um zum Ziel zu kommen, und nicht wegen des Reisens. Wir hatten diese Momente. Bei einer Gelegenheit haben wir uns… das war so: Ich warte an einem Rastplatz an der Autobahn, so, dass man das Auto von der Straße aus sehen kann, Jovana steigt da aus dem Bus aus, wir verbringen zwei Tage zusammen, ich bringe zuerst sie nach Belgrad zurück und fahre dann nach Hause. Also, bei einer Gelegenheit trafen wir uns bei Okučani. Ein Motel neben einer Tankstelle, Bungalows, die im Halbdunkeln liegen, ein Traum. Das war im Sommer 1987. Man roch das getrocknete Gras und das reife Getreide von den umliegenden Feldern, es war schwül, tschechische Touristen ruhen sich im Gebüsch aus, verschwitzte LKW-Fahrer kühlen sich mit Bier und schütten Wasser in die kochenden Kühler ihrer LKWs, während sich ein Pole mit einem platten Reifen an seinem witzigen runden Wohnwagen herumschlagen muss. Aus dem Bus, der völlig verstaubt war, stieg Jovana scheinbar frisch aus, während ihre verschwitzte Haut in der Sonne glänzte.
Am nächsten Tag kam im Restaurant ein Mann auf uns zu. Er sagte, er heiße Mile Komasović, wolle nach Lipik und suche eine Mitfahrgelegenheit. Auch wenn wir eigentlich alleine sein wollten, so war die fünfzehnminütige Fahrt für uns auch eine Gelegenheit, einmal Gesellschaft zu haben, als ob wir wirklich existieren würden, zumindest vor diesem unbekannten Menschen in einer Weste aus Schafsfell. Mile war an der Autobahn aufgewachsen, er kannte jedes Getreidefeld, jeden Bach und jeden Bauernhof. In Lipik bot er uns an, uns die Pferdekoppel zu zeigen, um die er sich kümmerte. Lipizzaner! Der Stolz der jugoslawischen, und jetzt kroatischen Pferdezucht, ein Erbe aus der Zeit der Habsburgermonarchie. Die jungen Fohlen sind schwarz oder grau, und werden später, weil sie ihre Pigmente verlieren, ganz weiß. Aus jedem Wort Miles über diese wunderbaren Tiere hörte man Liebe, wobei er immer beteuerte, dass er sowohl ihr Herr als auch ihr Freund ist. Er setzte Jovana auf einen großen Wallach und führte sie am Rand des Schattens unseres Baumes entlang. Ich bin sicher, dass das die schönste Szene ist, die Lipik jemals gesehen hat. Als der Krieg begann, hörte ich, dass Mile Komasović die Pferde gestohlen hat und mit ihnen nach Serbien abgehauen ist; erst sechzehn Jahre später kehrte er mit ihnen zurück nach Kroatien. Ich weiß, dass er die Pferde nicht gestohlen hat, sondern sie nur geschützt und gerettet hat vor den Bomben und Kugeln, welche über ihre Weiden schossen, vielleicht von genau der Autobahn aus, neben der er aufgewachsen war.“ – Onkel Leo beendete diesen Monolog ohne Atempause mit einem tiefen Schluck Wein, zündete eine neue Zigarette an und starrte an die Decke. Als kehre er dorthin zurück, wo die Fahrt nach Alpenkiefern, nach der Save und slawonischem Getreide riecht, während ich die Konturen seiner Geschichte vom Autoput und seinem einsamen Leben erahnte.
„Zehn Jahre!“, er betonte jede Silbe, „Einmal im Monat haben wir uns auf dieser geraden Linie, die Zagreb und Belgrad verbindet, getroffen. Weißt du ... wir hatten nur diese Autobahn. Das war unsere Einheit. Und dann hat Jovana geheiratet, wir haben uns nur noch einmal getroffen, zufällig, und danach ist alles verschwunden. Die Autobahn hat für mich ihre Wichtigkeit und ihre Schönheit verloren. Ich bin jetzt schon seit fünfundzwanzig Jahren keinen einzigen Kilometer mehr auf ihr gefahren, und ich werde es auch nicht mehr tun.
Dann kam der Krieg. Anstelle von Bussen, eilenden Autos, Traktoren, Wohnwagen und Trampern ertönten Panzer und die Stiefel der Soldaten. Jede Brüderlichkeit und jede Einheit wurde ausradiert, aus unseren Köpfen ebenso wie aus dem Namen der Autobahnen E 70 und E 75.“
Aus dem Kroatischen übersetzt von Thomas Bremer.
Die Planung einer Schnellstraße quer durch Jugoslawien setzte schon unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg ein, doch wurde sie erst in den sechziger Jahren vollendet. Der Autoput, der auf 1.100 Kilometern Länge durch vier Teilrepubliken führte, wurde in den achtziger Jahren wegen des stetig zunehmenden Verkehrs vierspurig ausgebaut. Mit dem Zerfall Jugoslawiens verschwand der Name, die Erinnerung an die Fernstraße, die einst Menschen aus allen Teilen des Staates verband, ist jedoch bis heute lebendig.
Fußnoten:
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Im Editorial dieses Heftes ist der Verlauf skizziert. ↩︎
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Jugoslawische (heute serbische) Firma, u. a. in der Autoproduktion tätig. ↩︎